Sonntag, 2. November 2014

Ödland, Kapitel 3

Die Liebe hat man mir genommen. Kerstin ist tot. Ich spüre, dass ich mich nicht mehr verlieben werde. Es wird keine Frau mehr geben, der ich vertrauen kann und die zu mir steht. Keinen zärtlichen Kuss mehr, den ich um meiner selbst willen geschenkt bekomme. Niemand wird mich mehr verliebt streicheln, bestenfalls aus Mitleid. Kein Blick wird versuchen, meine dunklen Augen zu durchdringen. Keine Fragen mehr, deren Antwort in das Leben eines anderen Menschen einwirkt. Kein Körper, den ich sanft umfasse, um eine verletzte Seele zu trösten. Nichts, niemand mehr. Es bleiben die Musik und der Rausch. Die Musik hat mein Leben gerettet. Sie erregt mich, sie redet mit mir. Sie fordert meine Anteilnahme, seien es meine Empfindungen oder meine Stellungnahme. Die Akkorde reißen mich mit oder rühren mich, die Texte machen mich melancholisch oder wütend. Ihr bloßer Konsum erschöpft nur, denn er ist der Bruder der Langeweile. Aber wenn du dich in die Stücke verlierst, gewinnst du viele Ideen und lernst neue Menschen kennen, mit denen du dich im Geiste unterhälst.
Zu den Rauschmitteln möchte ich nicht viel sagen. In Hesses „Steppenwolf“ wird durchgängig gesoffen, Kokain und Opium genommen. Ich beschränke mich auf die Vernichtung meines Weinkellers, den ich im Laufe der Jahrzehnte angelegt habe und dessen Vererbung in Ermangelung eines Erben keinen Sinn machen würde. Viele edle und alte Weine sind ohnehin nicht mehr genießbar, aber ich finde noch genügend trinkbare Tropfen. Wo sollte ein alter Mann wie ich auch plötzlich Kokain oder Haschisch her bekommen? Ich kenne niemanden mehr in dieser „Szene“. Und wenn ich jetzt an Bahnhöfen großer Städte herumschleichen würde, um mir solche Substanzen anzueignen, würde man mich sicherlich für einen Beamten des Rauschgiftdezernats halten.
Von Zeit zu Zeit male ich ein wenig. Den perfekten Zustand für diese Arbeit erreiche ich nach einem weinseligen Abend, wenn ich statt der üblichen ein bis zwei tatsächlich drei Flaschen Wein getrunken habe. Langsam und regelmäßig, ab dem Spätnachmittag, bis in die Nacht. Langsam und regelmäßig, das ist das Geheimnis des Trinkens. Sonst ist der Morgen danach mörderisch. Und wenn ich dann endlich aufgewacht bin, esse ich erst etwas deftiges, Buletten mit Gewürzgurken oder Pizza, dann trinke ich ein, zwei Gläser Rotwein und setze mich sodann an die Staffelei. Für den Rest des Vormittags und eine Skizze reicht dieser Treibstoff, der wiederbelebte Restalkohol des vorigen Tages; mehr brauche ich nicht. Es folgt ein gemütliches Nickerchen, aus dem ich dann später endgültig nüchtern aufwache.
Wein ist ein natürliches Aufputschmittel. Ich sehe die Welt in rosigen Farben und begebe mich auf ausgedehnte Reisen in die Vergangenheit. Nicht in die Vergangenheit meines Berufslebens, sondern weiter zurück. Ich erlebe die Zeiten meiner Jugend wieder. Kaugummi-Automaten mithilfe von Feuerwerkskörpern öffnen, später Zigarettenautomaten. Ich habe nie Erfolg damit gehabt. Dann schon eher mit der Gentleman-Methode. Von einer London-Reise habe ich zum Beispiel viele Schilling-Münzen mitgebracht. In den siebziger Jahren hatte ein Schilling noch den Umfang und das Gewicht von einer D-Mark-Münze – aber sie war viel weniger wert. Allerdings hatte die britische Regierung, die Bank of England oder wer auch immer irgendwann die Schilling-Münze zugunsten der Five-Pence-Münze in den Orkus der Geschichte befohlen. Also hatte ich auf den Bürgersteigen Londons gute Schilling- von schlechten Five-Pence-Münzen zu trennen – ohne übrigens auch nur einmal misstrauisch betrachtet zu werden angesichts meiner obskuren Sortiertätigkeit. Am Ende hatte ich genug Münzen, einen fetten Beutel voll, um in Deutschland einige Automaten mit Fremdwährung zu leeren. Bei meiner Party zum 18. Geburtstag habe ich die Zigaretten dann verkauft. Für zwei statt für drei DM, ein Gewinn für jeden Partygast – und für mich. Damit habe ich mir meinen ersten England-Trip selbst verdient. Und die Lokalpresse schrieb Wochen später angesichts der großangelegten Plünderaktion in meiner Kleinstadt, die in einer Nacht sämtliche Camel-, Marlboro- und Benson&Hedges-Schächte geleert bekam, von einem „Gentleman-Verbrecher“, da die Automaten doch ausnahmsweise unversehrt geblieben sind.
Später dann junge Männer in kleinen Automobilen, die dennoch gefahren wurden wie Formel 1-Boliden. Der betäubende Lärm der Musik, das wahnsinnige Gelächter, die vorbeifliegenden Orte. Als kurze Blicke der Verständigung ausreichten. Und wir kurz darauf an Orten unglaublichen Lärms auftauchten, Diskotheken wie das „Revolution No. 9“ oder „Strange Machine“. Ich glaube, sie hießen wirklich so. Jedenfalls bin ich mir so sicher, wie man sicher sein kann, wenn es um Orte geht, die man nie auch nur annähernd nüchtern erreicht hat. Heute kann ich mit Billy Idol singen: „I’m dancing with myself“. Und das tue ich wirklich, auch wenn alte Menschen lächerlich sind, die vor der Stereoanlage tanzen.

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