Freitag, 10. Juni 2016

Die Kirche des runden Leders

“The capacity of human beings to bore one another seems to be vastly greater than that of any other animal.” (H.L. Mencken)
Es ist mal wieder soweit. Einen Monat lang zerfällt Deutschland in zwei verfeindete Lager. Der Fußball spaltet die Nation in Freunde und Feinde.
Fangen wir mit den Fußballfeinden an. Sie geben bereits vor dem ersten Spieltag eines Fußballturniers ungefragt und geradezu zwanghaft jedem zu verstehen, dass sie sich die Spiele nicht anschauen werden. Dass Fußball langweilig und primitiv ist. In der linken Variante der Kritik wird hervorgehoben, dass der Sport erzkapitalistisch sei und ausschließlich von Millionären betrieben werde. Ihre Kritik dient in erster Linie der Darstellung der eigenen geistigen und vor allem moralischen Überlegenheit. Nie ist Selbstgerechtigkeit billiger zu haben als beim Fußball. Ich muss nur eine Fernsehübertragung ignorieren – prompt bin ich Millionen von Menschen überlegen. Ein wohlfeiles Distinktionsmerkmal, das selbstverständlich mit humorloser Verbissenheit und oberlehrerhaften Monologen präsentiert werden muss. Man muss noch nicht einmal auf seine Bratwurst verzichten wie der Veganer. Alle zwei Jahre das gleiche Ritual.
Kommen wir zu den Fußballfreunden. Kaum beginnen die Übertragungen auf dem heimischen Bildschirm, zieht man sich ein DFB-Trikot über, schminkt sich das Gesicht, schmückt die Wohnung in schwarz-rot-gold (übrigens nie mit der grünen Fahne des DFB, dessen Auswahl ja eigentlich zum sportlichen Vergleich antritt) und bereitet ein kleines Buffet vor, zu dem grundsätzlich Mini-Buletten gehören, in denen winzige deutsche Fähnchen an Zahnstochern stecken. Wenn die deutsche Mannschaft gewonnen hat – wobei man bei jedem deutschen Tor bereits das gesamte Haus zusammengebrüllt hat wie eine abgestochene Sau –, torkelt man besoffen und „Schland“-lallend zu seinem Auto, das ebenfalls schwarz-rot-gold geschmückt ist, und trifft sich mit seinen Gesinnungsgenossen zum Autokorso, um die gesamte Nachbarschaft zu terrorisieren. Oder man hat ohnehin gleich den ganzen Abend auf einer „Fanmeile“ verbracht, die man in Zivil gar nicht mehr betreten kann, und wo es zugeht wie bei den römischen Saturnalien. Alle zwei Jahre das gleiche Ritual.
„Häng doch schon mal die Deutschlandfahne ans Balkongeländer, Gisela, morgen fängt die EM an!“ – „Ich finde ja, alle deutschen Spieler sollten die Nationalhymne mitsingen.“ – „Gleich ist das erste Gruppenspiel. Wollen wir uns gegenseitig das Gesicht bemalen?“
Ganz Deutschland ist in zwei Lager geteilt. Ganz Deutschland? Nein, da gibt es auch noch eine winzige Gruppe von Menschen, die ganz anders sind. Mein Freundeskreis besteht glücklicherweise aus solchen Leuten. Sie leben in einem kleinen gallischen Dorf, ihr Zaubertrank ist aus Hopfen und Malz und sie treffen sich einfach, um sich ein Spiel anzusehen. So wie sie sich das ganze Jahr treffen, um die Bundesliga, die Champions League oder einfach eine DVD anzuschauen. Niemand käme auf die Idee, sich für eine Fernsehsendung zu verkleiden oder zu schminken. Weil es einfach albern ist. Für den ganzen schwarz-rot-goldenen Tand hat man keinen müden Cent übrig und wenn das Spiel langweilig ist, plaudert man eben ein wenig über andere Themen. Trittbrettfahrer, die alle zwei Jahre auf den Hype hereinfallen und jetzt krampfhaft Leute suchen, in deren Wohnzimmer sie dann mit dummen Fragen und geheucheltem Halbwissen jedem echten Fan auf die Nerven gehen, werden abschlägig beschieden. Man bleibt unter sich, freut sich über spannende Spiele, ärgert sich über langweilige Partien und geht anschließend gemütlich nach Hause. Die Wege in unserem Dorf sind sehr kurz. Einen Autokorso hat es hier selbst nach gewonnenen Weltmeisterschaften noch nie gegeben. Seit vierzig Jahren jedes Wochenende das gleiche Ritual.
P.S.: Es gibt noch eine weitere Gruppe: die Migranten. Leider, lieber Moralapostel und lieber antideutsche Wutschlumpf, sind sie auch nicht besser. Ein türkischer oder italienischer Autokorso hat dieselbe Lautstärke wie ein deutscher. Ich habe schon mit Kreuzberger Türken, Brasilianern im Maracana-Stadion und holländischen Campern Fußballspiele gesehen – es scheint ein internationales Phänomen zu sein. Die Kirche des runden Leders kann überall auf der Welt der totale Horror sein, wenn man ihre fanatischen Gläubigen trifft. Aber es gibt eben auch in allen Ländern die stillen Gourmets, die wissend nicken, wenn man Dinge sagt wie „Günter Netzer 1973“ und nicht erst ihr allwissendes Telefon bemühen müssen.
P.P.S.: Fast hätte ich es vergessen. Es gibt ja noch eine fünfte Gruppe: die Sanftmütigen. Die Leute, die sich zu dem Thema gar nicht äußern. Die während eines WM-Endspiels mit deutscher Beteiligung ins Schwimmbad gehen, weil sie dort endlich mal ihre Ruhe haben (wahre Geschichte!). Die in den gespenstisch leeren Supermarkt gehen, während die anderen wegen eines Ballspiels wildfremder Männer kreischen, und mit einer sichtlich entspannten Kassiererin eine geradezu verschwörerisch lange Unterhaltung beginnen. In diesen Stunden treffen Sie in der Sauna garantiert den Mann oder die Frau Ihres Lebens. Menschen, die den Gleichmut und die stoische Gelassenheit besitzen, einen Monat lang eine medial aufgepumpte Belanglosigkeit zu ignorieren. Fußball ist nicht wichtig. Wenn man das begriffen hat, kann man sich in aller Ruhe die Spiele anschauen – oder eben nicht.
BAP - Zehnter Juni. https://www.youtube.com/watch?v=c4pgBDsvyec

9 Kommentare:

  1. Ich erlaube mir, deone Gedankem mit einer glatten 10 (von 10)zu bewerten. Um im sportlichen Thema zu bleiben.

    Schade, mit dir und/oder deinen Freunden würde ich gerne Spiele der EM gemeinsam verfolgen.

    Wegen der Zeitverschiebung, werde ich mir wohl keine Spiele anschauen können, die um 20 Uhr angepfiffen werden. Und deutsche Spiele in Bars mit dt. Rentnern/Urlaubern, tue ich mir sicher nicht an.

    Auch wenn ich problemlos vor die Türe käme.

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    1. So wichtig sind die Spiele ja auch nicht. Ab dem Viertelfinale kannst du's dir ja in Ruhe im Netz anschauen.

      Im Augenblick ist die Lage in D ja noch entspannt. Ich war gestern in Mainz unterwegs. Niemand im Trikot gesehen, nirgends schwarz-rot-gold. Auch die Autos sahen alle ganz normal aus. Vielleicht wird's ja dieses Jahr nicht so schlimm ...

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  2. Stille ((sanft) nickend) bei.

    Das 98er Turnier sah ich im Freundeskreis, ohne auch nur ein Tor 'live' mitzukriegen (einer mußte sich ja 'opfern': drehen/stopfen/Bierchen holen). Den einzigen Fanatiker im Kreise haben wir solange mit Sachlichkeit betrollt, bis er - weinend - ging. Tolles Turnier, alles in allem.

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    1. Bei dem Turnier 98 hatte der Kumpel, von mir, bei dem wir Sonntagabend auf dem Sofa hocken werden, bei einem Preisausschreiben zwei Karten für das deutsche Länderspiel in Lens gegen Jugoslawien gewonnen. Damals haben deutsche Hooligans einen Polizisten zum Krüppel geschlagen und er berichtete von der aggressiven Stimmung im und um das Stadium. Seit dem war keiner von uns mehr bei einem Länderspiel. Manche Leute kapieren einfach nicht, das Fußball Teil des Unterhaltungsprogramms ist und nehmen die Sache viel zu ernst.

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    2. Mein letzter Satz betraf, selbstredend, nur "aufm Platz".

      Die Sache mit Nivel ... sowas läßt bei mir jedes Verständnis aussetzen, incl. der Sprachlichkeit. Wo solche Leute auflaufen, will ich nicht sein.

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  3. Ich glaube, der Druck, das Verlangen, der Wunsch nach einem guten Abschneiden der DFB-Auswahl ist nach dem Gewinn der WM in Brasilien nicht so groß.
    Man ist noch satt von vor 2 Jahren.

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    1. Ich freue mich halt auf die Treffen mit Freunden. Daher wäre wenigstens das Halbfinale nicht schlecht. Und danach geht's in den Urlaub :o)

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  4. Komisch, dass alle immer so ab dem Halbfinale auf der Matte stehen. Spätestens dann spielen sie Rasenschach. Schnarsch.
    Ganz toll finde ich übrigens die Choreografien mit diesen Plastikschildern, Lalola und den Riesenfahnen. Das hat was von Nordkorea.

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    1. Die Sache mit den Plastikschildern, die dann ein Riesenbild ergeben, haben sie ja von den Spartakiaden ;o)

      Lustig finde ich ja die Ordner, die das ganze Spiel über die Tribüne beobachten müssen und sich nicht umdrehen dürfen. Das erfordert Selbstdisziplin: du warst im Stadion, hast aber das Spiel nicht gesehen.

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