Montag, 31. August 2015

Wir machen Politik

„Standing on a street corner waiting for no one is power.” (Gregory Corso)
Es ist Sommer und wir sitzen im Park. Du studierst Romanistik, ich Soziologie. Wir sind beide im ersten Semester. Gerade Zuhause ausgezogen. Wir diskutieren über Politik. Wir haben Ideen, wir wollen was verändern, wir wollen was machen. Da sind andere junge Leute im Park. Schließlich ist es eine ganze Gruppe, die über Politik diskutiert. Wir sind begeistert, und wir haben das Gefühl, gemeinsam etwas erreichen zu können. Da gibt es diese neue Partei, über die jetzt gerade so viel in den Medien berichtet wird. Wir beschließen, zusammen zum nächsten Treffen dieser Partei in unserer Stadt zu gehen.
Tatsächlich sind fünf von uns beim Treffen dieser Ortsgruppe. Es sind fast alles junge Leute, nur wenige sind älter. Aber wir fühlen uns wohl. Die Leute denken genauso wie wir. Sie wollen etwas verändern, sie erkennen dieselben Schwachstellen. Unsere Ideen passen zueinander. Alles ist etwas chaotisch, aber das finden wir gut. Das Treffen ist im Wohnzimmer einer WG. Wer möchte, hat sich etwas zu essen und zu trinken mitgebracht. Thermoskannen mit Tee, Dinkelbrot und Obst.
Es gibt keine Tagesordnung. Wir wollen einfach unsere Ideen sammeln. Mit Klebeband werden lange Papierbahnen an die Wand geheftet, die mit Filzstift beschrieben werden. Wir haben bereits vorher einige unserer Ideen aus dem Park notiert, die einer von uns vorträgt. Es gibt Menschen, die können in der Gruppe reden, und andere, die den Mund nicht aufbekommen. Jeder hat Ideen, aber die einen können einen geschliffenen Monolog halten, während andere – wie ich – zu schüchtern sind. Aber es wird alles aufgeschrieben.
Die Papierbahnen werden fotografiert. Drei Leute, die von der Parteiversammlung dazu bestimmt wurden, machen eine Zusammenfassung. Ein kurzes Protokoll der Sitzung. Das wird zusammen mit den Fotos an alle Teilnehmer geschickt und am Anfang der nächsten Sitzung besprochen. Auf diese Weise fassen wir unsere gemeinsamen Ideen zu einem einzigen Text zusammen, ohne dass etwas verloren geht. Über den Text diskutieren wir bei den nächsten Treffen der Ortsgruppe.
In der großen Stadt weit weg ist die Parteizentrale. Hier arbeiten die Leute, die besonders gut in der Gruppe reden können. Ich gehöre nicht dazu, aber ich würde mich in dieser Rolle auch nicht wohl fühlen. Meine Ideen sind ja Teil der Parteiarbeit. Ich finde sie im Programm der Partei wieder. Auf Seite 37 zum Beispiel. Ich habe meinen Anteil geleistet und werbe an der Universität für meine Partei. Es sind bald Wahlen zum Parlament.
Wir haben es geschafft! Wir sind tatsächlich ins Parlament gewählt worden. Sieben Abgeordnete unserer jungen Partei sind in der Hauptstadt und können dort hauptberuflich unsere Ideen umsetzen. Wir sitzen wieder im Park und feiern mit Rotwein unseren Sieg. In dieser Nacht sind wir glücklich, wir können etwas bewegen in diesem Land. Wir machen Politik. Wir reden nicht nur darüber. Unser monatelanges Engagement hat Früchte getragen. Ich rufe meine Eltern an, denn an diesem Tag bin ich stolz auf meine politische Arbeit.
Unsere Abgeordneten tragen im Parlament unsere Ideen vor. Sie haben nicht allzu viel Redezeit, aber unsere Ideen werden verbreitet. Die Regierungsbank ist leer und im Plenarsaal sitzen nur wenige Abgeordnete, die hauptsächlich mit ihren Smartphones beschäftigt sind. Unsere Ideen landen im Protokoll des Parlaments, das nie jemand lesen wird. Hier enden meine Ideen. Die Ideen der anderen. Und die Regierung beschließt die Gesetze. So machen wir in unserem Land Politik.
Mother's Finest - Baby Love. https://www.youtube.com/watch?v=H4520hkB0vM

1 Kommentar:

  1. Das ist ganz richtig, und schön aufgeschrieben noch dazu.
    Jenseits der Phänomenologie:
    Das kommt vielleicht davon, wenn die normalen Leute miteinander reden, statt sich die Funktion der Parteien in unseren blühenden Landschaften klarzumachen. Zugegeben, ein ganz enorm abwegiges Interesse.

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