Samstag, 27. Juli 2019

The Smiths

Der Bandname ist für jeden Nichtbriten eine Katastrophe. Ti-Äitsch – S – Ti-Äitsch –S. Innerhalb einer Sekunde fehlerfrei auszusprechen, wenn man sich nicht ewiger Verdammnis in Fankreisen sicher sein wollte. Zum Glück hatte ich ab der fünften Klasse eine echte Engländerin als Lehrerin, die uns am Gymnasium diese Feinheiten beigebracht hat.
1984 kam die erste LP der Gruppe raus. Ich bin eher zufällig an die Platte gekommen. Am Ingelheimer Bahnhof gab es zu jener Zeit einen kleinen Plattenladen, in dem ein adipöser Trinker aus meiner Stammkneipe seinen Jugendtraum wahrgemacht hatte. In den achtziger Jahren wollte man als junger Mensch entweder Musiker werden oder einen Plattenladen aufmachen. Die älteren Leser werden sich erinnern.
Dieser Laden, dessen Namen ich vergessen habe und der längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen ist, war etwa zwanzig Quadratmeter groß. Die Wände waren schwarz gestrichen und mit Ramones-Postern und anderem Schmuckwerk verziert. Am Vormittag assistierte die Großmutter des Pächters, dessen fettige schwarze Haare bis über beide Bierbrüste hingen, wenn ich ihn am Abend vorher an der Theke gesehen hatte.
Ich war zu jener Zeit ein begnadeter Ladendieb. Ich stahl nicht nur für die eigenen ästhetischen und intellektuellen Bedürfnisse in Buchhandlungen, bei diversen Herrenausstattern und im einzigen Plattenladen der Stadt. Oft war ich auch im Auftrag unterwegs. Im Plattenladen war es ganz besonders schwierig. Es ist die Königsdisziplin der Ladendiebs: du bist allein mit der Verkäuferin in einem winzigen Laden. Es gehören Mut, Timing, Glück und Talent zu jedem gelungenen Beutezug.
Die alte Frau und ich kannten uns. Wir sprachen miteinander. Gelegentlich schickte ich sie ins Lager, um nach einer bestimmten Bestellung zu sehen, die ich nie aufgegeben hatte. Aber meistens genügte meine präzise Beobachtungsgabe. Man darf nicht vergessen, dass der Diebstahl einer LP schwieriger ist als der Diebstahl einer CD oder der illegale Download in heutiger Zeit. Die LP ist sperrig. Zum Glück verfüge ich über einen breiten Rücken. Und so schob ich die Schallplatten, eigenen Bedarf und Auftragsarbeiten aus meinem Freundeskreis, unter meine Jeansjacke und knöpfte sie vorne zu, damit die Beute beim Verlassen des Ladens nicht herausrutschen konnte.
Das Debütalbum der Smiths habe ich einfach so geklaut. Mir war so danach. Ich hatte noch nie von ihnen gehört. Nach dem Beutezug in der Freistunde hatte ich Kunstunterricht. Die Platte legte ich auf meinen Tisch. Der Kunstlehrer sah sie, hob sie hoch und lobte die Ästhetik der Platte. Ein nackter Oberkörper eines jungen Mannes. Es war mir damals peinlich. Die Schönheit eines männlichen Körpers, mein Diebesgut vor aller Augen – und damals wusste ich ja noch nicht einmal, dass es sich hier um die Musik von Homosexuellen handelt.
Warum erzähle ich die Geschichte? Heute war ich zum ersten Mal auf dem CSD. Die Demo war nur 500 Meter von meiner Berliner Wohnung entfernt. Ich war total begeistert. So viel Phantasie in Sachen Kostüm, davon ist der rheinische Karneval weit entfernt. Blickfang waren die Drag Queens, auf die sich die Hobbyfotografen rudelweise stürzten. Kenne ich von Partys auf St. Pauli. Aber auch die bayrische Abordnung in Krachledernen und mit Gamsbart am Hut hat viel Applaus bekommen und die Leute aus Venezuela und vom Amazonas. Die Musik der Smiths und auch die Soloprojekte von Morrissey finde ich bis heute phantastisch und höre sie regelmäßig.
The Smiths - The Smiths (1984). https://www.youtube.com/watch?v=1fitMGZhulM

9 Kommentare:

  1. Keine Kamellen?

    Hier in HH war glaub ich das Hetero Saufpendant (Schlagermove™) schon. Morgen ist "Iron Man" für die harten die nicht wissen was Sie im Garten sollen (und ein Bügeleisen haben die auch nicht dabei). Dann ist nächstes WE das CSD Kommerzspektakel hier in HH. Wahrscheinlich mit den gleichen ach so spontanen Drag-Queens.

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    1. Wie kann man bloß so mufflich sein.

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    2. Ich mag einfach keine fremdbestimmten Massenveranstaltungen. Wenn die MassenMitmachfraktion mir Konsumverweigerer da irgendwas unspaßiges vorwirft, damit kann ich gut leben, sehr gut.

      Ausserdem: Alle Kinder liebten Oskar, jeder hasste Bibo.

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    3. Gibt es selbstbestimmte Massenaktionen? Ich kann doch als Zuschauer kommen und gehen, wann ich will. Ich habe mir die erste Hälfte des Umzugs angeschaut, dann bin ich einkaufen gegangen. Blöd finde ich eher die Firmen-Trucks wie von Glyphosat-Bayer. Brauche ich nicht. Aber die Leute auf der Demo waren echt geil.

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    4. Du kannst ja als Zuschauer kommen und gehen wann du willst, ein Anwohner halt eben nicht.

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    5. Klar gibt's die, wenn ich mit 6 Zementsäcken auf ner Schiebkarre freiwillig den Berg hochlaufe.

      Finde das ja gut wenn sich Leute amüsieren, gönne ich ihnen von ganzen Herzen. Nur weil ich nicht auf goldbemalte Pimmel und irgendwelche Bibo-Queens aus'm Showkostümladen stehe müssen ja nicht alle so sein. Die Welt ist nun mal bunt und soo schöööööön waaaaarm. Auch wenn sich die carbondioxidverblendeten massenbewegten in die (Pailletten?)Hose machen.

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  2. Schade,warum sind wir uns nicht begegnet? Hast Du das Buch von Jerry Rosenstein gelesen, er war aus Bensheim und hat den 1. CSD in San Franzisco mit organisiert.

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  3. Man muß die Feste feiern wie sie fallen.

    Hermann Salingré

    (1833 - 1879), Berliner Possenschriftsteller


    ...und schöne Sonntags-Nachmittags-Kaffee-Feier ;) *zwinker*

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