Donnerstag, 21. Juli 2016

Ist die EU eine Demokratie?

„Nach dem griechischen Debakel fällt es ohnehin schwer, in der EU noch etwas anderes als eine zwielichtige Abteilung von IWF und Weltbank zu sehen.“ (Irvine Welsh)
In der Türkei sehen wir aktuell den Untergang einer Demokratie. Es ist nicht das einzige Land, in dem die Volksherrschaft auf dem Rückzug ist. Nachdem in den neunziger Jahren Osteuropa für die Idee der Demokratie gewonnen wurde, kann man das Projekt der Erweiterung in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten als gescheitert betrachten.
Europa und Amerika sind fassungs- und tatenlose Zuschauer dieser Entwicklung. Wir haben scheinbar nicht einmal mehr die Kraft, das Wort gegen die Feinde der Demokratie zu erheben. Vor einigen Jahren gab es immerhin noch einige lauwarme Sanktionen gegen die Autokratie Putins in Russland. Vorbei. Ich frage mich in diesen Tagen, da auch Großbritannien sich basisdemokratisch per Plebiszit von der Idee eines geeinten Europas verabschiedet: Ist die EU demokratisch? Wirkt die Union noch über ihre Grenzen hinaus?
1. Ich habe im Studium gelernt, dass in einer Demokratie die Bevölkerung in freien Wahlen ein Parlament wählt. Aus diesem Parlament geht die Regierung hervor. Ein einfaches, zweistufiges Verfahren. In der EU wählen wir ein Parlament, aus dem keine Regierung hervorgeht. Die zweite Stufe zündet nicht. Die Exekutive der EU, die EU-Kommission, wird von den Regierungschefs der Mitgliedsländer in einem Verfahren ausgekungelt, das an den Wiener Kongress erinnert, aber mit Demokratie nichts zu tun hat. Wichtige Entscheidungen treffen die Regierungschefs auf ihren Gipfeltreffen, die von informellen Treffen der großen Staaten (Deutschland, Frankreich, manchmal auch Italien) präjudiziert werden. So kann man ein Unternehmen führen, aber keine politische Organisation, die sich auf die Legitimation durch die Wähler stützen möchte. Ich habe Juncker nicht zum Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt. Sie etwa?
2. Jede Demokratie hat als Grundlage eine Verfassung, eine „Spielanleitung“. Sie muss der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden. Das Volk als höchster Souverän genehmigt die Verfassung, erst dann tritt sie in Kraft. Auch das habe ich mühsam in Seminaren an den Universitäten in Mainz, Heidelberg und Berlin gelernt, so steht es auch in den Fachbüchern, die in meinem Regal stehen. Die EU wird nach dem Lissabon-Vertrag regiert, der uns nie zur Abstimmung vorgelegt wurde. Ich habe ihn als Bürger nicht genehmigt. Sie etwa?
3. Ein demokratischer Staat ist eine Einheit, in allen Städten und Gemeinden dieses Staates gelten dieselben Regeln (Gesetze und Verordnungen). Europa ist nicht nur weit von dieser Einheit entfernt, mit dem Euro wurde auch eine zusätzliche Spaltung der EU hervorgerufen. Die Union teilt sich in Staaten der Eurozone und Staaten außerhalb der Eurozone. In den letzten Jahren haben wir uns in der EU hauptsächlich mit dem Euro befasst, seiner Rettung und dem Zusammenhalt des Währungsraums („Griechische Tragödie“, Teil 1 – 3). Aktuell sehen wir einen Zerfall der EU, nicht nur durch den Austritt Großbritanniens, sondern auch durch die Beschneidung demokratischer Grundrechte in Polen, Ungarn usw. sowie die Missachtung von gemeinsamen Beschlüssen, so unsinnig sie im Einzelnen auch sein mögen (Maastricht-Kriterien als Beispiel). Wenige EU-Staaten fordern die Vertiefung der Union, für die sie von der Bevölkerung – glaubt man den Umfragen – kein Mandat hat und keine Mehrheit der Regierungen innerhalb der EU. Das „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ entfaltet inzwischen Zentrifugalkräfte, die den Kern des europäischen Projekts, das Ende der Konfrontation durch Kooperation, bedrohen.
Alles in allem gibt die EU in diesen Tag kein gutes Bild ab. Sie ist von einer Demokratie weiter entfernt denn je und kann daher auch niemandem in der Welt als Vorbild dienen. Und vom Niedergang der parlamentarischen Demokratie in der westlichen Welt auf der Ebene der Nationalstaaten in Zeiten des aggressiven Populismus, der Krise der Medien als vierter Gewalt und der globalen Herrschaft großer Konzerne habe ich noch gar nicht gesprochen. Es steht nicht gut um uns. Wir sollten nicht nur das Scheitern der Anderen betrachten, sondern einen kritischen Blick in den Spiegel werfen.
The Chameleons - Up The Down Escalator. https://www.youtube.com/watch?v=6fZPRZm7yUQ

20 Kommentare:

  1. Äh... Juncker war der Spitzenkandidat der EVP bei der Europawahl, er ist dann auf Vorschlag des Rates vom Parlament zum Kommissionspräsident gewählt worden. Die Personalie ist sicher bedauerlich, die demokratische Legitimation scheint mir aber mindestens so gut wie bei unseren Kanzlern..

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Du meinst Jean-Claude "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." Juncker? Ein lupenreiner Demokrat. Und die Personalien Oettinger und Stoiber kamen auch direkt aus der Mitte des Volkes ;o)))

      Löschen
    2. Das Juncker eine Katastrophe ist, da müssen wir ja nicht streiten. Vom Parlament wurde er aber gewählt. Und Oettinger wurde durch Parlamentsbeschluss bestätigt. Stoiber, der alte Muppet, wohl nicht, aber der hat ja auch keine wirkliche Funktion.
      Das Demokratiedefizit der EU findet sich inzwischen an anderen Stellen.

      Löschen
    3. (Und gleich mit Rechtschreibfehler begonnen, Bingo.)

      Löschen
    4. "Das Juncker" ist gut :o)

      Aber die Kommission hat so oder so nichts zu melden. Merkel/Hollande + Akklamation in der Runde der Regierungschefs. Das ist der Vorstand des Unternehmens EU. Jetzt könnte man natürlich argumentieren, dass Merkel gewählt sei. Aber eben nur von 40 % der Deutschen und nicht vom Rest Europas. In Griechenland käme sie nicht über die 5%-Hürde.

      Löschen
    5. Ich finde auch die Rolle des Rates problematischer als Parlament und Kommission.

      Löschen
    6. Eigentlich meine ich gar nicht den Rat bzw. die Räte der EU. Die treffen sich ohnehin nur einmal im Quartal und beschließen sicher nichts selbstständig. Die eigentliche Exekutive ist die Diplomatie zwischen den großen Staaten. Daher mein Vergleich mit dem Wiener Kongress. Es sind die Bosse, die entscheiden. Die EU-Exekutive ist de facto nur ausführendes Organ. Weil sich eben kein Nationalstaat wirklich der supranationalen Ebene beugen will (Frankreich am wenigsten). Aber Ackerman ist natürlich wieder im de-jure-Modus ;o)

      Löschen
    7. Ich lese gerade etwas zu viel der britischen Erkenntnisse über Europa, das macht einen wohl unleidlich.

      Löschen
    8. Aus den deutschen Medien ist das Thema ja komplett verschwunden. Noch früher, als ich dachte. Aber dann kamen EM, Nizza, Erdogan, Würzburg und nächste Woche stirbt vermutlich noch Franz Beckenbauer ... Du solltest weniger Auslandspresse lesen. Probier's doch mal mit "Mein schöner Garten". Mich beruhigt das immer wieder ;o)))

      Löschen
    9. Ja, in Deutschland ist das schon abgehakt oder wird halt wieder eausgezogen, wenn irgendetwas passiert, was die jeweiligen Stereotypen bestätigt. Ich bleibe aber dran, weil mich interessiert, wie das weitergeht, wenn sich der Konservatismus beim Flirt mit den extrem Rechten verspekuliert. Das UK wird nicht das letzte Land sein, wo das passiert...

      Löschen
    10. Österreich wählt im Oktober einen neuen Präsidenten, die USA im November. Im April 2017 sind dann die Franzosen dran ... das könnten drei üble Entscheidungen werden.

      Hofer, Trump, Le Pen. Dagegen ist der Brexit ein laues Lüftchen.

      Löschen
  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

    AntwortenLöschen
  3. Frau Merkel ist schon wieder auf Tauchkurs. In diesem Alter spielen Macherinnen üblicherweise Golf.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Alles, was von der Frau kommt, ist: "Ruhe bewahren, weiter so." Dabei müsste der Brexit das Fanal gewesen sein, die EU zu einem demokratischen Projekt zu machen. Stattdessen werden die Briten in unserer Stammtischpresse verhöhnt: Im Wahlkampf wäre gelogen worden ("Ach was" hätte Loriot jetzt gesagt), die Mehrheit wäre nur sehr knapp gewesen, die Briten würden schon sehen, was sie davon haben, die Jungen wären gar nicht hingegangen, weswegen man die Wahl jetzt solange wiederholen müsste, bis das Ergebnis stimmt usw. Der Gipfel der Bigotterie kam von Fefe, der meinte, die Stimmen junger Leute müssten höher gewichtet werden, weil sie eine längere "Restlebenszeit" als ältere Menschen hätten. Eine demokratische Entscheidung akzeptieren, auch wenn sie einem persönlich nicht in den Kram passt - nicht unser Ding in Deutschland. Und was in der EU ändern? Nö, Sommerpause. Nächstes Thema.

      Löschen
  4. Interessant wäre ja auch eine Debatte über Alternativen: Wenn der Mangel an Demokratie das Problem ist, wie werden die Strukturen demokratischer? Wenn Neoliberalismus das Problem ist, wie werden die Gesellschaften sozialer? Ich denke da an die Massenarbeitslosigkeit unter jungen Leuten in vielen EU-Staaten. Warten wir, dass "der Markt" es richtet, wird ein öffentliches Beschäftigungsprogramm aufgelegt (Menschenrettung statt Bankenrettung - Kohle ist ja offenbar genug vorhanden, wenn ich mir die Debatte um die Bankenrettung und das EZB-Anleihenankaufprogramm so anschaue) oder warten wir, bis die Feinde Europas dieses Beschäftigungsprogramm machen? 1932/33 gab es übrigens eine fast identische Debatte in Deutschland. Der Ausgang ist bekannt.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Zur Hypo-Real-Estate-Rettung meinte ein Bankmensch: "Die werden gerettet. Wenn du wüsstest wer da sein Geld drinnen hat."
      Dabei war es ein gewöhnlicher Bankraub. Gerhard Bruckermann ist mit seinen 140 Millionen Präme abgetaucht und keiner sucht ihn. Wenn das Mafia-Geld gewesen wäre hättest du Stoff für einen Krimi.
      Will sagen: Letztendlich geht es nicht um Demokratie oder nicht, sondern wie kann ich den Kipppunkt wo ein System korrumpierbar wird - und jedes System ist irgendwann korrupt - so weit wie möglich hinauszögern.
      In Deutschland und in der EU ist es schon zu spät.

      Löschen
    2. Jemanden übers Ohr hauen nennt man auch "einen Türken bauen". So schließt sich der Kreis.

      Löschen
    3. Wie oben bereits angedeutet: Bei einer anständig geführten Firma, wie der Mafia, wäre das Geld wieder dort wo es hingehört.

      Löschen
  5. Vollständige, korrekte analytische Zusammenfassung eines vollständig kaputten und bis in die Knochen korrupten
    Systems.
    Diesem Text und den Kommentaren des Autors könnte man noch einiges hinzufügen. Jedoch, wozu? Hier ist das wichtigste geschrieben.

    AntwortenLöschen
  6. .....es würde Zeit, dass sich das Volk erhebt......Krieg den Palästen....

    AntwortenLöschen