Lilli hieß eigentlich gar nicht Lilli, aber Paul nannte sie so. Paul wohnte mit seinen Eltern in einem kleinen Haus weit draußen vor der Stadt. Vom Fenster seines Zimmers blickte er auf den Garten. Er reichte bis zu einem Bach, der sich am Rand des Dorfes zwischen ein paar uralten Weiden hindurch schlängelte. Draußen war es jetzt furchtbar kalt, die Bäume hatten längst ihre letzten Blätter verloren. Sie waren ganz schwarz geworden und das Wasser des Baches hatte die Farbe von Beton. Paul mochte den nasskalten Herbst nicht, also blieb er in seinem Zimmer und spielte mit Lilli. Lilli war eine kleine Maus, genauer gesagt ein Mäusekind. Pauls Mutter hatte es gefunden, als sie das Gemüsebeet umgegraben hatte. Es war zu schwach gewesen, um mit seinen Eltern und Geschwistern davon zu laufen, also hatte sie es mit ins Haus genommen, mit ein wenig Milch gefüttert und Paul gegeben.
Wenn Lilli alleine war, saß sie oft am Fenster und sah in den Garten und in die Welt hinaus. Und wenn man ganz genau hinhörte, vernahm man ein leises Pfeifen. Paul hatte Lilli einmal beobachtet, als sie so am Fenster saß, und sie hatte traurig ausgesehen. Aber Paul wusste nicht, warum Lilli traurig war. Es fiel ihm kein Grund ein, so angestrengt er auch darüber nach dachte. Lilli hatte doch alles: ein kleines Zimmer in der Schublade von Pauls Schreibtisch, ein Bettchen aus Watte und ein Taschentuch als Decke. Paul liebte Lilli über alles, sie war seine beste Freundin. Wenn sie zusammen spielten, war Lilli immer lustig und hatte Paul aus lauter Übermut sogar schon einmal in den Finger gebissen. Aber nachts, wenn Paul schlief, pfiff Lilli leise in ihrer Schublade und hob zitternd ihr winziges Näschen, als ob sie einen fernen Geruch suchen würde.
Eines Morgens erwachte Paul und spürte, dass etwas anders war. War es das Licht? War es im Zimmer nicht heller als am Tag zuvor? Paul sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Über Nacht hatte es geschneit, der ganze Garten war weiß verhüllt. Die Sonne schien und die Eiskristalle funkelten wie die Sterne am Himmel. Paul war begeistert, denn er fand Schnee einfach großartig. Schlitten fahren, Schneemänner bauen, Schneeballschlachten - der Winter war seine Jahreszeit! Er hob Lilli vorsichtig aus ihrem Bettchen und zeigte ihr die weiße Pracht. Sie pfiff leise und diesmal wirkte es gar nicht traurig. Schnell hatte Paul sich angezogen und rannte mit Lilli in den Garten hinaus. Der Bach war gefroren, aber Paul traute sich nicht auf das Eis. Lilli war unruhig geworden und er setzte sie ab. Kaum hatte sie den Boden berührt, da rannte sie blitzschnell über das Eis auf die andere Seite des Baches und war verschwunden. Was sollte Paul jetzt tun? Vorsichtig tapste er hinter ihr her, aber sie war nirgends zu sehen. Es war ganz leise, so als ob der viele Schnee alle Geräusche verschlucken würde. Paul hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Da hörte er ein Pfeifen. Vorsichtig ging er ein paar Schritte und lauschte wieder. Ja, ein Pfeifen. Noch ein paar Schritte. Er teilte die herab hängenden Zweige einer Weide und dort sah er sie: Lilli hatte ihre Familie wieder gefunden und saß mit ihr zusammen. Paul hatte das Gefühl, als ob alle Mäuse des Waldes zusammen ein Lied pfiffen.
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