Dienstag, 10. Januar 2017

Horizonte

„Invasionen fegten über China hinweg. Das Reich zerfiel in einander befehdende Königreiche. Die Gelehrten führten ihr einfaches und idyllisches Leben ungestört weiter, gelegentlich produzierten sie einen hervorragenden privaten Scherz, den sie auf Blätter schrieben und flussabwärts treiben ließen.“ (Evelyn Waugh: Glanz und Gloria)
Wir leben nicht nur im Informationszeitalter, sondern auch im Zeitalter der Sorgen. Vielleicht hängt beides ja auch miteinander zusammen. Weil wir so viel über die Welt erfahren, machen wir uns Sorgen.
Zunächst einmal machen wir uns jedoch Sorgen über das Naheliegende. Wir sorgen uns um uns selbst, um unsere Familie und unsere Freunde. Eltern sorgen sich um ihre Kinder wie der Kaufmann sich um seinen zukünftigen Profit sorgt. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von biologischem und ökonomischem Egoismus sprechen, wenn man es böse formulieren will.
In der Politik treffen wir auf drei Formen der Besorgtheit. Da haben wir den Politiker, der zum Repertoire seiner Rhetorik, zu seinem Berufsbild auch die Rolle des sorgenden Hausvaters bzw. der sorgenden Mutti zählt. Der „Kümmerer“, der sich Sorgen um seine Schäfchen macht (wie weiland die Pfaffen auf ihren Kanzeln), gehört zum Schauspiel einer Sonntagsrede unbedingt dazu, den salbungsvollen und besorgten Tonfall bekommen wir bei der Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten und der Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin in Reinkultur serviert.
Die beiden anderen Phänotypen treffen wir im Bürgertum. Da ist der „besorgte Bürger“, der sich um den Bestand seiner Kultur Sorgen macht. Er macht sich in erster Linie um sein eigenes Leben Sorgen, um den Bestand seiner alltäglichen Routinen, um seinen Besitz, um seine Sicherheit. Er macht sich keine Sorgen um Menschen, die er nicht kennt. Der Sprengstoffanschlag in Bagdad? Die Meldung klickt er nicht an. Frauen werden von dunkelhäutigen Menschen in Köln belästigt? Darüber kann er sich wochenlang Sorgen machen, ohne müde zu werden.
Bevor wir jetzt den Stab über diesen Typus brechen, sollten wir bedenken, dass sich die Menschen in Bagdad genauso wenig Gedanken über die Menschen in Köln machen wie umgekehrt. Egoismus ist menschlich, nicht nur deutsch. Altruismus ist die Ausnahme, egal wohin wir schauen. Ich sehe auch nicht, dass sich dieses Verhalten jemals ändern wird. Wenn wir uns unsere Sorgen als Landschaft vorstellen, erscheinen uns die naheliegenden Sorgen (um unsere eigene Gesundheit, den Arbeitsplatz, den Parkplatz in der Innenstadt usw.) größer als die Sorgen, die sozial, geographisch, kulturell und ökonomisch weiter entfernt sind.
Der letzte der drei Phänotypen ist der ökologisch sensibilisierte, global denkende Angehörige des Bildungsbürgertums. Früher nannte man sie „Linke“ oder etwas abfällig „Gutmenschen“. Sie machen sich grundsätzliche Sorgen um den Fortbestand des Lebens auf diesem Planeten. Sie machen sich Sorgen um den Klimawandel, um aussterbende Tierarten, um unseren Umgang mit dem Schlachtvieh, um Kriege in fernen Ländern, um den Hunger in Afrika. Unausgesprochen machen auch sie sich Sorgen um sich selbst. Um ihre Rolle in diesem Sündenpfuhl namens Kapitalismus. Um ihre moralischen Werte, deren Verfall sie täglich beobachten müssen. Um ihr schlechtes Gewissen, weil sie ihre Kinder über die Widerlichkeit des Menschengeschlechts – vom Holocaust bis zur Umweltzerstörung, vom wechselseitigen Abschlachten der Menschen bis zur perfiden Grausamkeit gegen jede Art von Kreatur – so lange im Ungewissen lassen wie es nur irgend geht.
Sich Sorgen machen und sich um andere sorgen – das sind zwei verschiedene Dinge. Wir geben unseren Sorgen gerne Ausdruck, wir sprechen gerne über Sorgen. Sich sorgen im Wortsinne, im Sinne von tätiger Hilfe und Wunsch nach konkreter Veränderung, um Arbeit am Systemwechsel, sehen wir auf dieser Welt herzlich wenig. Die meisten gehen höchstens mal auf eine Demo, dokumentieren mit ihrer physischen Anwesenheit zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ihre Meinung, oder sie unterzeichnen Online-Petitionen, spenden Geldbeträge, die ihnen nicht weh tun und ihren Lebensstil nicht ändern, zeigen sich in Diskussionen auf redliche und fleißige Weise besorgt.
Diese Sorgen können uns zerfressen, wenn wir uns zu lange mit ihnen beschäftigen. Ich habe keine Lösung für dieses Problem, nur einen persönlichen Ausweg. Er wird Sie enttäuschen, ich nenne ihn trotzdem. Weil er mir hilft. Ich verkürze meinen Horizont, ich blende das Weltganze aus und konzentriere mich auf das Unmittelbare. Das ist meine Form von Egoismus. Schon klar. Aber mein Horizont beruhigt mich, der Blick auf den Ozean voller Sorgen zieht mich nur runter. Terror, Trump, schließlich der eigene Tod. Ich habe einen Horizont, der dem kleinen Tal entspricht, auf das ich von meinem Schreibtisch aus blicke.
Ich bin jetzt fünfzig Jahre alt. Wie viele Jahre bleiben mir noch? Nehme ich die Sterbetafeln der Statistiker (ein fabelhafter Begriff), meinen Lebenswandel und meine Lebenszufriedenheit als Faktoren, die ich meiner Rechnung zu Grunde lege, bleiben mir vielleicht noch zwanzig oder dreißig Jahre. So lange wird diese Welt, die wir kennen, noch Bestand haben. Wenn nicht, habe ich die Mehrzahl der Jahre als gute Jahre auf der Habenseite. Aber schon in meiner Pubertät dachte ich, der Laden macht es nicht mehr lange. Stichworte: Waldsterben, Atomkrieg. Die älteren Leser werden sich erinnern.
Außerdem habe ich keine Kinder. Ich muss mir also um kommende Generationen keine Sorgen machen. Auch das ist egoistisch, aber damit befinde ich mich in guter Gesellschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen der Gattung Homo. Ich glaube auch nicht an ein Leben nach dem Tod. Wenn es vorbei ist, ist es nach meiner Vorstellung definitiv vorbei. Wenn ich mich bis dahin durchgeschlagen habe, ohne erwischt worden zu sein, wird es keine himmlische oder höllische Strafe für meinen Eskapismus und meinen Hedonismus geben. Ich werde, so ist meine Hoffnung, friedlich und satt mit dem Geschmack von Rotwein und Schokolade im Mund einschlafen.
Für Sie mag diese Lösung unbefriedigend sein, für mich nicht. Ich habe auch nicht für uns alle gesprochen, sondern nur für mich. Selbstverständlich verfüge ich prinzipiell über das messianische Genie, die ganze Menschheit in ein neues Zeitalter zu führen. Aber ich ziehe es vor, mein einfaches und idyllisches Leben ungestört weiter zu leben und gelegentlich einen hervorragenden privaten Scherz zu produzieren, den ich in mein Blog schreibe und flussabwärts treiben lasse.
Ennio Morricone – My Name Is Nobody (Main Theme). https://www.youtube.com/watch?v=iGZDKuDl3jc

4 Kommentare:

  1. Zuallererst mal: 70% dieses Eintrags mit dem koksenden Kingdom Hearts-Spieler vor Augen gelesen, warum liest man ausdrücklich "-schreiber" im Feed und ordnet dann den "-neurotiker" zu?
    Oh Gott. Mitten im fünften Absatz schnell "Bagdad Anschlag" gegoogelt, ertappt gefühlt, dann hier weitergelesen. Puh. Aus einem bildungsbürgerlichen PDF, das ich zuvor in einem anderen Tab aufhatte: "der Städter hat nur die Wahl zwischen nervlicher Überforderung, die damals Neurasthenie genannt wurde, und einem blasierten Unbeteiligtsein. 'Eile nie und haste nie, dann haste nie Neurasthenie'."

    Und ich sage: Nope. Wir werden kämpfen. Nicht nur demomäßig irgendwo sich hinstellen, Clicktivism betreiben und alles nervig durchgendern (auch, wenn das alles dazugehört). Wir werden euch zu Tode nerven, auf Twitter, Facebook, im Kommentarfeld von pi-news, wir werden euch mittels des Korpus eures vergangenen Bullshits schneller entstellt haben, als ihr "Fake News" sagen könnt, untermalt mit einer Barrage animierter Gifs –
    wir schaffen's auf die Enterprise, und dann schlafen wir dank Food Replicator auch mit Rotwein- und Schokoladengeschmack im Mund ein, hoffentlich.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vergesst dabei nicht jeden Tag zu leben.
      Sinn des Lebens gefällig?
      Der Weg ist das Ziel. ;-)

      Löschen
  2. "Lebenswandel und meine Lebenszufriedenheit als Faktoren, die ich meiner Rechnung zu Grunde lege, bleiben mir vielleicht noch zwanzig oder dreißig Jahre"

    Hoffentlich kommt Dir kein veritabler Schlaganfall dazwischen.

    https://www.heise.de/tp/features/Willkuer-der-deutschen-Betreuungsmaschinerie-3417585.html

    AntwortenLöschen
  3. Tröstende Worte !
    Werde mir jetzt gleich in der Kantine, wie immer am Dienstag, eine Currywurst genehmigen.
    Unser Kantinenwirt macht die wirklich gut.
    Vielleicht sind das wirklich die wichtigen Dinge im Leben.

    AntwortenLöschen