Mittwoch, 10. Juni 2020

Wie der Kapitalismus in die DDR kam


„Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.“ Das war 1990 die Drohung der DDR-Bevölkerung, die sich im Herbst 1989 entschlossen hatte, ihr Glück auf der Straße zu versuchen. Und zunächst ging alles gut. Die Ostdeutschen bekamen, was sie wollten. Da im Kapitalismus bekanntlich zuerst die Wirtschaft kommt und dann die Politik, wurde am 1. Juli die „Wirtschafts- und Währungsunion“ vollzogen und erst drei Monate später die Deutsche Einheit.
Pünktlich zum Beginn der kapitalistischen Wiedervereinigung öffnete der westdeutsche Handel seine Filialen in der DDR. West-Autos wurden in den Osten geschafft, dazu Mövenpick-Eis und Holsten-Bier. Das Warten hatte ein Ende. Vierzig Jahre ohne Coca-Cola und Marlboro-Zigaretten. Vorbei. Der Konsumrausch konnte beginnen. Wer brauchte noch den Plunder vom VEB Schlagmichtot und der LPG Hastenichgesehen? Viel zu spät merkten die Menschen, dass sie mit ihren Kaufentscheidungen auch ihre Arbeitsplätze vernichteten.
Der Staatsvertrag, den die Finanzminister Theo Waigel und Walter Romberg am 18. Mai, nur zwei Monate nach den Volkskammerwahlen und der Niederlage der SED, unterzeichneten, entkernte die DDR ökonomisch und sozial. Unternehmens-, Eigentums- und Sozialrecht wurden komplett von der BRD übernommen. Aber davon verstanden Maik und Gabi aus Schobenroda nichts. Jetzt wird gelebt! Mit harter Valuta – streng genommen war die D-Mark immer noch eine ausländische Währung - in der Tasche fahren wir in diesem Sommer nach Italien.
In den Fabriken stellte man sich neue Fragen. Was kommt nach dem Plan? Was sollen wir produzieren, wenn wir in diesen Zeiten, in denen sich alles rasend schnell verändert, auf die Nachfrage reagieren müssen? Was wollen die Leute? Bewährte Produkte zu neuen Preisen oder neue Waren und Dienstleistungen? Aber wie soll man bis zum 1. Juli neue Produkte entwickeln, neue Maschinen anschaffen, die Beschäftigten für neue Produktionsabläufe schulen?
Im Westen hatte man keine Fragen und stand nicht unter Zeitdruck. Man sah nur sechzehn Millionen neue Kunden, die endlich bezahlen konnten. Und der Kunde wollte Westwaren. Die Geschichte konnte für die DDR nicht gut ausgehen. Die vermeintlichen Retter waren Raffkes. Keine Brüder, keine Schwestern. Aber nur wenige ahnten es in diesen Tagen der allgemeinen Euphorie, die jedem Neubeginn innewohnt.
Der Glaube an den Markt war 1990 in der DDR so groß, dass man auf eine politische Steuerung des Prozesses verzichtete. Angebot und Nachfrage würden es schon richten. Die ewigen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus wurden von den neuen Entscheidungsträgern ebenso unkritisch verehrt wie zuvor der Marxismus-Leninismus und die Planwirtschaft durch die SED-Nomenklatura. Keine Subventionen, keine Strukturpolitik – lasst die unsichtbare Hand des Marktes ihr Werk verrichten. Sie blauäugig war man im Westen nie gewesen.
Hinzu kam, dass selbst die Unternehmer in der DDR nicht wussten, wie Marktwirtschaft in der Praxis funktioniert. Woher auch? Es blieb auch keine Zeit, sich in die neue Rechtslage einzuarbeiten. GmbH? KG? AG? Auf Gedeih und Verderb war man in diesen Fragen den fremden Beratern aus dem Westen ausgeliefert, da es im eigenen Land keine Expertise gab.
Das Ergebnis der Wirtschafts- und Währungsunion ist bekannt: Auf den Crash-Kurs in Sachen Kapitalismus folgte der Crash. Massenarbeitslosigkeit, Armut, zerstörte Hoffnung, enttäuschtes Vertrauen. Für viele Bürger der DDR ist die Wiedervereinigung mit der BRD bis heute ein traumatisches Erlebnis. Für sie bleibt die „Deutsche Einheit“ bis heute unerfüllt.
Avishai Cohen Big Vicious – Teardrop. https://www.youtube.com/watch?v=8CvpzZupRK8

5 Kommentare:

  1. In diesem Kontext darf nicht unerwähnt bleiben, dass sich 1989/1990 die Mehrheit in den alten Bundesländern von 16 Mio. "Migranten ohne Ortswechsel" überrumpelt fühlte, was danach zu den flächendeckenden Pogromen führte. Eine Minderheit glaubte, im Auftrag dieser Mehrheit handeln zu müssen.
    Der Pöbel stand dabei und applaudierte, die Polizei glänzte durch Arbeitsverweigerung.

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  2. Wenn jetzt noch die unheilvolle Treuhand in diesen Artikel eingewoben würde, wäre dies der treffendste Bericht zur „deutschen Einheit“, den ich je gelesen habe...

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  3. ...darauf einen EISTEE

    am

    Eistee-Tag 2020
    10. Juni 2020 in der Welt

    *schlllüüüürfmitohnePlastikSTROHHALM...nichtblödbin*

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  4. Die Treuhand war eine von Bill Gates gesteuerte Einrichtung. Sie firmierte bei Microsoft unter dem Geheimcode "Pandemie 0.8".
    Sollte es mit dem damaligen Windows 3.11 möglich sein 16 Millionen hinter das Licht zu führen, wären die Möglichkeiten bei Windows 10 grenzenlos.

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  5. Kurz nach der Wende habe ich Ingenieure eines großen DDR Konzerns geschult. Konstruktion mit CAD.

    Die Menschen waren alle gut ausgebildet haben sich in den Workshops gegenseitig geholfen. Die guten den schwachen die schlauen den mit langsamerer capice.
    Ganz ganz anders als im Westen wo es schon gequackt wurde wenn man auf Fragen etwas länger einging. Mein sozialistischer Traum wurde wahr.

    Die Teilnehmer haben dann Werkszeichnungen mitgebracht, der Laden war ja plattgemacht. Alles sauber, akkurat und normgerecht. Besser als in einer Berufsschule der BRD.

    Auch der Inhalt war sehr solide. Stand der Technik kurz vor dem Mauerbau. Da war seitdem nichts mehr passiert.

    Gegen westliche Technologie und Produktionsmethoden hatte die nicht den Hauch einer Chance. Dazu kam noch das die Schalthebel mit Figuren besetzt waren deren Qualifikation in Linientreue bestand.

    Das hat dann die alte BRD in weiten Teilen übernommen, immerhin.

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