Mittwoch, 28. Oktober 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 8


Es war Samstagnacht, in Brandenburg rasten junge Männer mit ihren Autos um die Wette oder kämpften bereits auf Intensivstationen um ihr Leben, während Mardo im Revolution No. 9 einen Singapore Sling durch den Strohhalm saugte. Das Gesicht des kleinen hageren Privatdetektivs aus dem Brunnenviertel lag vollständig im Schatten des Kommissars, der ihn um einen ganzen Kopf überragte. Das Heroin lag inzwischen in der Asservatenkammer der Kripo Berlin, aber über die ganze Geschichte mussten sie noch einmal ganz in Ruhe sprechen.

Am Freitagnachmittag war Udo Zippe in sein Büro gekommen, als Mardo eigentlich die bisher verdienstfreie Arbeitswoche und die Ladentür abschließen wollte. Er hatte in den letzten Wochen erfolglos versucht, sich mit einem Fußmatten-Express-Lieferdienst ein zweites Standbein zu schaffen. Sein neuer Kunde hatte eine ausgesprochene Kleinganoven- oder Hobbymusikervisage: fettiges dunkles Haar und ausgedehnte Geheimratsecken, Koteletten bis zum Arsch und eine schwarze Sonnenbrille. Ein wenig ähnelte er den Feldwebel- und Metzgergesichtern auf den Wahlplakaten der Rechtsradikalen. Sein T-Shirt hatte mehr Löcher als ein Golfplatz und gab am unteren Ende den Blick auf behaartes bleiches Fleisch frei. Der Unfreiwillig-Bauchfrei-Look von dicken Männern in zu engen T-Shirts. Germany’s Next Heizungsmonteur, dachte Mardo.
"Es geht um einen Diebstahl", fing Zippe an. "Genauer gesagt geht es um ein Päckchen, das nicht geliefert wurde.
"Haben Sie es schon bei der Post versucht. Soweit ich weiß, ist DHL für die Pakete zuständig."
"Nein, nein. Das war eine private Lieferfirma. IPS. Das Päckchen ist sehr wichtig. Die ganze Sache hängt wie ein Domestos-Schwert über mir." Zippe wirkte verlegen, so als ob er nicht mit der ganzen Geschichte herausrücken wollte.
"Was ist denn in dem Paket gewesen?" fragte Mardo.
"Dresdner Stollen."
"Und was noch?"
"Sonst nichts." Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nur mit einem Mundwinkel, sodass sein Mund seltsam s-förmig verzogen wurde.
"Sie möchten, dass ich Ihnen einen Stollen zurückbringe?"
"Ja. Es ist ein sehr wichtiger Stollen. Meine Mutter hat ihn für mich gebacken." Zippe überlegte einen Augenblick. "Und sie hat mir fünfhundert Euro in bar mitgeschickt." Er schien wirklich erleichtert über dieses Detail, das ihm nachträglich eingefallen war.
"Das war aber sehr leichtsinnig von Ihrer Mutter. Wäre eine Überweisung nicht sicherer gewesen?"
"Ach, wissen Sie, Herr Mardo, meine Mutter traut den Banken nicht mehr. Und das Porto für einen Wertbrief wollte sie sich sparen." Er sprach nun munter drauflos. "Ich zahle Ihnen hundert Euro, wenn sie mir das Päckchen beschaffen." Dann legte er zwei zerknitterte Fünfzig-Euro-Scheine auf Mardos Schreibtisch.
"Kein Problem. Wohin hätte das Paket denn geliefert werden sollen?"
"Ackerstraße 50. Hier im Kiez. Ich brauche das Geld wirklich dringend. Wenn ich das Päckchen habe, steige ich wie Felix aus der Asche." Zippe kratzte sich nervös den Wanst.
Mardo war portugiesisch-tschechischer Herkunft und manche Begriffe der deutschen Sprache hatten ihm seine Eltern nicht erklären können. Was ist "gähnende Leere"? Wie kann jemandem etwas "ans Herz wachsen"? Und wo holt Bartel den Most eigentlich? Musste man diesen Bartel kennen? Und warum hatte andererseits die Senke zwischen Oberlippe und Nase keinen eigenen Namen? Manchmal verstand er seine Mitbürger nicht richtig. Felix aus der Asche? Zippe verfügte über ein blumiges Vokabular, aber andererseits lag Geld auf dem Tisch und ein vermisstes Paket sollte ihn vor keine allzu großen Schwierigkeiten stellen.


Einen Tag zuvor, am Donnerstagvormittag, war der IPS-Fahrer Rainer Zufall-Echtmann im Brunnenviertel unterwegs gewesen. Es war Anfang November, die Blätter an den Bäumen leuchteten noch einmal gelb und rot im Sonnenlicht auf, bevor der Wind sie von den Ästen wehte. Er hatte alle Rechnungen bezahlt und für diesen Monat noch genau 73 Euro zum Leben. Seine Freundin Chantal Mägdefessel (19, ohne Lehrstelle) hatte sich mit einem Jamba-Sparabo finanziell ruiniert, aber es musste ja irgendwie weitergehen. Und jetzt hatte er ein halbes Dutzend Pakete mit Christstollen in seinem Lieferwagen. Sicher Werbegeschenke. Ob es wohl auffiele, wenn ein Stollen nicht ankäme? Andererseits könnte es ihn seinen Job kosten. Engelchen und Teufelchen spielten eine Weile Pingpong in seinem Kopf, bis schließlich der nagende Hunger in seinen Eingeweiden jede Diskussion beendete. Was ist mit den ganzen unbezahlten Überstunden? Die haben die Bosse eingeplant. Meine Tour ist unmöglich in der vorgeschriebenen Zeit zu schaffen, dachte er, das ist Betrug. Jeder bescheisst in dieser Firma die anderen, alle sind nur auf ihren eigenen Vorteil aus. Was soll's denn? Dann bin ich eben wie alle anderen. Er manövrierte den Wagen in eine Parklücke in der Hussitenstraße und kletterte nach hinten. Zwei Pakete mit Stollen waren noch übrig. Er nahm das obere und riss es auf. Gierig schlug er seine Fänge ins Gebäck und stutzte. War das etwa Plastik? Tatsächlich lugte ein Stückchen Folie aus der sächsischen Morgengabe. Er puhlte mit dem Finger herum, der Hunger war vergessen, und wenig später hielt er vier Päckchen mit einem weißen Pulver in den Händen. Sicherlich Kokain oder Heroin, wie er vermutete. Das Zeug musste eine Menge Geld wert sein.


Die Kürbissuppe schmeckte köstlich. Mary hatte den Kürbis eigenhändig im Mauerpark gepflanzt, das winzige Gärtchen am Rande des Birkenwalds immer wieder besucht und schließlich war der Tag der Ernte gekommen. Guerilla Gardenings nannte man das neudeutsch, der Trend hatte in New York seinen Anfang genommen. Über London war dann das illegale Anpflanzen von Blumen, Bäumen oder Gemüse im öffentlichen Raum nach Berlin gekommen. Mary hatte auf einem Spaziergang im vergangenen Jahr Leute getroffen, die im Mauerpark Zucchinis und Salat geerntet hatten, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre.
Jan Mardo erzählte Mary von seinem Fall, während er wohlwollend das Orangenbäumchen auf dem Fensterbrett betrachtete. Der Herbst hatte in ihrer Wohnung keine Chance, der Baum war immer noch grün. Mary arbeitete als Verkäuferin im Gesundbrunnencenter. Im Prinzip glich die moderne Shopping Mall den Prachtbauten des Feudalismus: Es gab zwei Systeme von Gängen und Räumen, eins für die Herren, eins für die Diener. In den alten Schlössern gab es die repräsentativen Räume der Fürsten und hinter den Tapetentüren das Ameisensystem der Leibeigenen, die für das Wohlbefinden der Herrschaft zuständig waren. In den Kaufhäusern und Malls gab es die Ladenzeilen für den König namens Kunde und dahinter die sogenannten Sozialräume, Heizungskeller und Schaltzentralen. Mary kannte natürlich auch den Lieferanteneingang und die Lieferanten. Am nächsten Morgen wollte sie sich über den IPS-Fahrer informieren, der für das Gebiet um den Gesundbrunnen zuständig war. Zuvor hatte Mardo mehrfach bei IPS angerufen, war aber immer wieder in der Warteschleife der Beschwerdestelle hängengeblieben.

Ein Sturm wütete in den Wipfeln der Bäume am Vinetaplatz, am Boden spürte man ihn jedoch kaum. Der Himmel sah dramatisch aus, wie eine graue Faust, die auf die Erde drückte. Rainer Zufall-Echtmann war an diesem Freitagabend auf dem Weg in eine Kneipe, die ihm von einem Freund als zuverlässiger Treffpunkt der Drogenszene empfohlen worden war. Er hatte keine Angst, die Drogen hatte er ohnehin an einem sicheren Ort (er hielt den Spülwasserbehälter seiner Toilette für bombensicher) versteckt. Außerdem war einer der früheren Freunde seiner Mutter, also einer seiner Ex-Väter, Boxer gewesen und hatte ihm alles über Selbstverteidigung beigebracht, was er wissen musste. Eine ältere Frau ging vorüber, von ihrer Plastiktüte lächelte ihm die Prekariatsikone Paris Hilton entgegen. Ein fast komplett durchtätowierter Jugendlicher ließ seinen Pitbull an eine Mauer kacken.
In der "Qualmeria" (der ehemaligen "BarBar"), einer Raucherkneipe an der Bernauer Straße, lag die Sichtweite unter fünf Metern. Zufall-Echtmann setzte sich an einen der Tische – Rücken zur Wand, Tür im Auge – und bestellte ein Hefeweizen. Der Kellner hatte halblange hellbraune Haare nach Art der frühen achtziger Jahre und trug seinen beeindruckenden Bierbauch mit der Eleganz eines erfahrenen Berggorillamännchens. Beim Gehen verursachte er klebrige Latschgeräusche, der Rhythmus seiner Schritte war noch entspannender als Blues, man hörte ihm gerne zu. Am Tisch gegenüber saß eine verblühende unechte Blondine, die Cola trank und Kette rauchte. Unter ihrem engen Pullover zeichneten sich die Fettpäckchen ab, die von ihrem BH hervorgestülpt wurden. Als sie merkte, dass sie beobachtet wurde, kratzte sie sich verlegen den Hinterkopf. Rainer Zufall-Echtmann wechselte die Blickrichtung und sah einen nach oben kegelförmig angeschwollenen Mann um die Sechzig, der vorsichtig auf winzigen Füßen in Richtung Toilette wankte. Am Tresen saß ein riesiger dünner Mann, der seinen Kopf zu einer sprechenden Frau neigte, die neben ihm saß. Er hatte die Hand vor seinem Mund zur Faust geballt und hörte zu, ohne zu nicken. "Wie, der Kleene ist schon ein Jahr alt und kann no‘ ni‘ laufen? In dem Alter hatt‘ ick schon den Moonwalk druff." Seine Stimme klang hart.
Auch beim zweiten Bier wusste Zufall-Echtmann nicht, wie er hier jemals einen Kontakt herstellen sollte. Ein paniertes Schnitzel von der Größe Liechtensteins wurde vorübergetragen. Eigentlich ist eine Kneipe ja ein Ort, wo die Trinker die Esser verachten, während es in Restaurants genau umgekehrt ist, dachte er. Im Hintergrund das Geräusch vorüberfahrender Autos, an- und abschwellend wie die Wellen, die sich am Strand brechen. Der Großfernseher lief den ganzen Tag, tonlos. Mal sah er hin, mal nicht. Es war eine Art Wandteppich mit bewegten Bildern. Dann betrat ein Mann in einem eleganten Anzug die "Qualmeria". Er war klein, rund, glatzköpfig und hatte einen schwarzen Samsonite-Koffer in der Hand – er sah aus wie ein Pizzabäcker mit Musterkoffer. Er drehte erst eine Runde durchs Lokal, bevor er sich schließlich an einen der hinteren Tische setzte. Es erinnerte Zufall-Echtmann an manche Hunde, die sich erst ein paar Mal im Kreis drehten, bevor sie sich hinlegten. Er hatte einen gezwirbelten Oberförsterbart und seine Wimpern waren schwarz wie Fliegenbeine. Als sich ein anderer Mann zu ihm setzte, zeigte er ein scheckheftgepflegtes Verkäuferlächeln. Das ist der Richtige, dachte Zufall-Echtmann. Und tatsächlich gingen die beiden Männer kurz darauf gemeinsam zur Toilette, danach verabschiedete sich der zweite Mann und verschwand. Kurz darauf, nach heftigen Augenbrauenbewegungen und intensiven Blicken seitens des IPS-Fahrers, war er mit dem glatzköpfigen Koffermenschen in Kontakt und ins Geschäft gekommen. Morgen abend sollte der Deal steigen.

Mardo musste den Klingelknopf dreimal drücken, bevor ein misstrauisches Gesicht im engen Spalt zwischen Tür und Rahmen erschien. Mary hatte herausbekommen, dass Rainer Zufall-Echtmann der IPS-Fahrer war, der an besagtem Tag die Pakete im Brunnenviertel ausgeliefert hatte.
"Es geht um einen Stollen. Können Sie sich an einen Dresdner Christstollen erinnern?"
"Wer sind Sie?"
"Mein Name ist Jan Mardo. Ich bin Privatdetektiv."
"Wer schickt Sie?"
"Mein Mandant."
"Und was wollen Sie genau von mir?"
"Den Inhalt des Pakets. Sie wissen, wovon ich spreche." Mardo und Zufall-Echtmann sprachen allerdings von verschiedenen Dingen, was beide nicht wissen konnten.
Dann schloß sich die Tür wieder.

Am Samstagabend lief dann ein ehemaliger Kurierfahrer in die Arme des V-Manns der Polizei, dem er vierhundert Gramm Heroin verkaufen wollte. Die Berliner Strafverfolgungsbehörden geben mit Freude den Zugang von zwei neuen Mitgliedern des Drogenmilieus bekannt. Mit einem längeren Aufenthalt hinter Gardinen, die - aus Mardo unbekannten Gründen - gemeinhin als schwedisch bezeichnet werden, darf gerechnet werden. Ob sich Zippe und Zufall-Echtmann eines Tages beim Hofgang begegnen werden?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen