Eigentlich ist es immer das
Gleiche, nur der Ort ändert sich. Diesmal ist es also Marburg und das
„Anti-Quariat“. Bereits beim Betreten der mit staubiger Luft gefüllten
Geschäftsräume sinkt mein Mut und ich weiß, dass mich heute wieder eine
Demütigung erwartet. Eine Demütigung, die sich aus verschiedenen Quellen
speist: Die unheimliche Stille, die fehlende Distanz zum Publikum, die
Trostlosigkeit der Kulisse, die existenzielle Verlorenheit der Gastgeberin.
Die Kulisse: Altersdunkle
Holzregale mit endlosen Reihen von Buchrücken, gefühlte zehntausend Bücher, die
weder einer alphabetischen noch einer thematischen Ordnung folgend
nebeneinander stehen, ein Resopaltisch mit dünnen Beinen, auf dem ein Stapel
mit Exemplaren meines neuesten Romans „Liquid Memories“ liegt, und ein paar
trostlose Topfpflanzen. Dazu knapp zwanzig Stühle verschiedenster Herkunft, die
offenbar eigens für diesen Anlass herbei geschafft wurden. Für Andy Bonetti
steht ein gepolsterter Stuhl bereit, ein zweiter Resopaltisch und ein
Drittelliter Mineralwasser in einer bereits geöffneten Flasche nebst Glas.
Das Publikum: In der ersten
Reihe sitzen nur die Gastgeberin Gisela Schmirgelberger-Jungmanova und ihre
Zwillingsschwester Rosalinde. Dahinter drei junge Frauen mit kurzen, himbeerrot
gefärbten Haaren und versteinerten Mienen, offenbar Studentinnen der Geisteswissenschaften.
Dazu ein halbes Dutzend der unvermeidlichen Deutschlehrer, die mit
chirurgischer Präzision jeden Satz in seine Einzelteile zerlegen und jede
Bedeutung in ihr Gegenteil verkehren können. Schlimmstenfalls schreiben sie
gerade selbst an einem Roman oder einem Lyrik-Bändchen. Ganz hinten einige
Studenten und Zufallsbesucher, die angestrengt das Display ihres Smartphones
bearbeiten. Insgesamt etwa Dutzend Leute.
Der Vortrag: Nach einigen dürren
Worten der Einführung von Frau Schmirgelberger-Jungmanova beginne ich mit einem
humoristischen Text über meine Verhaftung wegen öffentlicher Trunkenheit in
Texas 1993, meiner Nacht im Gefängnis und der anschließenden Gerichtsverhandlung.
Eisiges Schweigen. Es folgen einige Gedichte im schwungvollen Reimschema meiner
rheinhessischen Heimat. In der letzten Reihe steht ein Mann auf und verlässt
das Antiquariat. Jetzt komme ich zum ersten Höhepunkt meiner Lesung: Eine
Satire auf die feministischen Bemühungen, die deutsche Sprache zu verändern.
Die drei Studentinnen stehen gleichzeitig auf und verlassen geschlossen den
Raum. Als ich meinen berühmten Text über Hamstergolf zu Gehör bringe, schüttelt
ein bärtiger junger Mann mit Hornbrille aus der dritten Reihe den Kopf und geht
ebenfalls – vielleicht ein Tierschützer oder Veganer. Ich mache mit einem
unveröffentlichten Kapitel aus „Liquid Heaven“ weiter. Als ich einen Schluck
Wasser trinke, nutzt eine Studienrätin, die ich auf Anfang Sechzig schätze, die
kurze Pause, um mich zu fragen, ob die Protagonistin Rosine Fischel eine Jüdin
wäre und ob die Szene in einem Kellerversteck auf das Leben von Anne Frank
anspielen würde. Wut und Verachtung blitzen aus ihren Augen. Jetzt würde ich selbst
gerne gehen – aber die Demütigung endet erst, nachdem man mit der
Veranstalterin, ihrer verbissen schweigenden Schwester und zwei interessierten
Zuhörern, die allerdings kein Buch von mir kaufen, noch ein Glas Wein in einem
„Bistro“ getrunken hat.
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