Mittwoch, 2. Dezember 2009

Weihnachten im Brunnenviertel


Viktor hatte sicherlich schon zehn Mal alle Taschen seiner Jacke und seiner Hose durchsucht, doch das Geld blieb verschwunden. Er ging noch einmal die Brunnenstraße hinunter und bog in die Usedomer Straße ein, wo er mit seiner Mutter wohnte. Die vierzig Euro waren einfach weg und falls sie ihm aus der Tasche gefallen waren, hatte sicher längst ein anderer Mensch das Geld aufgehoben und eingesteckt. Wie sollte er denn jetzt das Weihnachtsgeschenk für seine Mutter kaufen? Das Geld hatte er sich in den letzten zwei Monaten bei der alten Frau Kramer verdient, für die er einkaufen gegangen war. Davon wollte er die Bernsteinkette kaufen, die seine Mutter in der Auslage eines Geschäfts im Gesundbrunnencenter entdeckt hatte. Ihr Augen hatten geleuchtet, als sie ihm von der Kette erzählt hatte. Aber mit ihrem Supermarktjob war an solche Luxusgüter nicht zu denken.

Viktor ging ziellos durch die Straßen des Viertels und kam am Diesterweg-Gymnasium vorbei, auf das er seit diesem Sommer ging. Es musste doch eine Möglichkeit geben, an die Kette zu kommen, dachte er. Es war dunkel geworden und als er vor der strahlenden Pracht des Einkaufszentrums stand, war ihm immer noch nichts eingefallen. Übermorgen war Heiligabend. Was tun? Er fuhr mit der Rolltreppe in die erste Etage und schaute sich die Kette an. Aus den Lautsprechern quollen Weihnachtsmelodien, lächelnde Menschen trugen Einkaufstütenbündel zum Ausgang. Sollte er das Geschäft betreten? Und dann? Die Kette stehlen? Diebesgut unter die Tannenäste legen, die seine Mutter zur Weihnachtszeit in eine Vase stellte? Das ging nicht. Er konnte sich das Geld auch nirgendwo leihen. Also ging er wieder hinaus in die Kälte und spazierte über die Millionenbrücke zurück in seinen Kiez.

Mit gesenktem Kopf ging er durch den Gleimtunnel und dann in den Mauerpark. Hier waren alles Leben und alle Lichter weit weg. Viktor kämpfte mit den Tränen und war sich nicht sicher, ob er gewinnen würde. Da sah er etwas an einem Baum glitzern. Ein dünner Lichstrahl wies direkt auf einen Birkenzweig, an dem Lametta und ein Holzengelchen hingen. Er trat näher und sah, dass eine Stofftüte an einem der anderen Äste baumelte. Vorsichtig nahm er die Tüte und blickte hinein. Die Bernsteinkette, die er seiner Mutter kaufen wollte! Er konnte sein Glück kaum fassen und blickte sich um, aber es war niemand zu sehen. Hinter einem dichten Gebüsch verborgen beobachtete Gleimi, der Kobold, der unter dem Tunnel hauste, die Szene und nickte zufrieden. Sein roter Anzug und die Mütze mit dem weißen Bommel standen ihm ausgezeichnet.

1 Kommentar:

  1. Falls in diesem Lesebuch für die gehobene 4. Klasse mal ein Slogan gebraucht wird: Kiez ist lieb!

    Prost! :)

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