Mittwoch, 25. Mai 2016

Triest I

„Honi soit qui mal y pense.“ (Ein Schelm, wer Böses dabei denkt)
An meinem dreißigsten Geburtstag beschloss ich, mein Leben zu ändern, und zog nach Triest. Warum Triest? Wenn es mich schon nach Italien verschlagen würde, warum nicht Florenz, Rom, Neapel oder das nahe Venedig? Weil ich an einem 14. August geboren wurde. Und als ich einmal beschlossen habe, meinen Wohnsitz zu wechseln, ließ ich den Zufall entscheiden. Im Ortsverzeichnis meines alten Schulatlas blätterte ich auf die vierzehnte Seite und nahm den achten Ort: Triest.
Dieses Vorgehen mag dem Leser wenig ernsthaft erscheinen, aber ich bin von Beruf Schelm. Schelm bedeutete ursprünglich Aas und Seuche. Es wurde als Schimpfwort benutzt, Betrüger wurden mit diesem Wort gebrandmarkt. Im Hochmittelalter wurde das Wort zu einem ritterlichen Beinamen geadelt und bedeutete „Todbringer“. Im Spätmittelalter wurden die Scharfrichter als Schelme bezeichnet. Wurde ein Mensch, der nicht diesem geächteten Berufsstand angehörte, als Schelm bezeichnet, galt es bis ins 17. Jahrhundert als schwere Beleidigung und war strafbar. Erst später, als der Schelmenroman aufkam (z.B. Felix Krull, Schwejk, Forrest Gump), wurde aus dem Schelm ein Witzbold, aus der Beleidigung eine Auszeichnung – zumindest für manchen Lebenskünstler.
Ich mietete eine günstige kleine Wohnung im ersten Stock über einer Bäckerei. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Bett, eine Kommode und ein Sessel in einem Raum mit Blick auf den Innenhof. Es roch herrlich nach frischem Brot und Kuchen. Die ersten Wochen verbrachte ich mit langen Spaziergängen. Ich lernte die Stadt kennen, trieb mich am Hafen herum und saß stundenlang in Kaffeehäusern und Bars. Alles war neu und aufregend. Ich beobachtete die Leute. Und so kam ich auf die Idee für mein erstes Projekt.
Der Mann trug einen auffälligen fliederfarbenen Anzug und ein schwarzes Hemd. Ich hatte mir gerade ein Eis geholt und schlenderte über die große Piazza am Hafen, als ich ihn sah. Fasziniert sah ich ihm nach, wie er elegant, ruhig und erhobenen Hauptes den Platz überquerte. Er war über fünfzig und hatte schwarzes, glatt nach hinten gekämmtes Haar. Wer war er? Was er wohl machte? Ich war einfach neugierig und so beschloss ich, ihm nachzugehen.
Der Mann ging in die Via Armando Diaz und bog dann nach links ab. Es ging vorbei an der Rotonda Pancera und kurz darauf verschwand er in einem schmalen Durchgang auf der rechten Seite. Ein Auto hätte ihm unmöglich folgen können, aber ich blieb hinter ihm. Kurz darauf blieb er vor einem Haus stehen und klingelte. Hätte er die Tür aufgeschlossen, wäre ich weitergegangen. Es wäre zwecklos gewesen, auf der Straße zu warten, wenn er in diesem Haus gewohnt hätte. Ich wartete eine Viertelstunde und wollte gerade gehen, weil mir langweilig wurde, als er wieder auf den Bürgersteig trat. Er hatte einen Aktenkoffer in der Hand.
Er ging durch die Gassen dieses Viertels wieder zurück in Richtung Meer. An der Hauptstraße, die am Hafen entlang führte, ging der Mann nach links und betrat bald darauf die Osteria „Istriano“. Es war zu diesem Zeitpunkt einiges los und ich beschloss, mich an einen Tisch zu setzen, von dem aus ich den Mann mit dem Koffer beobachten konnte.
Er bestellte ein Glas Weißwein und starrte aus dem Fenster. Einige Minuten später setzte sich ein anderer Mann zu ihm an den Tisch. Sie sprachen eine Weile miteinander. Dann stand der Mann im fliederfarbenen Anzug auf und ging hinaus. Den Koffer hatte er unter dem Tisch stehengelassen. Was sollte ich tun? Dem Koffer folgen oder dem Mann? Ich beschloss, meinen Kaffee auszutrinken und dem Koffer zu folgen.
Aber ich wurde enttäuscht. Wenig später verließ der Mann mit dem Koffer das Lokal, ein Mercedes hielt am Straßenrand, er stieg ein und verschwand.
Ich schlenderte zur großen Piazza zurück. Ich hatte Spaß an diesem Spiel gefunden und bald darauf folgte ich meinem nächsten Opfer. Ein dicker Mann mit maisblonden Haaren. Er lief über den Platz und bog nach links zum Neptunbrunnen ab. Eine Stunde folgte ich ihm kreuz und quer durch die Stadt. Er machte Fotos und schaute immer wieder in ein kleines Buch. Offenbar ein Tourist, der mit seinem Reiseführer in der Hand die Stadt erkundete. Als er schließlich in ein McDonald’s-Restaurant ging, brach ich für diesen Tag meine Tour ab und ging nach Hause. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch, um mir ein paar Notizen zu machen. Als ich in den Hof hinunterblickte, sah ich dort überraschenderweise den Mann in dem fliederfarbenen Anzug wieder. Er blickte sich um und verschwand kurz darauf. Merkwürdiger Zufall.
Am nächsten Morgen lief ich gleich dem erstbesten Mann hinterher, der mir an der Haustür entgegenkam. Frauen wollte ich lieber nicht folgen, weil sie womöglich einen falschen Eindruck von meinen Absichten hätten, falls sie mich entdeckten. Aber der Mann, dem ich im Abstand von etwa zwanzig Meter hinterher ging, verschwand bald darauf in einem Gebäude der Assicurazioni Generali. Ein Mensch auf dem Weg zur Arbeit – wie banal.
Ich drehte mich um und ging einfach dem nächsten Mann hinterher. Auf der anderen Straßenseite fiel mir ein anderer Mann auf. Es ging eine Viertelstunde durch kleine Straßen und Gassen. Wir kamen am Joyce-Denkmal vorbei. Ich merkte bald, dass ich ebenfalls verfolgt wurde. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Also gab ich die Verfolgung des Fremden auf und ging meiner eigenen Wege. Immer, wenn ich an einem Schaufenster oder der Speisekarte eines Restaurants stehenblieb, konnte ich ihn aus den Augenwinkeln sehen. Er folgte mir tatsächlich. Wieso?
Das konnte ich leicht herausfinden. Ich bog um eine Ecke und stellte mich in einen Hauseingang. Nach ein paar Augenblicken ging er an mir vorüber. Ich zog ihn in den Hauseingang und presste ihn gegen die Tür.
Sein Gesicht war schweinchenrosa und hässlich, über den tiefliegenden Augenbrauen hatte er eine riesige runde Stirn, die aussah wie eine Arschbacke.
„Was wollen Sie von mir?“
„Nichts. Wer sind Sie überhaupt?“
Ich schlug ihm ins Gesicht. „Falsche Antwort. Wer sind Sie und warum folgen Sie mir?“
„Ich folge Ihnen nicht. Das ist nur ein Zufall.“
Ich schlug noch einmal zu. Diesmal nicht mit der flachen Hand. Voll in die Familienjuwelen.
„Bitte, hören Sie auf! Ich habe Ihnen doch nichts getan.“
„Wer ist Ihr Auftraggeber?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Der Mann bringt mich um.“
Da ging mir ein Licht auf. „Der Typ mit dem fliederfarbenen Anzug?“
Schüchtern nickte die Arschbacke.
„Richten Sie ihm aus, dass ich ihn nicht mehr verfolgen werde. Ich habe nur gespielt. Bin einfach einem Menschen hinterhergelaufen so wie heute Morgen. Sie haben es ja gesehen. Vergessen wir die ganze Sache.“
Er litt offensichtlich unter Stressinkontinenz, was mir als wortloses Einverständnis genügte.
Dann ging ich weiter. Nachdem ich überzeugt war, nicht mehr verfolgt zu werden, checkte ich sicherheitshalber in einem Hotel ein und blieb dort zwei Tage und zwei Nächte. Ich brauchte ein neues Spiel, so viel stand fest.
The Cranberries - Ode To My Family. https://www.youtube.com/watch?v=Zz-DJr1Qs54

1 Kommentar:

  1. Erst stalkst du fremde Leute und dann schlägst du auch noch einfach zu, weil jemand das auch macht?
    Und bloggst dann auch noch drüber, als wär das irgendwie cool?
    Widerlich!

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