Sonntag, 6. Juli 2025

Wichtelhausen

 

„Jetzt hab' ich den Vorteil“, lachte er dabei vor sich hin, „dass ich gar nicht weiß, wohin ich komme.“

Es war schon Sonntagmittag, als Katzlinger nach langer und schwer durchzechter Nacht endlich aufwachte. Nur so ist seine absonderliche Idee zu erklären, sich ins Auto zu setzen, die Stadt zu verlassen und einfach der Nase nachzufahren, um einmal zu sehen, wohin es ihn führen würde.

Bald war er auf einer Allee, hinter deren Bäumen sich ausgedehnte Felder erstreckten. Er hörte „Kind of Blue“ von Miles Davis, eine seiner Lieblingsplatten. An jeder Weggabelung hielt er kurz an und warf eine Münze. Kopf bedeutete links, Zahl rechts. Das erschien ihm sinnvoll. Verstand und Materialismus waren verschiedene Himmelsrichtungen, auf der Landstraße wie in der Politik.

Katzlinger kam in eine Gegend, in der es kaum noch Verkehr gab. Er hatte so oft die Richtung gewechselt, er wusste längst nicht mehr, wo er war. Aber das machte ihm keine Sorgen, ganz im Gegenteil: Er wurde immer verwegener. Wenn er auf einer Landstraße fuhr, von der ein asphaltierter Weg abzweigte, warf er die Münze. Bald war er in einen tiefen Wald geraten und ganz allein unterwegs.

Er sah auf seine Tankanzeige. Es half nichts, er würde bald Sprit brauchen. Obwohl er sich wie ein Spielverderber vorkam, schaltete er sein Navi ein, um zu sehen, wo die nächste Tankstelle war. Aber auf der Karte war keine Ortschaft zu sehen. Er veränderte den Maßstab und stellte verblüfft fest, dass es im Umkreis von fünfzig Kilometern keine menschliche Behausung gab. Er konnte es nicht glauben. Er war doch mitten in Deutschland.

Katzlinger fuhr weiter und kam nach einer Weile in ein Dorf. Hier war offenbar die Zeit stehengeblieben. Kleine Fachwerkhäuser mit Strohdächern, aus den Schornsteinen kringelte sich der Rauch. Keine Supermärkte oder Geschäfte, keine Fahrräder oder Autos am Wegesrand. Er kam an einer offenen Scheune vorbei, wo ein Schmied das rotglühende Eisen schlug. Er ließ den Wagen stehen und ging zu Fuß weiter. Es war so still, dass man glauben konnte, der Ort sei unbewohnt, wenn er in der Ferne nicht den Schmied gehört hätte.

Schließlich kam er an eine Kirche. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Hochzeitspaar trat heraus, gefolgt von einer ganzen Hochzeitsgesellschaft. Alle Menschen waren altertümlich gekleidet, die Frauen trugen weite Röcke und die Männer Hüte. Neugierig folgte er ihnen und war bald mitten in einem Fest. Es gab Kuchen und Wein und die Gäste tanzten zur Musik eines Fiedlers. Er sah ein schönes Mädchen, ihr Blicke trafen sich und er forderte sie zum Tanz auf. Sie lächelte ihm voll schlichter Anmut zu und Katzlinger verliebte sich in sie. Sie verbrachten den ganzen Abend zusammen, aber als es Nacht wurde, bat sie ihn, entweder für immer zu bleiben oder für immer zu gehen.

Er verstand die Welt nicht mehr. Sein ganzes Leben aufgeben? Von was sollte er hier leben? Außer dem Mädchen kannte er hier niemanden. Also schüttelte er den Kopf und das Mädchen wurde sehr traurig. Sie brachte ihn zu seinem Auto und er fuhr zurück. Er kam bis zur Landstraße, dann war der Tank leer. Er beschloss, die Nacht im Auto zu verbringen und später ins Dorf zurückzufahren.

Am nächsten Morgen rief er einen Abschleppdienst an. Der Fahrer stieg aus und hängte sein Auto an den Haken, um ihn zur nächsten Tankstelle zu bringen. Katzlinger saß neben dem Fahrer im Führerhaus und erzählte ihm seine Geschichte. Der Fahrer lachte und klärte ihn auf. Er hatte sich nach Wichtelhausen verirrt, einen verwunschenen Ort, der nur alle hundert Jahre in der realen Welt auftauchte und um Mitternacht wieder verschwand. Er würde ihn nicht wiederfinden und das Mädchen niemals wiedersehen.

Die Geschichte beruht auf der Erzählung „Germelshausen“ von Friedrich Gerstäcker. Bereits im ersten Satz kommt tatsächlich Wichtelhausen vor, nicht zu verwechseln mit Wichtelbach.

 

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