Donnerstag, 11. Juni 2009

Brunnenkiez-Krimi Nr. 6


Hätte Mardo sich schuldig fühlen sollen? Aber Eifersucht bildet nun einmal die Geschäftsgrundlage eines Privatdetektivs. Oder ist das Lesepublikum an allem Schuld, ein Publikum, das nach realistischer Darstellung verlangt? Vielleicht war es ein einzelner Leserbrief, der den Schriftsteller zu diesem ungewöhnlichen Schritt veranlasst hatte? Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass man sich diese Fragen erst stellt, wenn alles vorbei und wenn alles zu spät ist. Mardo dachte vermutlich an ganz einfache Dinge wie Geld oder an Dinge, die man sich mit Geld kaufen konnte, als Enrico Lauchhobel eines Nachmittags sein Büro betrat.

Lauchhobel stammte aus dem Erzgebirge und hatte es mit dem "Content Grill", einer Medienagentur in Mitte, zu bescheidenem Wohlstand gebracht. In seiner Freizeit schrieb er Kriminalromane, die er in einem kleinen Zuschussverlag veröffentlichen ließ. Und weil es entweder ihm oder einem Leser an Realismus mangelte, beschloss der Autor, einen Privatdetektiv aufzusuchen. Womöglich hatte er sich einfach die nächstbeste Detektei aus den Gelben Seiten gesucht, denn seine Agentur am Rosenthaler Platz war nicht allzu weit von Mardos Büro im Brunnenviertel entfernt. Sicherlich spielte auch Lauchhobels mangelnde Phantasie eine besondere Rolle in dem Fall, denn als Mardo seinen Gast nach einem konkreten Auftrag fragte, nannte er spontan den Namen seiner Lebensgefährtin: Amanda Lobesang. Und der Ausdruck "Lebensgefährtin" kommt bekanntlich von "Lebensgefahr".

"Verstehe ich Sie richtig? Sie haben keine konrekten Verdachtsmomente und möchten trotzdem Frau Lobesang obersvieren lassen?" Mardo kratzte sich hinter dem linken Ohr.
"Ja, ich möchte einfach wissen, wie der Arbeitsalltag eines Privatdetektivs aussieht. Deswegen wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ein ausführliches Protokoll über Ihren Einsatz schreiben könnten. Anschließend können wir uns ja dann noch einmal über fachliche Details unterhalten, ich zahle gerne etwas mehr als das übliche Honorar." Lauchhobel war einer dieser permanent energiegeladenen und schwerbegeisterten Geschäftsleute, die Mardo schon immer gehasst hatte. "Tragen Sie zum Beispiel eine Waffe?" fragte er mit neugierigem Lächeln.
"Nein", antwortete Mardo. "Ich glaube, der wirkliche Alltag eines Privatdetektivs wäre für Ihre Leser uninteressant. Zu viele belegte Brötchen aus zweiter Hand, zu viele dunkle Fenster und geschlossene Türen."
"Genau das brauche ich für mein nächstes Buch. Und Lokalkolorit. Die Gegend hier ist so herrlich morbid." Lauchhobel hatte die unangenehme Eigenschaft, mit beiden Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen in die Luft zu malen, wenn er einen Begriff besonders betonen wollte. "Morbid" zum Beispiel. Mardo fielen die Hände seines Kunden auf: Sie waren groß, weiß und vollkommen unbehaart. Auf den ersten Blick wirkten sie wie Handschuhe.
Während Lauchhobel weitersprach und sichtlich die Situation genoss, mit einem waschechten Privatdetektiv in dessen Büro zu sitzen, fragte sich Mardo, warum sein Kiez einen so merkwürdigen Eindruck auf Lauchhobel machte. Hinter einem Riegel architektonischer Nüchternheit an der Brunnenstraße verborgen gab es schöne helle Altbauten und große Bäume, in denen der Wind rauschte. Alles in allem nicht übel – aber er wusste nicht, wo Lauchhobel wohnte.
"Vielleicht kann ich Sie ja begleiten, als eine Art ‚Hilfssheriff‘." Da waren wieder die Anführungszeichen. Mardo unterdrückte das wachsende Verlangen nach schwerer Körperverletzung und versuchte, sich auf den Inhalt des Gesprächs zu konzentrieren. Keine leichte Aufgabe angesichts der krähenden Eitelkeit seines Gegenübers.
"Das erlaubt unsere Berufsordnung leider nicht", log Mardo, ohne rot zu werden. "Außerdem widerspricht es meinen Erfahrungen. ‚Besser seinen Weg allein gehen als in schlechter Begleitung‘, heißt es in einem spanischen Sprichwort." Einen Augenblick lang dachte er daran, Lauchhobels Geste zu kopieren, fürchtete jedoch, sie dann nie wieder loswerden zu können. Er konnte in diesem Job keine Hilfe und keine Kollegen gebrauchen, Pestbeulen wie Lauchhobel schon gar nicht.

"Ist das meins?" fragte die Bäckereiverkäuferin und deutete auf das Zwei-Euro-Stück in der durchsichtigen Plastikschale auf dem Verkaufstresen.
"Jetzt schon", antwortete Mardo grinsend und nahm das Mozarellabrötchen und die Rosinenschnecke in Empfang.
Es war kurz vor Ausbruch eines heftigen Gewitters und die Hungrigen belagerten die "Kornblume" in Doppelreihen. Wenig später ging Mardo, ausgestattet mit der Zuversicht eines satten Menschen, der gerade fünfhundert Euro Vorschuss für eine dreitägige Observierung kassiert hatte, hinaus auf die Straße, deren feuchter Asphalt in der Junisonne dampfte. Zunächst wollte er sich Wohnort und Arbeitsplatz von Amanda Lobesang anschauen.
Mit der U 9 fuhr er bis zum Ku’damm. Trotz der Hitze trug eine ältere Frau in seinem Wagen einen langen hellgrauen Mantel. Als sie an ihm vorüberging, sah er, dass sie in Großbuchstaben einen Appell zur Rettung der Wale auf ihren Rücken geschrieben hatte. Das erinnerte ihn an die ältere Dame, die ihm einmal an der Gedächtniskirche bei Minustemperaturen zugeraunt hatte: "Gib’s auf! Es hat alles keinen Sinn." Noch schlimmer sind eigentlich nur noch die greisen Krawallschachteln, die jeden anpöbeln oder einfach nur vor sich hingrummeln. Alten Frauen gegenüber fühlte sich Mardo immer hilflos, denn jeder argumentative Widerstand war völlig zwecklos. Und die Wale konnte er sowieso nicht retten, er konnte ja noch nicht mal schwimmen. Vielleicht sollte er wieder zum monatlichen "Stammtisch gegen Rechts" in die "Rote Laterne" am Vinetaplatz gehen? Aber er hatte am frühen Morgen schon die Aktion "Duschen für den Frieden" hinter sich gebracht, gefolgt von "Marmeladenbrot gegen Atomkraft" und "Kaffee für ein freies Tibet".
Auf dem Ku’damm ging es mit dem Bus weiter in Richtung Grunewald. Lauchhobel war für ein paar Tage verreist, um sein neues Underground-Magazin "Russen-Transe" einigen Verlagen in Hamburg und Köln vorzustellen. Die Villa in der Winklerstraße, in der er mit seiner Lebensgefährtin eine großzügige Eigentumswohnung besaß, war schneeweiß, mit Stuck verziert und von griechischen Götterstatuen eingerahmt. Mardo war nicht neidisch. In Berlin gibt es die Stadtteile der Herren und die Stadtteile der Knechte. Mardo hatte nie Illusionen darüber gehabt, wo er wohnte und wohin er immer gehören würde. Er sah sich ein bißchen um. Es gab nur wenige Läden und sie schienen kaum etwas nützliches anbieten zu können. Hier im goldenen Westen laufen die Geschäfte ganz einfach: ein schräger bis witziger Name, edle Einrichtung, ein paar diensteifrige und devote Angestellte (UdK-Abschluss erwünscht) – schon verkauft sich jede Bratpfanne als Designermodell zum doppelten Preis, im Vergleich zum Wedding zum dreifachen.

"Alois Handschuhmacher? Dieser Knilch aus Bayern?" Lauchhobel rang mühsam mit seiner Fassung, Schweiß glitzerte auf seinen Schläfen. "Das ist doch total lächerlich."
Mardo kannte die Situation nur zu gut. Als Detektiv musste man in dieser Phase ganz ruhig bleiben, irgendwann würde die Ungläubigkeit seines Kunden in Zorn umschlagen. Jedem Ehemann ging es so. Warum kam er zu Mardo? Weil er einen Verdacht hatte. Aber in diesem Falle war es etwas besonderes: Alles war nur ein Spiel gewesen. Lauchhobel hatte einfach einen Namen genannt, es hätte jeder aus seinem Umfeld sein können.
Mardo holte die Fotos aus dem Umschlag und breitete sie vor seinem Kunden aus. Amanda Lobesang betritt gemeinsam mit einem Mann das Haus, erst am nächsten Morgen verlassen sie es wieder, diesmal getrennt. Mardo hatte sich Marys Toyota ausgeliehen und saß, etwas von der Villa entfernt, am Steuer und futterte Bonbons in sich hinein, die Mary in den ansonsten unbenutzten Aschenbecher gelegt hatte. Mardo hatte das heimliche Liebespaar auch am nächsten Tag unauffällig begleitet, als sie in einer beliebten Osteria in der Kreuzbergstraße ein opulentes Abendessen, sicher auf Firmenspesen, genossen, während Mardo schnell bei "Curry 36" am Mehringdamm vorbeifuhr, um im Stehen eine Wurst zu verdrücken. Er wartete auch brav vor einer Cocktailbar am Winterfeldtplatz, schließlich war das sein Job.
"Diese verdammte Schlampe!" Phase 2: Der Kunde realisiert die Fakten und bereitet sich auf Phase 3 vor. Phase 3 sind die Konsequenzen und in Phase 3 verschickt man als Detektiv eine Rechnung und hofft, aus dem Fall noch ein paar Euro rauskitzeln zu können.

Aber zu Phase 3 war es nie gekommen. Kommissar Leber erzählte ihm den Rest im "Revolution No. 9", einer kleinen Bar im Brunnenviertel. Natürlich würde er noch im LKA in der Keithstraße vorbeischauen müssen, um seine Aussage zu Protokoll zu geben. Lauchhobel hatte Amanda Lobesang noch am selben Tag erwürgt, an dem er aus Mardos Büro in der Ramlerstraße gestürmt war. Mit einer Gitarrensaite, was wiederum deutlich machte, dass Lauchhobel nicht nur literarisch, sondern auch musikalisch sehr kreativ sein konnte.
Hätte Mardo den Mord verhindern können? Hätte er Lauchhobel einfach etwas vorspielen sollen? Es wäre leicht gewesen, den Detektiv nur zu spielen. Aber Mardo spielte nicht gerne. Wäre er überhaupt glaubwürdig gewesen, wenn er sich nur gespielt hätte? Nachdenklich goß er das kleine Orangenbäumchen auf dem Fensterbrett. Auf diese Fragen würde er nie eine Antwort finden, und er wollte sie inzwischen auch gar nicht mehr suchen, denn er bekam Kopfschmerzen davon. "Dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück." (Gottfried Benn)

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