Freitag, 15. Juli 2016

Aus dem bürgerlichen Märchenbuch

„Der Geruch nach Staub in der Universitätsbibliothek. Die toten Stimmen, die vergessenen Namen. Ich bin ein Teil dieses Gräberfelds.“ (Matthias Eberling: Vorbemerkungen zu einer Autobiographie, die ich nie schreiben werde)
Die Geschichte wird mir und uns allen erzählt, seit ich in den Kindergarten gekommen bin: 1968 gab es eine Protestbewegung, deren Mitglieder beim „Marsch durch die Institutionen“ die Schaltstellen der Bundesrepublik erreicht haben und bis heute insgeheim die Geschicke dieses Landes bestimmen. Dieses schlichte und in seiner Einfachheit geradezu kindische Narrativ endet meist mit dem Lamento des bürgerlichen Erzählers, der „linke Mainstream“ beherrsche darum das Land und „linkes Gedankengut“ dominiere Politik, Medien und gesellschaftlichen Diskurs.
Das ist natürlich Blödsinn. Aber wir hören diese Geschichte seit vielen Jahrzehnten und sie wird zumeist gedankenlos nachgeplappert. Kommen wir mal zu den Fakten: Die APO hatte, wenn man den Worten von Herrn Ströbele aus Berlin, der 1968 dabei gewesen ist, Glauben schenken möchte, in ihren besten Zeiten im damaligen West-Berlin dreihundert bis fünfhundert Aktive, die sich zu Demonstrationen getroffen haben. Die größte Demo in Berlin brachte zehntausend Menschen auf die Straße, es ging um den Vietnamkrieg. Okay, gegen Krieg sind wir alle, darum kamen zu dieser Demo ausnahmsweise mehr Menschen. Aber der Kern der „Studentenbewegung“ war ein überschaubarer Haufen. In Frankfurt, dem zweiten Schwerpunkt der APO, werden es noch einmal so viele Leute gewesen sein. Vielleicht waren es mehrere zehntausend Menschen in ganz Deutschland. Schätzungsweise ein halbes Promille der Bevölkerung der damaligen Bundesrepublik. Promille – nicht Prozent.
Und diese Leute haben also wie Agenten die Schaltstellen der Macht besetzt? Wo denn genau? Gehen Sie in die Betriebe, in die Unternehmen. Wo sitzen da „Alt-68er“ im Vorstand oder der Geschäftsleitung? Gehen Sie in die Redaktionen. Wo sind die linken Strippenzieher? Wo sind sie in den Regierungsparteien? Dieses Land hatte nie einen linken Mainstream. Deutschland war schon immer konservativ und hat sich nur ein einziges Mal mit Willy Brandt einen Regierungschef geleistet, der ansatzweise links war. Und das ist über vierzig Jahre her. Kommen Sie mir bitte nicht mit Schmidt oder Schröder. Konservative reinsten Wassers. Selbst die wenigen Menschen, die tatsächlich aus dem trojanischen Pferd geklettert sind, wie zum Beispiel Joschka Fischer, waren Konservative. Manche landeten sogar im RTL-Dschungelcamp wie Rainer Langhans.
Soviel zu einem alten Ammenmärchen, das ich inzwischen nicht mehr hören kann. Jedes Mal, wenn diese alten Leier wieder aufgelegt werde, denke ich über den Autor: Der hat ja wohl einen Riss im Plätzchen!
P.S.: Es ist mir zu einfach, für die Mut- und Ideenlosigkeit der aktuellen Politik immer wieder die „68er“ verantwortlich zu machen. An der Macht ist die Generation, die in den siebziger Jahren erwachsen geworden ist. Sie musste nicht mehr kämpfen, die Avantgarde der „68er“ hatte ihr die Türen geöffnet. In den sechziger Jahren wurde man für lange Haare noch auf offener Straße beschimpft, in meiner Jugend hatten selbst brave Bürgersöhne im Latein-Leistungskurs lange Haare und es störte niemanden mehr. Die heutigen Machthaber in Wirtschaft und Politik mussten nicht aktiv werden oder riskante Positionen beziehen, sie sind auf einer Rolltreppe nach oben gefahren. Dort sind sie jetzt. Und sie sind nicht mehr als mittelmäßige Verwalter geworden.
The Platters - Smoke Gets In Your Eyes. https://www.youtube.com/watch?v=H2di83WAOhU

5 Kommentare:

  1. Wenn die wenigstens mittelmäßig wären, dann wäre schon viel gewonnen.
    Nur mittel, würde schon reichen.

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  2. Das Zitat am Anfang kommt gut in Richtung "Reise". Wenn du den Urheber des Zitats magst - ich gehe davon aus, dass du ihn sonst nicht zitiert hättest -, wirst du mit Die Reise zumindest streckenweise gut klarkommen. ;)

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  3. Wir - alle die mitmachen- fummeln an einem System herum, statt ein neues zu suchen! Beispiel: Ändert man das Rentenrecht/- höhe bei Frauen, hat das Auswirkungen auf die Berufstätigkeit, und es braucht Kitas. Warum nicht alle(Beamte, Freiberufler usw.) in Rentenversicherung und Krankenkasse mindestens einen Grundbeitrag zahlen...
    Niemand will abgeben, und so wird die Schere arm/reich immer grösser, und das "System" immer gnadenloser zu denen, die sich nicht wehren können.

    „ wenn eine Veränderung geschehen soll, so muss etwas verändert werden. Eine so kahle Wahrheit ist darum nötig gesagt zu werden, weil die Angst, die muss, von dem Mute, der will, sich dadurch unterscheidet, dass die Menschen, die von jener getrieben werden, zwar die Notwendigkeit einer Veränderung wohl fühlen und zugeben, aber, wenn ein Anfang gemacht werden soll, doch die Schwachheit zeigen, alles behalten zu wollen, in dessen Besitz sie sich befinden...“ Hegel , 1798

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  4. Die Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag sind Beamte oder Freiberufler.
    Es ist von daher nur logisch, daß genau diese Leute in der Steuergesetzgebung oder auch bei Entscheidungen in anderen Bereichen bevorzugt werden.

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  5. Für Narrativ und Machthaber gibt es einen Punktabzug.
    Die 68er sind ja auch etwas billig und langsam abgelutscht. Zumal einige auch recht weit nach rechts abgerutscht sind. Alles was in Deutschland links ist wird übrigens eines leichten Schwefelgeruchs gezeiht und funktioniert seltsamerweise immer noch bestens.

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