In den
späten neunziger Jahren haben wir mal mit ein paar Leuten ein Bauernhaus in
einem Eifeldorf gemietet, um dort die Zeit zwischen den Jahren und Silvester zu
verbringen. Die Tür am Ende des Flurs führte in eine dunkle Scheune, die voller
Gerümpel war. Aber von dort kam man in einen Anbau, ein Zimmer von etwa zwanzig
Quadratmeter Größe mit einem Doppelbett und einem offenen Kamin, durch dessen
Fenster man das verschneite Dorf sehen konnte. Niemand hätte hier noch einen
Raum vermutet, er war ein unerwartetes Anhängsel des Hauses und wir nannten ihn
scherzhaft „DDR“. Hier verbrachten meine Freundin und ich die Nächte.
Ich
erinnerte mich an meinen ersten Besuch in der DDR 1980. Die BRD war gerade
durch zwei Tore von Horst Hrubesch gegen Belgien Fußballeuropameister geworden
und hatte die Olympischen Spiele in Moskau boykottiert, weil die Sowjetunion in
Afghanistan einmarschiert war, eine Schandtat, die kein westliches Land je
begehen würde.
Ich
besuchte die Kleinstadt, in der meine Großeltern gelebt hatten. Es war
erschütternd. Schon am Ortseingang kamen mir ausgemergelte Kinder barfuß und in
Lumpen entgegen und bettelten um Brot. Ich gab ihnen Kinder-Schokolade und
erzählte ihnen, dass sich bei uns im Westen die Supermarktregale unter der Last
köstlicher Süßigkeiten biegen würden.
Es war
sehr kalt im Osten und mir fiel auf, dass die Häuser keine Dächer hatten.
Vermutlich in den Westen verkauft, um an die begehrten Devisen oder ein paar
Bananen ranzukommen. Durch die verstaubten Fenster sah ich, wie die Menschen in
ihren ärmlichen Behausungen Schnee schaufelten, um wenigstens das Wohnzimmer von
den weißen Massen zu befreien.
Auf
den Straßen sah ich keine Autos, nur ab und zu einen SED-Funktionär in grüner
Uniform und mit Mao-Bibel in der Hand, der in einer Rikscha zum nächsten stalinesischen
Parteibüro gezogen wurde. Ich ging in einen Blumenladen, weil ich meinen
Großeltern einen Strauß aufs Grab legen wollte, aber es gab keine Blumen. Ich
fragte die Verkäuferin, warum sie überhaupt im Laden stehen würde, und sie
sagte, die Partei wolle in jedem Ort einen Blumenladen, obwohl es in der ganzen
DDR nicht eine einzige Blume gäbe. Die DDR hatte nur eine Farbe: grau.
Auf
dem Friedhof gab es keinen einzigen Grabstein. Auf einer verwitterten Bank saß
ein alter Mann, der Friedhofswärter. Ich fragte ihn nach dem Grab meiner
Großeltern. Er erklärte mir, seit dem VII. Parteitag gäbe es keine Beerdigungen
und Gräber mehr, weil Walter Ulbricht erklärt habe, der sozialistische Mensch
sei unsterblich. Ich ging in einen „Kaffeeschuppen“, das DDR-Wort für Coffeeshop,
und bestellte einen Cappuccino. Fassungslose Gesichter beim Personal. Eine Frau
warf eine Handvoll Gerstenkörner in eine Mühle, übergoss die Brösel mit lauwarmem
Wasser und nannte es Muckefuck.
Zum
Glück gibt es dieses furchtbare Land nicht mehr, aber nach der
Wiedervereinigung haben die Ossis die Deutsche Bahn und die Verwaltung
übernommen und alles ruiniert. Der Osten ist im Westen nicht glücklich geworden
und der Westen konnte mit dem Osten nie etwas anfangen. Es erinnert mich an
meinen Urgroßvater, der im Kaiserreich als Kolonialoffizier in Afrika war. Er
brachte von der Großwildjagd zahlreiche Felle und zwei Elefantenschädel mit, die
er neben dem Portal seiner Villa aufstellen ließ. Und Malaria, die in Jahrzehnte
später umbrachte.
BILD:
Geteiltes Leid