„Jetzt hab' ich den Vorteil“, lachte er dabei vor
sich hin, „dass ich gar nicht weiß, wohin ich komme.“
Es war
schon Sonntagmittag, als Katzlinger nach langer und schwer durchzechter Nacht
endlich aufwachte. Nur so ist seine absonderliche Idee zu erklären, sich ins
Auto zu setzen, die Stadt zu verlassen und einfach der Nase nachzufahren, um
einmal zu sehen, wohin es ihn führen würde.
Bald
war er auf einer Allee, hinter deren Bäumen sich ausgedehnte Felder
erstreckten. Er hörte „Kind of Blue“ von Miles Davis, eine seiner
Lieblingsplatten. An jeder Weggabelung hielt er kurz an und warf eine Münze.
Kopf bedeutete links, Zahl rechts. Das erschien ihm sinnvoll. Verstand und
Materialismus waren verschiedene Himmelsrichtungen, auf der Landstraße wie in
der Politik.
Katzlinger
kam in eine Gegend, in der es kaum noch Verkehr gab. Er hatte so oft die
Richtung gewechselt, er wusste längst nicht mehr, wo er war. Aber das machte
ihm keine Sorgen, ganz im Gegenteil: Er wurde immer verwegener. Wenn er auf
einer Landstraße fuhr, von der ein asphaltierter Weg abzweigte, warf er die
Münze. Bald war er in einen tiefen Wald geraten und ganz allein unterwegs.
Er sah
auf seine Tankanzeige. Es half nichts, er würde bald Sprit brauchen. Obwohl er
sich wie ein Spielverderber vorkam, schaltete er sein Navi ein, um zu sehen, wo
die nächste Tankstelle war. Aber auf der Karte war keine Ortschaft zu sehen. Er
veränderte den Maßstab und stellte verblüfft fest, dass es im Umkreis von
fünfzig Kilometern keine menschliche Behausung gab. Er konnte es nicht glauben.
Er war doch mitten in Deutschland.
Katzlinger
fuhr weiter und kam nach einer Weile in ein Dorf. Hier war offenbar die Zeit
stehengeblieben. Kleine Fachwerkhäuser mit Strohdächern, aus den Schornsteinen
kringelte sich der Rauch. Keine Supermärkte oder Geschäfte, keine Fahrräder
oder Autos am Wegesrand. Er kam an einer offenen Scheune vorbei, wo ein Schmied
das rotglühende Eisen schlug. Er ließ den Wagen stehen und ging zu Fuß weiter. Es
war so still, dass man glauben konnte, der Ort sei unbewohnt, wenn er in der
Ferne nicht den Schmied gehört hätte.
Schließlich
kam er an eine Kirche. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Hochzeitspaar
trat heraus, gefolgt von einer ganzen Hochzeitsgesellschaft. Alle Menschen
waren altertümlich gekleidet, die Frauen trugen weite Röcke und die Männer
Hüte. Neugierig folgte er ihnen und war bald mitten in einem Fest. Es gab
Kuchen und Wein und die Gäste tanzten zur Musik eines Fiedlers. Er sah ein
schönes Mädchen, ihr Blicke trafen sich und er forderte sie zum Tanz auf. Sie
lächelte ihm voll schlichter Anmut zu und Katzlinger verliebte sich in sie. Sie
verbrachten den ganzen Abend zusammen, aber als es Nacht wurde, bat sie ihn,
entweder für immer zu bleiben oder für immer zu gehen.
Er
verstand die Welt nicht mehr. Sein ganzes Leben aufgeben? Von was sollte er
hier leben? Außer dem Mädchen kannte er hier niemanden. Also schüttelte er den
Kopf und das Mädchen wurde sehr traurig. Sie brachte ihn zu seinem Auto und er
fuhr zurück. Er kam bis zur Landstraße, dann war der Tank leer. Er beschloss,
die Nacht im Auto zu verbringen und später ins Dorf zurückzufahren.
Am
nächsten Morgen rief er einen Abschleppdienst an. Der Fahrer stieg aus und
hängte sein Auto an den Haken, um ihn zur nächsten Tankstelle zu bringen. Katzlinger
saß neben dem Fahrer im Führerhaus und erzählte ihm seine Geschichte. Der
Fahrer lachte und klärte ihn auf. Er hatte sich nach Wichtelhausen verirrt,
einen verwunschenen Ort, der nur alle hundert Jahre in der realen Welt
auftauchte und um Mitternacht wieder verschwand. Er würde ihn nicht
wiederfinden und das Mädchen niemals wiedersehen.
Die Geschichte beruht auf der Erzählung
„Germelshausen“ von Friedrich Gerstäcker. Bereits im ersten Satz kommt
tatsächlich Wichtelhausen vor, nicht zu verwechseln mit Wichtelbach.
Just WOW.
AntwortenLöschenAlle Ihre stories sind gut, diese ist hier ist hingegen Weltklasse. Tiefe Verbeugung.
Herzlichen Dank!
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