Donnerstag, 18. Juni 2015

Weltgeschichte

Die Weltgeschichte hat keinen Sinn. (…) In der Tat, es gibt keine Geschichte der Menschheit, es gibt nur eine unbegrenzte Anzahl von Geschichten, die alle möglichen Aspekte des menschlichen Lebens betreffen. Und eine von ihnen ist die Geschichte der politischen Macht. Sie wird zur Weltgeschichte erhoben. Aber das ist eine Beleidigung jeder sittlichen Auffassung von der Menschheit. Es ist kaum besser, als wenn man die Geschichte der Unterschlagung oder des Raubes oder des Giftmordes zur Geschichte der Menschheit machen wollte. Denn die Geschichte der Machtpolitik ist nichts anderes als die Geschichte der nationalen und internationalen Verbrechen und Massenmorde (einige Versuche zu ihrer Unterdrückung eingeschlossen). Diese Geschichte wird in der Schule gelehrt, und einige der größten Verbrecher werden als ihre Helden gefeiert. (…) Eine konkrete Geschichte der Menschheit – wenn es sie gäbe – müsste die Geschichte aller Menschen sein. Sie müsste die Geschichte aller menschlichen Hoffnungen, Kämpfe und Leiden sein. Denn kein Mensch ist wichtiger als irgendein anderer. (…) Aber warum wurde gerade die Geschichte der Macht und nicht zum Beispiel die Geschichte der Religion oder der Dichtkunst ausgewählt? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einer dieser Gründe ist, dass die Macht uns alle, die Dichtung aber nur wenige von uns beeinflusst. Ein anderer ist, dass die Menschen die Neigung haben, die Macht anzubeten. Aber es steht ohne jeden Zweifel fest, dass die Anbetung der Macht einer der übelsten Götzendienste der Menschheit ist, ein Denkmal der menschlichen Knechtschaft. (…) Ein dritter Grund dafür, dass die Machtpolitik zum Kern der ‚Geschichte‘ erhoben worden ist, liegt in der Tatsache, dass die Mächtigen es wünschen, angebetet zu werden und dass sie die Mittel besaßen, ihre Wünsche durchzusetzen. Viele Historiker schrieben im Auftrag und unter Aufsicht der Kaiser, der Generäle und der Diktatoren. (…) Das Leben des vergessenen, des unbekannten individuellen Menschen; seine Trauer, seine Freude, seine Leiden und sein Tod – sie sind der wirkliche Gehalt der menschlichen Erfahrung durch alle Zeiten.“
(Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2, Kapitel 25: Hat die Weltgeschichte einen Sinn?)

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