Montag, 7. September 2009

Die Anfänge des Brunnenviertels


Anfang des 18. Jahrhunderts floß die Panke noch weit außerhalb Berlins. Östlich des Flusses war der Boden fruchtbar und wurde für den Ackerbau genutzt, westlich von ihm war der Boden sandig und unfruchtbar. Die Fichtenwälder, die sich bis zur Jungfernheide hinzogen und nur durch Sümpfe und Fenne unterbrochen waren, fielen im Laufe der folgenden Jahrzehnte dem Holzhunger der wachsenden Großstadt zum Opfer: als Brennholz, Bauholz, und für den Bau einer Zollmauer aus Holzpallisaden (ab 1730 – von den 17 Toren dieser Zollmauer ist nur noch das Brandenburger Tor erhalten). Mitte des 18. Jahrhunderts befahl der preussische König, Friedrich der Große, die Besiedlung des Gebiets. Die damalige Stadtgrenze zog sich vom Oranienburger Tor über das Hamburger Tor zum Rosenthaler Tor, entlang der heutigen Torstraße.

1749 ließ der König "Gericht, Galgen und Rabenstein" von der heutigen Bergstraße (Gegend des Stadtbads Mitte und des Zille-Parks) zum Gartenplatz verlegen. Dort, wo heute die Kirche Sankt Sebastian steht, war bis 1837 die "Scharfrichterei", der Richtplatz der Hauptstadt: Ein etwa zwei Meter hoher quadratischer Steinbau, auf dem ein dreifüßiger Galgen stand. Im Volksmund wurde er "Schindberg" oder "Teufels Lustgarten" genannt. Es war jedesmal ein großes Spektakel mit zehntausenden von Zuschauern und Imbissbuden. Der Geist einer hingerichteten Frau soll angeblich immer noch in der Kirche spuken, die man über dieser Richtstätte gebaut hat. Zehn Tage ließ man damals ihren Leichnam von Schaulustigen begaffen. Anfangs war die Richtstätte am Ort des heutigen Roten Rathauses in Mitte, später kam noch der Rabenstein hinzu, er lag in östlicher Richtung vor der Stadt. Heute ist dort der Strausberger Platz in Friedrichshain; Hans Kohlhase, Vorbild für Kleists Michael Kohlhaas, wurde dort gerädert.

So wurde Platz geschaffen für die ersten Kolonisten, die sich im Berliner Norden vor den Stadttoren ansiedelten. Die Panke blieb zunächst der Grenzfluss zwischen Berlin und dem "platten Land", dem Landkreis Barnim. Eine Straße, entlang der heutigen Bad- und Brunnenstraße, führte von Berlin zum neu eröffneten Gesundbrunnen. Die Quelle war seit 1748 bekannt (heute liegt sie hinter dem Gebäude Badstraße 39), Kureinrichtungen und Gartenanlagen entstanden. Ab 1752 wurden einfache Häuser entlang der Acker- und der Bergstraße, später entlang der Ufer- und der Wiesenstraße sowie am Ufer der Panke gebaut. Die Kolonisten waren arm, viele arbeiteten als Handwerker in der Stadt: Maurer, Zimmerleute, Garn- und Kattunweber, Blattbinder, Ziegelstreicher und Büchsenmacher. Ein Beispiel für die Bauweise der damaligen Zeit ist das Haus in der Koloniestraße 57, das 1784 erbaut wurde.

Preussen warb Kolonisten in anderen Ländern an, so gab es entsprechende Agenturen in Hamburg oder Frankfurt/Main, aber auch in Österreich oder Polen. 1725 waren ein Viertel aller Preussen zugewanderte Kolonisten aus anderen Ländern, Preussens Bevölkerung erhöhte sich von 1,4 Millionen (1688) auf 2,2 Millionen (1740). Die Kolonisten waren vom Militärdienst befreit und hatten das Recht der freien Heirat (damals keine Selbstverständlichkeit), sie bekamen das Land, das Baumaterial, Vieh und Ackergerät umsonst. Auch Steuern mussten sie zunächst nicht zahlen. Im heutigen Brunnenviertel siedelten sich zunächst Bauhandwerker aus dem Voigtland im Erzgebirge an, die Siedlung erhielt den Namen "Neu-Voigtland". Dazu kamen Gärtner aus der Schweiz und aus Böhmen, die den Boden urbar machen sollten, der nach Abholzung der Kiefernwälder zu versteppen drohte. Doch bald kamen auch andere arme Menschen in diese Gegend, um außerhalb der Stadtmauern Unterkunft zu finden: Tagelöhner und Bettler. Schon 1775 standen im entsprechenden amtlichen Verzeichnis neben 98 Grundstücksbesitzern bereits 220 Mieter, die in Nebengebäuden und Hinterhof für wenig Geld eine Wohnung fanden. 1803 lebten in 207 Häusern nun schon 3854 Menschen. In den folgenden Jahren hatten auch Diebesbanden hier ihren Schlupfwinkel, "Voigtland" wurde im Volksmund und in der Literatur zum Synonym für Armut und Verbrechen in Berlin. Hier bildete sich das erste Proletariat der Stadt, hier wollte man nicht hin, hier strandete man.
Im Jahre 1800 erfolgte die offizielle Umbenennung der Siedlung in "Rosenthaler Vorstadt" und die Straßen bekamen ihren heutigen Namen. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden erste Industrieansiedlungen: Leimsiedereien, Leder- und Dachpappenfabriken. Die Grundstücke wurden bereits gemischt genutzt, d.h. Wohnungen im Vorderhaus und Werkstätten und kleinere Fabriken in den Hinterhöfen. 1832 hatte die gesamte Rosenthaler Vorstadt 9647 Einwohner.
Das heutige Brunnenviertel gehörte halb zur Oranienburger Vorstadt (westlich der Brunnenstraße), halb zur Rosenthaler Vorstadt (östlich der Brunnenstraße).

Einige Fakten zum Leben zwischen 1750 und 1830:

Bedrohung durch Armut und Hunger: schon zwei schlechte Ernten hintereinander können eine Hungersnot auslösen, da die Lebensmittelknappheit zu Preisanstieg führte, z.B. 1771/72 in Sachsen und Süddeutschland. "Hungerkost": wildes Gemüse, Waldfrüchte, Gras. Zwangsarbeit und Zuchthaus für die Armen in den Städten.

Krankheiten: 1817 große Cholera-Epidemie. Situation verbessert sich durch Verbannung der Tiere aus dem Wohnbereich und die zunehmende Sauberkeit in den Häusern. Pest gibt es in Osteuropa noch im 18. Jhd., auf dem Balkan noch bis Mitte des 19. Jhd.

Feuersbrünste, Kriege, hohe Kindersterblichkeit. Lebenserwartung der Bauern: 30-40 Jahre, nur etwa die Hälfte erreicht das 20. Lebensjahr. Ärzte kann sich praktisch niemand leisten, die Reichen werden ca. 10 Jahre älter als die Armen.

Ernährung hauptsächlich vegetarisch. Steigende Bevölkerungszahlen erfordern es, Weideflächen zu Anbauflächen für Getreide usw. umzuwidmen. In erster Linie Weizen, aber auch Gerste, Hirse, Roggen und Hafer. Hülsenfrüchte als billige Eiweißquelle: Linsen, Bohnen, Erbsen. Gemüse: Kohl, Rüben. Ab dem späten 18., frühen 19. Jhd. Kartoffelanbau, der höhere Erträge pro Hektar bringt, setzt sich schnell als Hauptnahrungsmittel neben Brot durch. Weizen gilt jedoch als "Luxusgetreide" für die Reichen oder besondere Anlässe, die Armen begnügen sich mit zweitrangigen Sorten wie Hafer, Gerste und Roggen. Daraus wird nicht nur Brot gebacken, sondern auch dicke Suppen und Breikost (z.B. Grütze). Käse als billiges Eiweißprodukt ist ein beliebtes Volksnahrungsmittel.

Etat einer Maurerfamilie in Berlin um 1800: 72,7% für Ernährung, davon 44,2% für Brot, Miete 14,4%, Beleuchtung/Heizung 6,8%, Kleidung/sonstiges 6,4%. 1780 kostet eine Kalorie, die über Getreideverzehr zu sich genommen wird, elf mal weniger als eine Kalorie, die über Fleischverzehr zu sich genommen wird.

Fleisch: 1763 gibt es so wenig Ochsen in Berlin, dass der König befiehlt, jede Woche hundert Hirsche und zwanzig Wildschweine in die Stadt zu bringen. Lokaler Viehhandel in Preussen, aber auch Fernhandel mit Rindern aus Polen, Moldawien und der Walachei. Abnehmender Fleischverbrauch vom 15. Jhd. bis 1850 in Europa.

Gebäude: Häuser aus Ziegelsteinen lösen Häuser aus Holz, Lehm und Stroh ab (=> Brandgefahr). Arme Familien bewohnen nur ein Zimmer, der Hausrat (Strohsäcke, Tische, Stühle, Schrank/Truhe, Küchengeräte wie Kessel, Pfanne und Backtrog) lässt sich beim Umzug per Hand mitnehmen. Glasfenster (mit kleiner Scheibengröße und vielen Holzsprossen) gab es Ende des 18. Jhd. praktisch in jedem Haus, oft waren sie aber nicht zu öffnen.

Kleidung: Unterwäsche wenig verbreitet, häufige Hautkrankheiten wie Krätze und Räude. Flachs und Hanf als Faserstoff für Röcke, Kittel und Hosen, Wolle nicht ausreichend vorhanden. In der zweiten Hälfte des 18. Jhd. gehen Männer dazu über, Unterhosen zu tragen, die täglich gewechselt werden. Fehlende Hygiene als Problem, Mangel an Seife und Bademöglichkeiten.

Berlin hat 1783 141.283 Einwohner. Die Städte wachsen durch Zustrom der Landbevölkerung, nicht durch Geburtenüberschuss. Landproletariat wird zu Stadtproletariat, Kaufmannsaristokratie und Zünfte beherrschen die Städte.

Quellen:
Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, München 1985.
Gerhild H. M. Komander, Der Wedding, Berlin 2006.
Helmut Engel u.a. (Hg.), Wedding, Berlin 1990.

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