Samstag, 1. Juni 2019

Damals und heute – als Student in Berlin

Frühling 1989. Nach langen Monaten des Wartens bekommst du einen Wohnberechtigungsschein, ohne den in Berlin gar nichts geht. Jeden Morgen holst du dir um sechs Uhr die Tageszeitungen vom Kiosk und studierst die Wohnungsangebote. Dann telefonierst du mit den Vermietern. Schließlich ergatterst du eine Einzimmerwohnung in Moabit für neunzig Mark Kaltmiete im Monat. Vierter Stock Hinterhaus ohne Aufzug. Das Zimmer hat zehn Quadratmeter und ein Fenster zum Hof, dessen Scheiben vor Dreck blind sind. Dein Vormieter hat die Wände knallrot gestrichen. Die Küche ist halb so groß wie das Zimmer und mit einem uralten Herd und einer Spüle bestückt. Die Toilette ist auf der anderen Straßenseite, zum Duschen musst du ins Schwimmbad sieben U-Bahnstationen weiter. Im Winter merkst du, dass der Kohleofen gar nicht funktioniert. Bei Besuchen in der westdeutschen Heimat verschweigst du deinen Eltern die unappetitlichen Details deiner neu gewonnenen Unabhängigkeit.
Frühling 2019. Die Maschine landet am Morgen pünktlich in Tegel. Der Immobilienmakler erwartet dich schon. In seinem dicken Mercedes fahrt ihr ein paar Wohnungen ab, du hast dich für Prenzlauer Berg und Friedrichhain entschieden. Wohnung Nr. 5 ist es. Du hast dich sofort verliebt. Altbau mit Parkett und Stuck in der Husemannstraße, Nähe Kollwitzplatz. Die Wohnung ist gerade luxussaniert worden, zwei große Zimmer, eine komplett eingerichtete Küche und ein Badezimmer mit einem Whirlpool. Der Preis: eine halbe Million Euro. Monatliches Wohngeld: 250 Euro. Du gibst dem Makler eine mündliche Zusage und gehst erstmal in ein thailändisches Restaurant, um dich für deine gute Entscheidung zu belohnen. Dann rufst du deinen Vater in Westdeutschland an. Er ist Zahnarzt und freut sich, dass du so schnell was gefunden hast. Er verspricht, einen Notartermin zu machen, um den Kaufvertrag abzuschließen. Leuten aus deinen Abiturjahrgang, die auch nach Berlin wollen, aber nicht reich sind, empfiehlst du ein Studium in Saarbrücken oder Jena.
P.S.: Für Underdogs war es zu allen Zeiten schwierig. Mein Vater hat in den fünfziger Jahren studiert. Ohne Abitur, zweiter Bildungsweg, als gelernter Maler und Lackierer. Er lebte zur Untermiete auf einem Speicher, ohne Küche und Bad. Wenn er aus dem Fenster gucken wollte, hat er den Stuhl auf den Tisch gestellt und ist hinaufgeklettert. Auf dem Stuhl stehend konnte er die Düsseldorfer Altstadt sehen. Im Winter lag er mit seinem Mantel unter der Bettdecke. Viele Nebenjobs machte er nachts. Zeitungen falten, das war damals noch Handarbeit. Achtzig Pfennig die Stunde. Oder zu zweit einen Lkw mit 500 Sack Zement abladen. Den Schlaf hat man eben im Hörsaal nachgeholt. Das alles ohne Bafög und ohne eine einzige Mark Unterstützung von seiner Familie. Da musste man auch manchmal seinen Stolz überwinden und bei der Bahnhofsmission um einen Teller Suppe bitten.
Siouxsie And The Banshees – Dear Prudence. https://music.youtube.com/watch?v=M6rrTROoZIw&list=RDAMVMM6rrTROoZIw

1 Kommentar:

  1. Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung.
    Aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude.


    Dietrich Bonhoeffer *1954♥KINDbin*

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