Samstag, 28. Februar 2015
Verkündung
Musik, bitte: https://www.youtube.com/watch?v=w5VlcHVDsJc
Ab Morgen bin ich auf Einladung der Katholischen Liga für sittliche Erneuerung in Berlin, damit dieser Augiasstall, dieser finstere Hort politischer Kompetenzsimulation und architektonischer Schwerverbrechen, endlich einmal gründlich ausgemistet wird. Davon wird zu berichten sein, wenn ich nach drei Medienfastenwochen wieder an einem Computer sitzen werde.
Auf vielfach geäußerten Wunsch einer linkintoleranten Fremdblogallergikerin des Andy Bonetti-Fanclubs Helgoland folgen im Anschluss meine beiden Berlin-Texte, die Anfang Januar im Landlebenblog und im Weddingweiser zu lesen waren. Alles klar, Dörte?
Bis zu meiner Rückkehr empfehle ich Schwarzbrot, frische Luft und regelmäßige Leibesübungen.
Ted Nugent - Great White Buffalo. https://www.youtube.com/watch?v=VMZwS0ZonEU
Berlin
Senioren, die einen schlohweißen Pferdeschwanz, Jeans mit Bügelfalte und eine Schirmmütze mit dem Logo der Denver Broncos tragen.
Die beiden Jugendlichen, die eine alte Backsteinmauer mit ihren Spraydosen dekorieren. Sie grinsen mich an, als ich in einem Park in der Nähe der Yorkbrücken an ihnen vorüberschlendere. Ich grinse zurück.
Jede zweite Kellnerin ist eigentlich Schauspielerin, jeder zweite Kellner Musiker, und alle studieren gerade irgendwas.
Eine steinalte Frau kommt vorüber, sie zieht in Zeitlupe ein bis über den Rand vollgepacktes, »Hackenporsche« genanntes Rollwägelchen hinter sich her, als gelte es, die nächsten sieben Tage im Luftschutzkeller zu verbringen.
Bier wird auf der Straße getrunken, Döner zweifuffzich.
Alte Mietskasernen. Im Vorübergehen sieht man in Fenster und auf Balkone, kurze Szenen des menschlichen Lebens, das sich so offen und ungespielt zeigt wie in Neapel.
Der herrliche Duft von Buletten weht auf den Bürgersteig, bisweilen auch schwere Wirsingwolken. Aus dem offenen Fenster einer Erdgeschosswohnung klingt hell wie ein Glockenspiel das Porzellan, als offenbar ein paar Teller aus dem Schrank genommen werden.
Alte Männer mit schweren Bäuchen und Nachkriegswirrenpomadenfrisur (»Brisk«, kein Wet-Gel), Frauen mit hässlich gemusterten Pullovern und stocksteifgesprayten Dauerwellen, an denen man sich vermutlich schwer verletzen kann.
Wenn die Bäume in den Parks im Wind rauschen, hört es sich an wie Meeresbrandung.
Diese Stadt schäumt jede Sekunde über vor Gedanken. Es gibt so viele Ideen – großartige und schnell vergessene -, dass niemand sie jemals festhalten könnte. Und du glaubst, man würde sich ausgerechnet an dich erinnern?
Auf der Straße trifft man schräge Leute, die Selbstgespräche führen. Da gibt es die »Kläffer«, die lautstark unverständliches Zeug herausbellten, die »Agitatoren«, die in endlosen Monologen die politischen Probleme der Welt erörtern, und die murmelnden »Flucher«, die nur »Scheiße, Scheiße« oder »Totschlagen müsste man die« vor sich hin brabbeln.
Verträumte Villenviertel. Verspielte schneeweiße Fassaden.
Überall Baustellen. Die ernsten, konzentrierten Gesichter der Arbeiter.
An der Frittenbude vor der Tankstelle beugen sich unrasierte Gesichter über eine Gekröserolle namens Currywurst.
In der U-Bahn verwelkte Angestelltengesichter, Kopftücher, Einkaufstüten, leises Scheppern aus Kopfhörern und die unvermeidliche Litanei eines Straßenmagazinverkäufers. Eine Frau, um die fünfzig und mit Dauerwelle, füllt mit dem strengen Blick einer Zollbeamtin ein Kreuzworträtsel lückenlos aus. Nur die Studenten und Touristen reden und lachen.
Ein ockerfarbener spiralförmiger Kothaufen, der von grün und blau schillernden Fliegen umkreist wird. Verdauungsrückstände des besten Freundes, den der Mensch angeblich hat.
In ihren Kiezen ist die Stadt ganz bei sich, hier kann sie sich geben, wie sie nun einmal ist: alltäglich, banal, irgendwie gerade beschäftigt, manchmal schlecht gelaunt, manchmal mit einem frechen Grinsen im Gesicht.
Die Fleischereifachverkäuferin in einem ärmellosen Polyesterkittel, die Haut der Oberarme hängt herunter wie Teigfladen. Diese Frauen bekommen nach all den Jahren hinter der Fleischtheke selbst etwas Wurstiges. Gesicht und Hände sehen aus wie rohes Fleisch, korrespondierend zur Hautfarbe das korallenrote Papier, in das die Ware gepackt wird. Eingekittelte Körper wie Presswürste. Ihre unscheinbaren Gesichtszüge – Punkt, Punkt, Komma, Strich – sind in einen speckig glänzenden Fleischbrei eingesunken.
Bergmannstraße, Simon-Dach-Straße, Oranienburger Straße: Je beliebter eine Straße ist, desto öder wird das Angebot. Irgendwann ist Gastronomie das Hauptgeschäft, weil die wechselnde Laufkundschaft keine Autos oder Waschmaschinen kaufen will. Dann sitzen Touristen Touristen gegenüber und denken, hier wäre die „Szene“.
Tüten-Paula, die früher inmitten ihrer Plastiktüten und Müllsäcke auf dem Ku'damm gesessen und die Leute angepöbelt hatte.
Eine meterlange Junkie-Spur eingetrockneter Blutstropfen zieht sich am Rand der Treppe entlang, die zur U-Bahnstation hinabführt.
Das „Petrocelli“ in der Motzstraße war in den neunziger Jahren das einzige Restaurant auf der Welt mit drei verschiedenen Toiletten: »Uomini«, »Donne«, »Misti«. Letztere war für den transsexuellen Kellner gedacht, durfte aber auch ausnahmsweise von Behinderten genutzt werden.
Der melancholische Singsang des verschwundenen ostpreußischen Dialekts eines Hausbewohners. „Näi, näi, ich wäiß nich, de Leite sind so komisch jewordn. Komm ich am friehen Morjen ausm Keller, sieht mich de alte Schmittchen und hat se jebrillt. Jebrillt hattse, dabei hab ich se nüscht jetan.“ Das gerollte R, der Tonfall vergeblicher Mahnung und Wehmut, der im Ostpreußischen mitschwingt. „Un de villen junge Leite. Immer nur ihr Tanzvergniejen im Koppe und jläich datt jroße Jeld machen wollen. Ohne Arbäit. Von morjens frieh bis obends ham wir missen arbejten. Mir hatten ja nüschte, als der Russe kam. Jeden Tach Kartoffeln ham wir jejessen. Nu, so is alles jekommen. So is es jewesen.“ Aus seiner Wohnung riecht es nach gekochtem Gemüse und körperlichen Ausdünstungen, so als sei die ganze vorhandene Luft schon mehrfach von tuberkulösen Greisen ein- und ausgeatmet worden.
MyFest in Kreuzberg. Tofuwürste und Unterschriftensammlungen. Erster Mai. Gutmenschenkirmes mit eingebauter Weltverbesserung („der Erlös geht an die feministische Antifa-Kita Bad Oldesloe“). Und anschließend gibt es den unvermeidlichen Demonstrationszug, hennarotgefärbte deutsche Gründlichkeit, Marschordnung und bei Bedarf auch Schlachtordnung, wenn es zum Kampf gegen die Knüppelgarde des Polizeipräsidenten geht.
Berlin steht nicht kurz vor dem totalen Chaos, wie es die Medien gerne berichten, sondern kurz vor der totalen Ordnung.
Eisenwarenladen C. Adolph am Savignyplatz: Das ganze Geschäft scheint nur aus großen dunklen Holzschubladen zu bestehen, in denen sich tausend geheimnisvolle Dinge verbergen. Man wartet am Verkaufstresen und gibt beim Verkäufer seine Bestellung auf, wenn man schließlich an der Reihe ist. Der Verkäufer kennt sich in dem Labyrinth mit der größten Selbstverständlichkeit aus, stellt für Laienohren völlig unverständliche Detailfragen, zieht ein Apothekerschublädchen auf und legt umgehend das gewünschte Ding auf den Tresen. Hier konnte man früher noch einzelne Schrauben und abgezählte Nägel kaufen.
Berlin-Mitte: Menschen, die es eilig haben, Menschen mit bedeutenden Berufen, klaren Meinungen und unerschütterlichen Einstellungen zu allen wesentlichen Fragen. Dazwischen schlendern Touristen, lächelnd und staunend wie Kinder.
Nachts ist die Stadt aus Licht, sie wird durchsichtig. Alles ist vergessen, keine Narben mehr zu sehen. Das Licht löscht alles Vergangene aus. Die Preußen, die Nazis, die Mauer. Fahrräder werfen ihre kleinen Lichtflecken auf die Straße, Autos gleiten mit ihren fetten Doppelaugen wie U-Boote über den Asphalt.
Die berühmte Berliner Luft. Sie riecht nach Autoabgasen, die einen Metallgeschmack im Mund hinterlassen, nach dem Bratfett der Imbissbuden, nach billigem Parfüm. Im Sommer riecht die warme feuchte Luft außerdem nach Urin, Hundekot und Verfall. Nach einem Regenschauer ist es besonders schlimm. Man ist froh über eine frische Brise, die den Gestank der Stadt vertreibt. Vom Blumenladen bis zum Müllwagen strömt alles einen eigenen Geruch aus, am Wannsee riecht es nach Kiefern und im Görlitzer Park nach Haschisch. Früher hat Berlin im Winter nach Kohle gerochen.
Jeder Passant schwimmt in einer kleinen Wolke seiner alltäglichen Gerüche vorüber. Ein älterer Herr riecht nach Zigarren, ein Mann Anfang dreißig dünstet sein Deodorant aus, die Kinder duften süß wie Bonbons. In den Kneipen eine säuerlich-muffige Mischung aus Zigarettenqualm, Mundgeruch, abgestandenem Bier und undefinierbaren Gewürzen.
Schwarz gekleidete Rentnerinnen, die an heißen Sommertagen mit ihren Einkäufen keuchend in irgendeinem Hauseingang stehen. Alkoholiker auf Parkbänken, umgeben von leeren Bierdosen und anderem Unrat. Alte und junge Menschen mit Kinderwagen. Gruppen von umherstreifenden Jugendlichen, eine Mischung aus Virilität und Irrsinn, die sich jederzeit und überall plötzlich wie ein Gewitter entladen kann. Die notorischen Jogger, die albernen Walker und die rastlosen Skater. Menschen, die von ihrem Fensterbrett aus die Welt beobachten.
Im Winter verkriecht sich alles Leben hinter die Steine. Aber unsichtbar hinter den leblosen Fassaden pocht das Blut durch Venen und Arterien. Fleisch und Knochen, Schmerz und Wahnsinn, Liebe und Hass, Gier und Mitleid, Stumpfsinn und Apathie.
Spaziergänge am Morgen, wenn die Stadt erwacht und überall geschäftige ernste Menschen unterwegs sind. Läden und Cafés werden aufgeschlossen, Lastwagen entladen, kurze Gespräche geführt.
Ich sitze im Doppeldeckerbus oben in der ersten Reihe und betrachte die Stadt. Linie 100. Neben mir hat ein älteres Ehepaar aus Toledo Platz genommen, auf dem Schoß der Frau liegt ein Reiseführer.
Eine große Stadt hat mehr als eine Eigenschaft, sie ist nicht einfach nur hässlich oder nur schön, nur laut oder nur lebendig. Eine große Stadt hat alle Farben und alle Formen, sie lacht und weint zugleich, ohne Zeit für Erklärungen oder Entschuldigungen.
Der Berliner Südwesten, auf charmante Weise überaltert. Hier kommen drei Beerdigungsinstitute und fünf Apotheken auf einen Spielzeugladen.
Es kreischt, es jault, unten rubinrot, oben sandgelb, die Scheiben dank der mühevollen Kleinarbeit vieler Jugendlicher blind gekratzt, und dann steht sie vor dir: die Berliner S-Bahn.
Parkett in den alten Treppenhäusern, dunkelrote Kokosfaser, gedrechselte Geländerpfosten.
Schöne Friedhöfe, hässliche Neubauten. Die Zeit der Ruinen, der Kriegskrüppel und Witwen ist vergessen.
Im Zentrum, am Brandenburger Tor oder am Potsdamer Platz, trifft man schon längst keine echten Berliner mehr. Die Eingeborenen haben sich tief in den Dschungel zurückgezogen.
Das normale Berlin kommt in keinem Reiseführer vor. Die bis auf halber Höhe mit Holz getäfelten und mit historischen Drucken geschmückten Wände eines Gasthauses. Der Mann mit dem Seehundschnauzbart und Halbglatze, der Eisbein mit Erbspüree isst und dazu seine Molle trinkt.
Berlin macht es einem anfangs nicht leicht, vor allem im trüben Winter nicht. Hier wird niemand mit offenen Armen empfangen, die Stadt ist Neuankömmlingen gegenüber schon immer gleichgültig gewesen. An die Geschäftigkeit, Spottlust und eilige Oberflächlichkeit muss man sich erst gewöhnen. Es dauert lange, bis man die dicke Haut Berlins durchstoßen hat und zum Kern, „ans Einjemachte“ sozusagen, vordringt, zur proletarischen Behaglichkeit und zur tiefen Lebenslust der Menschen, zu ihrem derben Humor und ihrer zähen Beharrlichkeit. Die Nestwärme, die an Rhein und Donau womöglich in größerem Maße vorhanden ist, stellt sich hier oft erst nach vielen Jahren ein. Wenn man sich aber in Berlin eingelebt hat, wenn man sich die Elefantenhaut der Metropole zu eigen gemacht hat und sich in ihr wohlfühlt, will man die Stadt nie wieder verlassen.
„Entschuldigen Sie vielmals die Störung, aber ich befinde mich leider in der unangenehmen Situation, völlig ohne Bargeld zu sein. Ob Sie mir wohl bitte freundlicherweise mit ein wenig Kleingeld aushelfen wollen?“ Der Mann ist um die Sechzig und spricht mit einem Wiener Akzent. Wer mich mit solch ausgesuchter Höflichkeit anspricht, dem gebe ich gerne etwas. Wenn alle Menschen in Berlin so freundlich wären wie die Bettler, würden wir im Paradies leben.
Rechtsanwalts- und Apothekerkinder aus der ganzen Republik, die in die Hauptstadt kommen und ein paar Jahre Revolution spielen, bevor sie in ihre Heimatstadt zurückkehren und Karriere machen. Millionen Menschen kommen, Millionen Menschen gehen. Sie springen auf der alten Tante Berlin herum wie Kinder auf einem Sperrmüllsofa.
Die Greisin im Café hat eine Haut wie zerknittertes Backpapier, eine zerzauste Perücke, und ihre Unterlippe hängt wie ein Tropfen herunter, während sie mich mit ihren kleinen entzündeten Augen mustert. Die lavendelfarbenen Äderchen auf ihren Wangen sehen aus wie ein Flussdelta.
Wie ein Schriftsteller in den Wedding kommt
Als ich 2008 in den Wedding kam, war ich ein in zweifacher Hinsicht Zugereister. 1991 zog ich aus meiner rheinhessischen Heimat nach Berlin. Welche Stadt wäre damals, kurz nach dem Mauerfall, interessanter gewesen? Zuerst lebte ich im Kreuzberger Wrangelkiez, später in der West-City. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich die Gedächtniskirche sehen.
Dann bekam ich die Stelle als „Kiezschreiber“ im Brunnenviertel. Drei Jahre durfte ich, bezahlt aus einem Förderprogramm des Senats, über diesen Teil von Berlin-Gesundbrunnen schreiben. Es entstanden Reportagen, Erzählungen, historische und satirische Texte, Weihnachtsmärchen und Gedichte. Am Ende meiner Zeit, im Herbst 2011, erschien sogar ein Kriminalroman mit dem Titel „Weißer Wedding“, der im winterlichen Brunnenviertel spielt. Denn im Volksmund ist Gesundbrunnen immer ein Teil des Weddings gewesen – auch wenn beide Stadtteile heute dem Bezirk Mitte zugeordnet sind.
Zum ersten Mal kam im 1981 nach Berlin – und landete gleich im Wedding. Genauer gesagt fing mein Verhältnis zu Berlin im Wedding an. In der Koloniestraße. Hier war damals auf der Klassenfahrt unsere Jugendherberge. An ihrer Außenmauer sah ich das erste Berliner Graffito meines Lebens: „Auch Nixon tut wixen“. Von hier aus begann meine niemals endende Entdeckungsreise durch die große Stadt. Jahrzehnte später lief ich als Kiezschreiber wieder durch diese Straße. Momentaufnahmen, Schnappschüsse ohne Apparat: die Hinterhofwerkstätten, die alten Mietskasernen, der türkische Rentner, die Studentin, die kleinen Läden – und die Jugendherberge gibt es tatsächlich immer noch.
Ich komme aus Ingelheim am Rhein, einer bedeutungslosen Kleinstadt in der Nähe von Mainz, die aus unerfindlichen Gründen eine Städtepartnerschaft mit Kreuzberg hat, einem der aufregendsten Orte Deutschlands. Wir unternahmen viel mit den Schülern aus unserer Partnerklasse von der Leibniz-Schule in der Nähe der Bergmannstraße. Echte Punks, Langhaarige mit Parkas, Jungs mit Ohrringen – das war das wilde und gefährliche Berlin, das wir in Westdeutschland gerade im Buch und im Film „Christiane F.“ kennengelernt hatten. Viele von uns sind später nach Berlin gezogen, manche sind auch wieder heimgekehrt.
Ich habe über zwanzig Jahre in Berlin gelebt. Rein statistisch hat sich in diesem Zeitraum die Bevölkerung Berlins einmal komplett ausgetauscht. Mehr als 150.000 Menschen kommen jedes Jahr in die Stadt, fast genauso viele verlassen sie wieder. Dazu kommen Geburten und Todesfälle. Berlin ist ein atmender Organismus – schon darum kann diese Stadt niemals fertig werden und keinen Schlaf finden, sie ist für einen Schriftsteller nicht in Worte zu fassen. Es ist, als ob man einen fahrenden Zug anmalen möchte.
Der Wedding ist in meiner Erinnerung in seiner Vielfalt ein Abbild der Großstadt. Hier findet sich alles wieder, was typisch für Berlin ist. Die Badstraße und der Leopoldplatz vibrieren vor Lebendigkeit, hier geht es zu wie auf dem Ku’damm. Der Mauerpark ist sonntags der lebendigste Ort in Berlin. Verträumte Ecken wie am Ufer der Panke oder im Humboldthain, wo sich ein Flakbunker wie eine alte Burgruine versteckt, bieten die Gelegenheit zum Rückzug und zum Nachdenken. Man atmet auf und zückt das Notizbuch. In den Straßen, in der U-Bahn trifft man Menschen aus allen Teilen der Welt. Ein Schatz von Geschichten, den keiner jemals heben kann. Und wenn du hundert Jahre zuhörst und hundert Jahre schreibst, der Wedding ist unerschöpflich.
2011 habe ich den Wedding als Kiezschreiber verlassen, aber ich bin immer wieder zurückgekommen. Meine alten Stammkneipe, das Offside in der Jülicher Straße, und die Bürgerstiftungsinitiative Wedding waren die Anknüpfungspunkte. 2013 habe ich Berlin verlassen und bin wieder in meine alte Heimat gezogen. Ich war erschöpft, müde und auch ein wenig enttäuscht – in meine Wohnung war eingebrochen worden und ich fühlte mich dort nicht mehr wohl.
Aber der Wedding, ganz Berlin und ich sind Freunde geblieben. Im letzten Jahr war ich dreimal in Berlin, jeweils für zwei Wochen. Und 2015 werde ich wiederkommen. Hier auf dem Land, wo ich inzwischen lebe – mit Blick auf das Gartenhäuschen statt auf die Gedächtniskirche – ist es zwar so schön wie am Pankeufer, aber ohne die Badstraße, ohne das wilde Berlin, ohne die Traumtänzer und Maulhelden werde ich vermutlich niemals leben können.
Freitag, 27. Februar 2015
Evelyn Waugh und der Tod
Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wie man einen konfessionslosen Schimpansen würdig bestattet? „Tod in Hollywood“ von Evelyn Waugh, ein entzückender kleiner Roman aus dem Jahre 1948, gibt Ihnen zu dieser Frage eine erschöpfende Auskunft.
Aber der Reihe nach: ein hoffnungsvoller junger Schriftsteller kommt aus dem Vereinigten Königreich nach Hollywood, um als Drehbuchautor berühmt zu werden. Er wird es nicht. Auf der Suche nach einem Broterwerb landet er als Angestellter bei einem Bestattungsunternehmen, das sich auf Haustiere spezialisiert hat und einen eigenen Friedhof betreibt („Die ewigen Jagdgründe“). Und in Hollywood ist vom Grizzlybär bis zum Kanarienvogel alles dabei – und jeder Sonderwunsch der Hinterbliebenen wird erfüllt, solange er bezahlt wird.
„Und warum nicht? Wenn ich den faulen Zauber sehe, den die Leute da mit Verwandten treiben, die sie ihr ganzes Leben lang gehasst haben. Und die Tiere, die an ihnen hingen und zu ihnen hielten und keine überflüssigen Fragen stellten und sich nie beklagten: reich oder arm, krank oder gesund.“
Doch dann erhängt sich sein Mitbewohner, ebenfalls ein erfolgloser Schriftsteller, und nun betritt er die bizarre Welt des amerikanischen Menschenbestattungswesens, in der die Leichen für ihren kurzen Auftritt bei der Aufbahrung wie Huren geschminkt und mit einem idiotischen Lächeln versehen werden. „Ich habe gar kein Gedächtnis für Gesichter von Lebenden“, sagt die Kosmetikerin Aimée Thanatogenos (diesen wunderbar schillernden Namen könnte man grob mit „geliebter Tod“ übersetzen – ihr Vorgesetzter, der sie zu einem katastrophalen Date einlädt, bei dem seine nörgelnde Mutter anwesend ist, heißt Mr. Joyboy und ist ein Virtuose der Leichengestaltung – selbst eine Wasserleiche sieht danach aus wie auf einem Hochzeitsfoto, aber ich schweife ab) „mit jener unpersönlichen seelenlosen Freundlichkeit (…), die in diesem Lande der heimatlosen Landstreicher die Höflichkeit ersetzt“. Warum sollte es den Menschen besser ergehen als den Tieren?
Der Autor von „The Loved One“, so der Originaltitel, ist in Deutschland kaum bekannt, er starb 1966. Sie haben richtig gelesen: der Autor. Arthur Evelyn St. John Waugh verfügte über jenen staubtrockenen britischen Humor, den wir von „The Avengers“ („Mit Schirm, Charme und Melone“) oder „Monty Pythons Flying Circus“ kennen. Hinreißende Exzentriker, schräge Story, liebenswürdiger Ton. Ein unsterblicher Spaß.
P.S.: Sie brauchen einen konfessionslosen Priester, der eine ergreifende Ansprache hält.
Das märkische Schneewittchen
Die Merkel ist doch ein raffiniertes Rabenaas, das muss man ihr lassen. Ihre gespielte Naivität und ihre Unwissenheit sind ihre besten Waffen. Von wegen „das Internet ist Neuland“, wo ihr doch das Smartphone an der Hand festgewachsen ist. Aber so macht sie es immer. In ihrer Unwissenheit wirkt sie auf den Betrachter unschuldig. Sie kann nichts dafür. Die nette Tante von nebenan. „Könnten Sie mal eben …? Wären Sie so freundlich …?“ Und schon hat sie einen um den Finger gewickelt. Harmlos, die Ruhe selbst. Harmlos? Gerissen. Das hat sie vom Dicken gelernt. Ihr Ziehvater Kohl hat sich auch immer hinter seiner Dummheit versteckt. Jeder dachte doch, Birne wäre schon von einem Reißverschluss überfordert. In Wirklichkeit hat er aber virtuos sämtliche Strippen gezogen. Früher haben die Leute gesagt: Wenn das der Führer wüsste! Auch bei Stalin war es so. Sämtliche Fehler im kommunistischen System wurden mit der Unwissenheit des roten Zaren erklärt. Wenn er davon wüsste, würde er es doch ändern. Falsch! Die Chefs wissen alles. Immer. Sie machen ganz bewusst nix. Und sie tun ganz bewusst so, als wüssten sie nix. Das fällt in Anbetracht der allgemeinen intellektuellen Dürftigkeit der politischen Kaste ja auch gar nicht weiter auf. Kohl hat uns mit der Nummer 16 Jahre an der Nase herumgeführt, die Merkel schafft auch 16 Jahre, wartet es nur ab – 2017 dann mit den Grünen.
P.S.: Wenn wir uns in zwanzig Jahren an die erste Frau im Bundeskanzleramt erinnern werden, welcher Satz oder welches politische Projekt von ihr wird uns dann in den Sinn kommen? Fällt Ihnen spontan etwas ein? Ein Ozean leerer Worte …
The Rolling Stones - She's So Cold. http://www.youtube.com/watch?v=jo34VhfcetU
Donnerstag, 26. Februar 2015
Ruf! Nicht! An!
Mit der technischen Infrastruktur auf dem Land ist das ja so eine Sache. Das ist mir nach der Rückkehr aus Berlin gleich aufgefallen. Mal ist das Netz weg, mal läuft es mit der Geschwindigkeit der neunziger Jahre und im Wald ist man schnell ohne Handyempfang. Hier im Haus geht die Grenze beim Handyempfang genau durch mein Arbeitszimmer. Wenn ich also, wie es gelegentlich vorkommt, beim Telefonieren vor meinem Schreibtisch auf und ab spaziere, verliere ich den Kontakt. Die linke Hälfte und die Mitte dieses Raums sind okay, gehe ich in die rechte Hälfte, ist alles vorbei. Es hört sich wie Slapstick an, aber das ist die Realität. Bin ich an den Rhein zurückgegangen oder an den Kongo?
Und wenn unsere Regierung auf den Ausbau der Infrastruktur durch die Wirtschaft wartet, ist sie auf dem digitalen Holzweg. Diese Investitionen rechnen sich nicht für die paar Hundert User hier im Dorf. Und sie rechnen sich auch in zehn Jahren nicht. Hätte man nach der Erfindung des Automobils darauf gewartet, dass die Hersteller der Fahrzeuge das Straßennetz aufbauen, wären wir heute noch im Ochsenkarren unterwegs. Infrastruktur ist Staatsaufgabe. Apple, Google oder Facebook werden niemals kostenlos den Job der Regierung übernehmen, da können wir lange warten – die zahlen hier doch noch nicht mal Steuern.
Da muss man sich nicht wundern, wenn die Leute in die Stadt ziehen – also an die Netzknoten – und dort zur Wohnungsnot beitragen. Wie will man auf dem Land ein Unternehmen aufziehen, das auf moderne Technik angewiesen ist, wenn es sie hier noch nicht gibt? Das Internet wäre wunderbar dazu geeignet, die Wirtschaft zu dezentralisieren und die zunehmende Verstädterung zu verhindern. Aber auch solche Gedankengänge sind vermutlich „Neuland“ am Hofe Angelas der Ersten.
http://www.gerhard-mantz.de/3d/Zukuenftige-anim.html
Fragen zur Teezeit
Krachowiak saß an der Bar und stierte in einen Long Island Ice Tea. Eistee war die richtige Erfrischung an einem so schönen Nachmittag, dachte er und einen Augenblick später widerte ihn sein eigener Sarkasmus an. Das kam selten vor. Manchmal hatte der erste Alkohol des Tages eine erhellende Wirkung – so wie ihn umgekehrt das letzte Glas einer Nacht in heulendes Elend stürzen konnte. Es war so selbstverständlich geworden, nach dem Mittagessen langsam in den Genuss alkoholischer Getränke hinüber zu gleiten und dann allmählich die Schlagzahl zu erhöhen. Er fragte sich, ob er eigentlich Alkoholiker war. Diese Frage stellte er sich alle paar Monate und seine Antwort war nicht ganz klar. Er war unsicher, ob er tatsächlich noch das Biest zähmen konnte oder ob er nicht längst zwischen seinen spitzen Reißzähnen in Fetzen gerissen wurde. Hatte er nicht schon als junger Mann seine wichtigsten Einfälle auf Bierdeckeln notiert? Es gab alle möglichen Selbsttests im Internet. Ein paar Fragen und man wusste, ob man Alkoholiker war.
Denkst du oft an Alkohol?
Wenn „oft“ mehrmals täglich bedeutete, dann konnte er diese Frage nur mit „Ja“ beantworten. Schon in der Kantine beim Mittagessen beneidete er die Kollegen in München, von denen er wusste, dass sie zum Schweinebraten ganz selbstverständlich eine Halbe Weißbier verzehrten.
Trinkst du jeden Tag Alkohol?
Ja. Es musste schon eine üble Party vorausgegangen sein, um ihm einen ganzen Tag lang den Alkohol madig zu machen. Und selbst dann hatte er ja am gleichen Kalendertag, nur eben in den frühen Morgenstunden, Alkohol konsumiert.
Wird in deinem Umfeld regelmäßig Alkohol konsumiert?
Ja. Er war schließlich Journalist. Er traf sich mit anderen Journalisten, mit Schauspielern, Musikern, Politikern, Bankertypen und all den anderen Leuten, die ohne das Schmiermittel Alkohol (und nicht zu vergessen: Kokain) gar nicht miteinander funktionierten. Alle tranken, als Abstinenzler hätte er den Beruf wechseln können. Leute, die was gegen Suff und Drogen hatten, machten sich in seinen Kreisen verdächtig. Wer nicht bis zum Morgengrauen senkrecht an einer Theke stehen konnte, galt nichts im Journalismus und in der High Society der Hauptstadt. Dreiwöchige Aufenthalte in der deutschen Filiale der Betty-Ford-Klinik gehörten inzwischen einfach zum guten Ton in gewissen Kreisen.
Werden bei dir Hemmungen durch Alkohol abgebaut?
Ja, natürlich. Das ist doch Sinn und Zweck der Übung. Locker werden, mit Menschen in Kontakt kommen, den Mut finden, auch alleine auf eine Vernissage zu gehen und dort neue Leute kennenzulernen. Ein gehemmter Klatschreporter ist totes Fleisch.
Hast du am Morgen schon mal zittrige Hände?
Ja. Manchmal musste Krachowiak sogar den Morgenkaffee mit Kognak strecken, um sich selbst auf die Piste zu bekommen.
Trinkst du oft alleine Alkohol und ohne besonderen Grund?
Ja. Wozu brauchte man überhaupt einen Grund für ein Bier oder ein Glas Wein? Er hatte mal gelesen, der ganze Ackerbau sei vor Urzeiten überhaupt erst entwickelt worden, damit Menschen genug Material zur Alkoholproduktion hätten. Das Brot sei eigentlich ein Nebenprodukt der Alkoholproduktion. Seit es Menschen gibt, wird getrunken. Selbst die Tiere berauschten sich an vergorenem Obst.
Hast du ein schlechtes Gewissen wegen deines Alkoholkonsums?
Diese Frage war schwer zu beantworten. Einerseits machte er sich Gedanken über seine Gesundheit, andererseits hatte er keine Beschwerden. Alles lief – aber er wusste eben nicht, wie lange dieses Leben so weiter laufen konnte. Mal hatte er Angst vor der Zukunft, mal lachte er ihr schallend ins Gesicht. Nachts Herrscher der Welt, morgens eine kümmerliche Laus zwischen schmierigen Bettlaken.
Ich trinke, um zu vergessen, dachte Krachowiak. Und ich schreibe, um mich zu erinnern.
(aus: ME, Weißer Wedding)
Jackie Mittoo - Ghetto Organ. https://www.youtube.com/watch?v=UDX2A0gxMjM
Assoziationen
Ich sehe das Gesicht von Günter Jauch, während ich durch die TV-Kanäle schalte. Jauch, denke ich, die alte Ratwurst. Also gebe ich „Ratwurst“ in die Suchmaschine ein und finde diese merkwürdige Musik:
http://www.google.de/imgres?imgurl=http%3A%2F%2Fi1.ytimg.com%2Fvi%2F0JAKJkFnqto%2Fhqdefault.jpg&imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.youtube.com%2Fwatch%3Fv%3D0JAKJkFnqto&h=360&w=480&tbnid=2Asa5fudCGMwEM%3A&zoom=1&docid=leflB_XSHvGawM&itg=1&hl=de&ei=9WLoVPLhBMnWPIr1gAg&tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=2345&page=1&start=0&ndsp=25&ved=0CDwQrQMwCA
Mittwoch, 25. Februar 2015
Schweigepresse
Es ist in letzter Zeit häufig von der „Lügenpresse“ gesprochen worden. Der Ausdruck trifft den Sachverhalt nicht richtig. Es werden keine Unwahrheiten verbreitet, sondern einseitige Betrachtungsweisen. Es ist beschämend genug, dass sich CDU und SPD, dass sich Regierung und Opposition im Bundestag etwa so unterscheiden wie Ariel und Persil. Aber dass wir in der Presse von BILD bis SPIEGEL, dass wir von öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten bis zu den Privatsendern mit einem faden Einheitsbrei abgespeist werden, ist ein Armutszeugnis für diese Republik.
Und manche Informationen, die nicht ins beschränkte Weltbild der zahnlos gewordenen „vierten Gewalt“ passen, bekommt die Öffentlichkeit erst gar nicht präsentiert. Zumindest nicht in Deutschland. Hier ein aktuelles Beispiel:
Der ukrainische Präsident Poroschenko hat gerade - gemeinsam mit Putin, Merkel und Hollande - eine Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet („Minsk II“). Gestern besuchte er die IDEX, eine Waffenmesse, in Abu Dhabi. Dabei traf er sich mit hochrangigen arabischen Politikern und bestellte neue Waffen für seine Armee. Der Deal läuft so: Amerikaner, Deutsche, Franzosen und andere westliche Staaten verkaufen den Arabern Waffen, die sie an die Ukrainer weiterliefern. So wird über Bande der Kriegsschauplatz Ukraine mit Waffen versorgt. Der Westen verdient eine schöne Stange Geld und fördert zugleich seine politischen Interessen. Schließlich hat man der Ukraine gerade einen Kredit über elf Milliarden Euro bewilligt. Die Kohle war ja nicht für eine Rentenerhöhung oder neue Schulen gedacht.
Diese Nachricht passt natürlich nicht ins Bild vom friedlichen Westen und der friedlichen Ukraine. Also taucht sie in den deutschen Medien einfach nicht auf. Auch nicht auf den Seiten von Reuters, dpa oder afp. Ein Lob der neutralen Schweiz, die uns in diesen finsteren Zeiten mit den nötigsten Informationen versorgt. Hier der Artikel aus der Basler Zeitung:
http://bazonline.ch/ausland/europa/Poroschenko-auf-Shoppingtour/story/23736965
2012
Auszüge aus dem Notizbuch:
3. Januar, Berlin. Wer war es, der dem Sternenstaub/ Den Fluch des Lebens eingehaucht?
Seit Anfang des Jahres arbeite ich als freischaffender Gemüsepädagoge im Veganischen Zentrum für Ausdruckstanz in Kreuzberg.
7. Januar. Betrunkene finden immer nach Hause, weil sie wie Tauben dem Magnetfeld der Erde folgen können. Aber dann kriegen sie den Schlüssel nicht mehr in die Haustür.
23. Januar. Ich sehe das unruhige Flackern der Logik in deinen Augen. Verlass dich lieber auf deinen Bauch.
29. Januar. Sensibel darfst du ruhig sein, du musst es nur aushalten können.
Kinder: die vertagte Hoffnung.
14. Februar. Dieser grenzenlose Ehrgeiz und seine sehr begrenzten Ziele: ein anderes Auto, ein größerer Fernseher, das fünfzigste Paar Schuhe.
7. März. Mission Statement: Was will ich? Nichtstun und damit Vorbild für andere Menschen sein.
16. April. Lichtgeschwindigkeit, Nichtgeschwindigkeit – oft ist es nur ein Buchstabe …
Dem Alten gegenüber empfindet der Berliner eine gewisse bäuerliche Zufriedenheit. Wirklich stolz ist er nur auf das Neue.
30. Mai. Wohin haben uns die vernünftigen Menschen gebracht? Aha! Und jetzt sind eben die Verrückten an der Reihe.
1. Juni. Hausstaub besteht zum großen Teil aus abgestorbenem Mensch. Gemeinsam mit unseren ausgefallenen Haaren bildet er, wenn man ihm genug Zeit lässt, Wollmäuse. Lässt man dem Staub noch mehr Zeit, bilden sich Wollkatzen und schließlich die berüchtigten Wollnashörner, was den Einsatz ausgebildeter Kammerjäger zur Folge hat.
10. Juni. Es ist ein Räderwerk aus Zahlen, das uns alle beherrscht. Ob wir wollen oder nicht.
20. Juni. Trinken ist wie Träumen: Du vergisst, was du gedacht hast. Hinterher ist immer alles weg. Es sei denn, du schreibst.
28. Juni. Berlin-Mitte-Beobachtungen. Ein mittelalter Ministerialbeamter im dunklen Anzug, aber mit rotem Rucksack und Rennrad. Eine dicke überentwickelte vierzehnjährige Provinztussi auf Klassenfahrt mit lächerlich blonden Haaren und einem „Punk is not dead“-T-Shirt in Signalgelb. Der Typ mit dem Club-Gesicht, gegelte Haare und Drei-Tage-Bart, lässig ins Smartphone murmelnd, aber dann unter dem Kinn ein schwarzer Beerdigungsanzug und perfekt gewienerte Lederschuhe; offenbar tagsüber Assistent eines Lobbyisten.
20. Juli. Wie beleidigt der Müßiggänger einen Karrieremenschen? „Du Uhrensohn.“
15. August. Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, ist es weg.
16. August. Bei Flugbuchungen kann man jetzt spezielle Menüs buchen. Ich habe mich für vegan, koscher und halal entschieden. Bekommen habe ich eine Mohrrübe, die vom Dalai Lama gesegnet war.
20. August. Ein Kind kann das größte Ereignis eines Lebens sein – oder, im Falle einer Tragödie, ein schwarzes Loch, in dem man auf ewig versinkt. Ich bin an dieser Bude vorüber gegangen, ohne mir ein Los zu kaufen. Auf dem großen Jahrmarkt des Lebens bin ich zum Süßigkeitenstand hinüber geschlendert und habe mir gebrannte Mandeln geholt.
21. August. Es ist ja nicht so, dass ich nicht aktiv wäre. In diesem Augenblick formt meine rechte Arschbacke beispielsweise meine Brieftasche.
24. August. Meine Narben: Bei Büchern nennt man es Gebrauchsspuren.
20. September. Ich bin 46 Jahre alt – und habe immer noch keine Jünger.
21. September. Schön, dass man mir im Supermarkt am Freitagnachmittag ein schönes Wochenende wünscht. Mein ganzes Leben ist ein schönes Wochenende. Aktuelle Planung: Bis zu meinem 55. Geburtstag ein erfolgloser Schriftsteller sein, 2022 dann wieder voll angreifen.
Hier könnte Ihre Werbung stehen. Schon mal drüber nachgedacht?
22. September. Bin soeben bei dem Versuch gescheitert, mich als „Gott“ bei Facebook anzumelden.
A: Du bist doch besoffen! B: Einigen wir uns auf halbbesoffen.
27. September. Wir sind süchtig nach Zielen, süchtig nach Sinn. Die Mutter aller Fragen: Sind wir schon da?
28. September. Damit fängt alles an: Du wirst geboren. Passiv. Du bringst dich nicht selbst auf die Welt. Du bist etwas Fremdes und versuchst dein Leben lang, etwas Eigenes zu werden.
1. Oktober. Wer keinen Ehrgeiz hat, erreicht seine Ziele schneller.
3. Oktober. In der Wissenschaft heißen Vorurteile Hypothesen.
5. Oktober. Ich kann nicht ewig untätig bleiben, also habe ich eine Weiterbildung beantragt. Ich möchte Entspannungscoach werden. Aber ich würde notfalls auch Sterbebegleiter werden, im Management, in den Banken, in der Politik …
Wenn du im Traum fällst, wachst du auf. In der Realität auch.
26. Oktober. Wenn du es wirklich geschafft hast, dann geht ein kleiner Mann neben dir, der dein Schweigen interpretiert.
Berlin: Hier bleibt man, weil man unzufrieden ist.
27. Oktober. Es gibt keine Informationsflut. Information ist ein Wasserhahn, den ich beliebig auf- oder zudrehen kann.
Es ist erstaunlich, wieviel Zeit man sparen kann, wenn man etwas einfach mal sein lässt.
Der Baumarkt ist das Nagelstudio des Mannes.
29. Oktober. Nachdenken gilt im Fernsehen als Niederlage.
16. November. Im Internet gelesen: Die Schlauen leben von den Dummen und die Dummen leben von der Arbeit.
17. November. Stell Fragen wie ein Philosoph und gib Antworten wie ein Kind.
29. November. In Albanien sind die Leute so arm, da malen sie Gesichter auf Luftmatratzen und verkaufen sie als Sexpuppen.
3. Dezember. Gerüchte? Die gab es immer. Mir wurde schon so manche Karriere angedichtet.
18. Dezember. Erwartest du etwas Gutes oder Schlechtes, wenn dir jemand von hinten auf die Schulter tippt?
26. Dezember. Es gibt Dressurreiten für Pferde, aber kein Dressurreiten für Esel. Welches Tier ist das Klügere?
AC/DC – Thunderstruck. https://www.youtube.com/watch?v=v2AC41dglnM&list=RDv2AC41dglnM#t=0
Dienstag, 24. Februar 2015
Schriftsteller 2015
„Man sehe unsere Lage, wie sie war und ist; man betrachte die individuellen Verhältnisse, in denen sich deutsche Schriftsteller bilden (…). Nirgends in Deutschland ist ein Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammenfänden und nach einer Art, in einem Sinne, jeder in seinem Fache sich ausbilden könnten. Zerstreut geboren, höchst verschieden erzogen, meist nur sich selbst und den Eindrücken ganz verschiedener Verhältnisse überlassen; von der Vorliebe für dieses oder jenes Beispiel einheimischer oder fremder Literatur hingerissen; zu allerlei Versuchen, ja Pfuschereien genötigt, um ohne Anleitung seine eigenen Kräfte zu prüfen; erst nach und nach durch Nachdenken von dem überzeugt, was man machen soll; durch Praktik unterrichtet, was man machen kann; immer wieder irregemacht durch ein großes Publikum ohne Geschmack, das das Schlechte nach dem Guten mit ebendemselben Vergnügen verschlingt; dann wieder ermuntert durch Bekanntschaft mit der gebildeten, aber durch alle Teile des großen Reichs zerstreuten Menge; gestärkt durch mitarbeitende, mitstrebende Zeitgenossen: so findet sich der deutsche Schriftsteller endlich in dem männlichen Alter, wo ihn Sorge für seinen Unterhalt, Sorge für eine Familie sich nach außen umzusehen zwingt und wo er oft mit dem traurigsten Gefühl durch Arbeiten, die er selbst nicht achtet, sich die Mittel verschaffen muss, dasjenige hervorbringen zu dürfen, womit sein ausgebildeter Geist sich allein zu beschäftigen strebt. Welcher deutsche geschätzte Schriftsteller wird sich nicht in diesem Bilde erkennen (…)?“
(Goethe, Literarischer Sansculottismus, 1795)
2011
Auszüge aus dem Notizbuch:
3. Januar. Silvester bei Freunden in Hamburg. Neujahrsspaziergang an den Landungsbrücken. Vorsichtiger Optimismus, der nach Strafe schreit.
17. Januar, Berlin. Beim Blick in den Spiegel: Eine schöne Leiche werde ich wohl nicht mehr abgeben.
Gäbe es dein Leben als Comicheft, könntest du endlich die großen Linien erkennen.
30. Januar. Ich sage mir jeden Morgen: „Junge, du bist Teil der Unterhaltungsindustrie. Versuch mal, dein Geld zu verdienen!“
10. Februar. Männer und Autos: PS. Der erste und der letzte Buchstabe von Penis.
16. Februar. „Ich kenne Sie doch von irgendwo her.“ – „Ich war der Indianer in ‚Einer flog über das Kuckucksnest‘.“
Rente: Da wirst du noch so in den Arsch gefickt, dass du Scheiße kotzt.
7. März. Zum ersten Mal im Leben habe ich in einem Preisausschreiben gewonnen. Vom „Kicker“ habe ich ein Formel 1-Sonderheft bekommen, Wert: vier Euro!
24. März. In der Mikrowelle wird mein Essen in zwei Minuten warm. Wie wäre es mit einer Maschine, die das Bier aus dem Supermarkt in zwei Minuten auf Trinktemperatur runterkühlt?
13. April. Es ist schon merkwürdig: Das Unglück bringt die Menschen einander näher, der Wohlstand treibt sie auseinander.
10. Mai. Ab einem gewissen Stadium bist du in einer Phase der reinen Improvisation. Denn erinnern kannst du dich in diesen Momenten nur an sehr wenig.
11. Mai. Ich bin den ganzen Tag unterfordert. Deswegen mache ich auch nix.
8. Juni. Kneipenname: „Your final mistake“.
16. Juni. “Fettweazle” ruft man mir auf der Straße hinterher. Kinder können so grausam sein …
28. Juni. Und dann kommst du ausgerechnet in diese Stadt mit deinem billigen Siebziger-Jahre- Kleinstadtidealismus …
13. Juli. „Glaube? Weltanschauung? Da nehme ich doch nichts von der Stange, da kaufe ich doch kein Massenprodukt. Es gibt eine Milliarde Katholiken und eine Milliarde Kommunisten. Na und? Soll ich etwa einer von ihnen sein? Nein. Ich bastele mir ein Einzelstück, mein eigenes Drehbuch der Selbstverarschung.“ (Desdemona van der Qual)
28 Juli. Aus Erinnerung und Erwartung wurden Asche und Verzweiflung.
7. August. Der Gott des Neuen Testaments ist ein Müßiggänger. Er macht nichts mehr, er lässt sich nicht mehr blicken und im Zweifelsfall schickt er eine Vertretung (den Halbgott Jesus, der als Baby aber erstmal gar nix machen kann). Er ist mir wesentlich sympathischer als der stets aktive, ungeduldige und jähzornige Gott des Alten Testaments.
16. September, Bamberg. Auf dem Weg in die Altstadt komme ich morgens am Fässla vorbei. Die ganze Straße duftet schon aus offenen Fenstern nach gutem Essen. Das Gasthaus ist bereits so voll, als würde man hier seit Stunden sitzen. Das Bier ist herrlich, eine Brezel holt man sich beim Bäcker gegenüber. Hier könnte man für den Rest des Tages einfach sitzen bleiben. Später treffe ich mich mit N. im „Biergärtla“ des Klosterbräu zum Mittagessen. Am Nachbartisch bestellt eine Frau einen Salat und Mineralwasser. Der Kellner bringt es und kommentiert es mit dem Wort „Grünfutter“. Er wünscht ihr „Gesundheit“, allen anderen Gästen einen „Guten Appetit.“ Im Freistaat ticken die Uhren noch anders als in Berlin.
30. September, Miltenberg. Gasthaus zum Riesen. Volles Glas, leeres Glas. Yin und Yang.
2. November, Berlin. Jedes Leben sagt etwas über seine Zeit aus. Deswegen kann auch jedes Leben erzählt werden.
30. November. Der letzte Tag als Kiezschreiber, morgen gehöre ich wieder zu den glücklichen Erwerbsfreien.
18. Dezember. Der typische Deutsche ist eine wandelnde Frustsammelstelle, die irgendwann einmal ohne Vorwarnung entweder explodiert oder implodiert.
Culture Beat – Inside Out. https://www.youtube.com/watch?v=86NNn_7cizQ
Montag, 23. Februar 2015
Mauerpark: Keine Bebauung
Es droht eine Bebauung des Mauerparks in Berlin-Mitte. Wenn Sie helfen möchten, die Bebauung zu verhindern, formulieren Sie Ihren Einwand. Hilfe finden Sie hier: http://www.mauerpark-allianz.de/mitmachen/
Diesen Text habe ich an die Bezirksbehörde geschickt:
„Ich lehne den Bebauungsplan 1-64a VE ab, denn ich bin der Meinung, dass die Fläche als Erholungsraum für die hochverdichteten, angrenzenden Stadtviertel besser geeignet ist. Wie der Studie „Umweltgerechtigkeit im Land Berlin“ zu entnehmen ist, verfügt die sogenannte „Verkehrszelle 1102“ Prenzlauer Berg/Kollwitz Platz-Kiez (für den der Mauerpark die nächstgelegene größere Grünfläche ist) und die 12.545 Einwohner hat, nur über 13.260 qm Grünfläche als „wohnungsnaher/siedlungsnaher Freiraum“ zugänglich sind. Dies entspricht dem extrem geringen Versorgungsgrad von sage und schreibe einem Quadratmeter pro Einwohner und unterschreitet damit die Richtwerte von 6 bzw. 7 qm bei Weitem. Eine größtmögliche Erweiterung des Parks auf allen bisherigen Brach- und Gewerbeflächen ist deshalb erforderlich.
Ich lehne den Bebauungsplan 1-64a VE ab, weil der Bebauungsplan durch den städtebaulichen Vertrag bereits weitestgehend vorab festgelegt ist. Eine unabhängige Beschlussfassung durch die BVV über den Bauplan nach bestem Wissen und Gewissen sehe ich daher nicht mehr als möglich an. Außerdem entspricht er nicht dem erklärten Willen der BVV Mitte aus dem April 2012, die mehrheitlich den Entwurf der Bürgerwerkstatt angenommen hatte.
Ich war Teilnehmer der Bürgerwerkstatt „Mauerpark fertigstellen“ und war bei allen Sitzungen und öffentlichen Veranstaltungen anwesend. In meiner Eigenschaft als „Kiezschreiber“ (Arbeitgeber: Förderband – Kulturinitiative Berlin) habe ich für die Internetseite des Quartiersmanagements Brunnenviertel-Brunnenstraße, das Stadtteil-Magazin „Brunnen ¼“ und mein Blog (www.kiezschreiber.blogspot.com) berichtet. Die Bürgerwerkstatt wurde von der Bezirksverwaltung, namentlich von Baustadtrat Ephraim Gothe, initiiert und finanziert.
Diese Bürgerwerkstatt war nichts anderes als eine schamlose und niederträchtige Inszenierung einer angeblichen Beteiligung der Anwohner, der Bürgerinitiativen und Vereine. Die Arbeit der Menschen in dieser Bürgerwerkstatt wurde manipuliert, falsch dargestellt (drei der vier Sprecher der Werkstatt waren Mitglieder der damaligen und heutigen Regierungspartei SPD) und anschließend komplett ignoriert.
Ich habe zehn Jahr als Politikwissenschaftler gearbeitet und als Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Urbanistik (difu) und des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) zahlreiche Politiker und Behörden beraten, darunter auch den Berliner Senat in Fragen der Stadtentwicklung. Aber eine solche bodenlose Unverschämtheit wie diese Bürgerwerkstatt habe ich noch nicht erlebt. Und dennoch sind fast alle Teilnehmer dieser Bürgerwerkstatt und eine überwiegende Mehrheit der Anwohner bis heute Gegner einer Bebauung des Geländes.
Werden Sie wenigstens dieses eine Mal Ihrer Pflicht als Volksvertreter gerecht und vertreten Sie die Interessen der Bürger: Geben Sie den ganzen Mauerpark frei! Park statt Profit!“
P.S.: Wer seine Einwände formulieren und einreichen möchte, muss weder in Berlin wohnen, noch deutscher Staatsbürger sein oder volljährig. Also, sechzehnjähriger Throatwobbler Mangrove aus Walla Walla, Washington State: Wir brauchen deine Stimme. Bis zum 16. März hast du noch Zeit.
Saga - Don't Be Late. https://www.youtube.com/watch?v=tYt7dWb2knc
Sonntag, 22. Februar 2015
Mein Gott: Mein Kampf!
Hudson William Ledbetter (Leadbelly) – Mr. Hitler. https://www.youtube.com/watch?v=VQva5wKSfzM
Nächstes Jahr soll Hitlers Bestseller „Mein Kampf“ wieder erscheinen. Aber in einer kommentierten Fassung. Vermutlich mit einem Jackass-Aufkleber auf dem Schutzumschlag: „Bitte nicht nachmachen, Kinder“.
Als Politikwissenschaftler hatte ich Zugang zum sogenannten „Giftschrank“, in dem die verbotenen Bücher, d.h. das konzentrierte Böse, aufbewahrt wurden, zu deren Lektüre es einer gewissen sittlichen Reife bedurfte, die man offensichtlich den Fachleuten zubilligte. Ab 2016 darf man es also unter jeden Weihnachtsbaum legen.
Für alle, die es nicht erwarten können, hier einige ausgewählte Zitate aus dem Werk:
Geld: „In eben dem Maße, in dem die Wirtschaft zur bestimmenden Herrin des Staates aufstieg, wurde das Geld der Gott, dem alles zu dienen und vor dem sich jeder zu beugen hatte.“
Revolte: „Je größer und innerlich revolutionärer nun eine Idee ist, um so aktivistischer wird deren Mitgliederstand werden, da mit der umstürzenden Kraft der Lehre eine Gefahr für deren Träger verbunden ist, die geeignet erscheint, kleine, feige Spießer von ihr fernzuhalten.”
Wehrpflicht: „Zehn deutsche Generationen ohne korrigierende und erziehende militärische Ausbildung, den üblen Wirkungen ihrer blutsmäßigen und dadurch weltanschaulichen Zerrissenheit überlassen — und unser Volk hätte wirklich den letzten Rest einer selbständigen Existenz auf diesem Planeten verloren.”
Selbsterkenntnis: „Schon mehr als einmal ist aus einem kleinen Angeber ein großer Schuft geworden!“
Männer: „Die Angst unserer Zeit vor Chauvinismus ist das Zeichen ihrer Impotenz. Da ihr jede überschäumende Kraft nicht nur fehlt, sondern sogar unangenehm erscheint, ist sie auch für eine große Tat vom Schicksal nicht mehr ausersehen. Denn die größten Umwälzungen auf dieser Erde wären nicht denkbar gewesen, wenn ihre Triebkraft statt fanatischer, ja hysterischer Leidenschaften nur die bürgerlichen Tugenden der Ruhe und Ordnung gewesen wären.“
Architektur: „Was wir heute in den Trümmerhaufen und Ruinenfeldern der antiken Welt als wenige noch aufragende Kolosse bewundern, sind nicht einstige Geschäftspaläste, sondern Tempel und Staatsbauten; also Werke, deren Besitzer die Allgemeinheit war.“
Armutsflüchtlinge: „Wie muss dies einst werden, wenn aus diesen Elendshöhlen der Strom losgelassener Sklaven über die andere, so gedankenlose Mitwelt und Mitmenschheit sich ergießt!“
Arbeit: „Die Unsicherheit des täglichen Brotverdienstes erschien mir in kurzer Zeit als eine der schwersten Schattenseiten des neuen Lebens. (…) So lockert sich der sonst fleißige Mensch in seiner ganzen Lebensauffassung, um allmählich zum Instrument jener heranzureifen, die sich seiner nun bedienen um niedriger Vorteile willen.“
Asien: „In wenigen Jahrzehnten wird zum Beispiel der ganze Osten Asiens eine Kultur sein eigen nennen, deren letzte Grundlage ebenso hellenischer Geist und germanische Technik sein wird, wie dies bei uns der Fall ist. Nur die äußere Form wird — zum Teil wenigstens — die Züge asiatischer Wesensart tragen.”
Verweiblichung: „Das Volk ist in seiner überwiegenden Mehrheit so feminin veranlagt und eingestellt, dass weniger nüchterne Überlegung als vielmehr gefühlsmäßige Empfindung sein Denken und Handeln bestimmt.“
Jugend: „Denn wenn eine Generation unter Fehlern leidet, die sie erkennt, ja sogar zugibt, um sich dann trotzdem, wie dies heute von Seiten unserer bürgerlichen Welt geschieht, mit der billigen Erklärung zu begnügen, dass dagegen doch nichts zu machen sei, dann ist eine solche Gesellschaft dem Untergang verfallen.”
Berlin: „Würde das Schicksal Roms Berlin treffen, so könnten die Nachkommen als gewaltigste Werke unserer Zeit dereinst die Warenhäuser einiger Juden und die Hotels einiger Gesellschaften als charakteristischen Ausdruck der Kultur unserer Tage bewundern.”
Beamte: „Kriechende Unterwürfigkeit nach 'oben' und arrogante Hochnäsigkeit nach 'unten' zeichnen diesen Stand ebenso sehr aus wie eine oft himmelschreiende Borniertheit, die nur durch die manchmal geradezu erstaunliche Einbildung übertroffen wird.”
Bildung: „Es soll ein scharfer Unterschied zwischen allgemeiner Bildung und besonderem Fachwissen bestehen. Da letzteres gerade heute immer mehr in den Dienst des reinen Mammons zu sinken droht, muss die allgemeine Bildung, wenigstens in ihrer mehr idealen Einstellung, als Gegengewicht erhalten bleiben.”
Religion: „Die Größe des Christentums lag nicht in versuchten Vergleichsverhandlungen mit etwa ähnlich gearteten philosophischen Meinungen der Antike, sondern in der unerbittlichen fanatischen Verkündung und Vertretung der eigenen Lehre.“
Propaganda: „Der Glaube ist schwerer zu erschüttern als das Wissen, Liebe unterliegt weniger dem Wechsel als Achtung, Hass ist dauerhafter als Abneigung, und die Triebkraft zu den gewaltigsten Umwälzungen auf dieser Erde lag zu allen Zeiten weniger in einer die Masse beherrschenden wissenschaftlichen Erkenntnis als in einem sie beseelenden Fanatismus und manchmal in einer sie vorwärtsjagenden Hysterie.“
Genie: „Fast immer bedarf es irgendeines Anstoßes, um das Genie auf den Plan zu rufen. Der Hammerschlag des Schicksals, der den einen zu Boden wirft, schlägt bei dem anderen plötzlich auf Stahl, und indem die Hölle des Alltags zerbricht, liegt vor den Augen der staunenden Welt der bisher verborgene Kern offen zutage.“
Gentrifizierung: „Die geringe Verbundenheit, die unser heutiges Großstadtproletariat mit seinem Wohnort besitzt, ist die Folge davon, dass es sich hier wirklich nur um den zufälligen örtlichen Aufenthaltsraum des einzelnen handelt und um weiter nichts. Zum Teil hing dies mit dem durch die sozialen Verhältnisse bedingten häufigen Wechsel des Wohnortes zusammen, die dem Menschen nicht die Zeit zu einer engeren Verbindung mit seiner Stadt gibt, zum anderen aber ist die Ursache hierfür auch in der allgemeinen kulturellen Bedeutungslosigkeit und Ärmlichkeit unserer heutigen Städte an sich zu suchen.“
Egoismus: „Sowie erst der Egoismus zum Regenten eines Volkes wird, lösen sich die Bande der Ordnung, und im Jagen nach dem eigenen Glück stürzen die Menschen aus dem Himmel erst recht in die Hölle.”
Ukraine: „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten.”
Demokratie: „Es ist nicht das Ziel unseres heutigen demokratischen Parlamentarismus, etwa eine Versammlung von Weisen zu bilden, als vielmehr eine Schar geistig abhängiger Nullen zusammenzustellen, deren Leitung nach bestimmten Richtlinien umso leichter wird, je größer die persönliche Beschränktheit des einzelnen ist.”
Politiker: „So sehr sich der wahrhaftige Führer von einer politischen Betätigung zurückziehen wird, die zu ihrem größten Teile nicht in schöpferischer Leistung und Arbeit bestehen kann, als vielmehr im Feilschen und Handeln um die Gunst einer Mehrheit, so sehr wird gerade diese Tätigkeit dem kleinen Geist entsprechen und diesen mithin auch anziehen. Je zwergenhafter ein solcher Lederhändler heute an Geist und Können ist, je klarer ihm die eigene Einsicht die Jämmerlichkeit seiner tatsächlichen Erscheinung zum Bewusstsein bringt, umso mehr wird er ein System preisen, das von ihm gar nicht die Kraft und Genialität eines Riesen verlangt, sondern vielmehr mit der Pfiffigkeit eines Dorfschulzen vorlieb nimmt, ja, eine solche Art von Weisheit lieber sieht als die eines Perikles.“
Parteien: „Daher sind auch jene politischen Klubs, die unter dem Sammelbegriff 'bürgerliche Parteien' sich herumtreiben, schon längst nichts anderes mehr als Interessengemeinschaften bestimmter Berufsgruppen und Standesklassen, und ihre erhabenste Aufgabe ist nur mehr die bestmögliche egoistische Interessenvertretung.”
Ideologie: „Es mag hier natürlich der eine oder andere lachen, allein dieser Planet zog schon Jahrmillionen durch den Äther ohne Menschen, und er kann einst wieder so dahinziehen, wenn die Menschen vergessen, dass sie ihr höheres Dasein nicht den Ideen einiger verrückter Ideologen, sondern der Erkenntnis und rücksichtslosen Anwendung eherner Naturgesetze verdanken.“
Arbeitszeiten: „Die formale Übernahme der alten Arbeitszeiten in den industriellen Großbetrieb wirkte geradezu verhängnisvoll; denn die tatsächliche Arbeitsleistung von einst war infolge des Fehlens der heutigen intensiven Arbeitsmethoden nur klein. Wenn man also vorher den Vierzehn- oder Fünfzehnstunden-Arbeitstag noch ertragen konnte, dann vermochte man ihn sicher nicht mehr zu ertragen in einer Zeit, da jede Minute auf das äußerste ausgenützt wird. Wirklich war das Ergebnis dieser sinnlosen Übertragung alter Arbeitszeiten auf die neue industrielle Tätigkeit nach zwei Richtungen unglückselig: die Gesundheit wurde vernichtet und der Glaube an ein höheres Recht zerstört. Endlich kam hierzu noch die jämmerliche Entlohnung einerseits und die demgemäß ersichtlich um so viel bessere Stellung des Arbeitgebers andererseits.“
Neoliberalismus: „Mit dem Siegeszuge der deutschen Technik und Industrie, den aufstrebenden Erfolgen des deutschen Handels verlor sich immer mehr die Erkenntnis, dass dies alles doch nur unter der Voraussetzung eines starken Staates möglich sei. Im Gegenteil, man ging schon in vielen Kreisen so weit, die Überzeugung zu vertreten, dass der Staat selber nur diesen Erscheinungen sein Dasein verdanke, dass er selber in erster Linie eine wirtschaftliche Institution darstelle, nach wirtschaftlichen Belangen zu regieren sei und demgemäß auch in seinem Bestände von der Wirtschaft abhänge, welcher Zustand dann als der weitaus gesündeste wie natürlichste angesehen und gepriesen wurde.“
Haben Sie tapfer bis zum Ende durchgehalten? Sind Sie überrascht? Viele dieser Zitate lassen sich auch heute noch mühelos in eine beliebige Parteitagsrede einbauen, oder? Links wie rechts. Es ist in Hitlers „Mein Kampf“ für jeden etwas dabei, vom Idealismus bis zum Völkermord, von Kindeswohl bis Rassenschande („Verpestung durch Negerblut am Rhein”). Das macht dieses Gift so gefährlich, darum hatten wir es im Giftschrank der Universität verborgen. Schließlich war der Begriff „Nationalsozialismus“ als Verknüpfung von Nationalismus und Sozialismus aus der Perspektive des politischen Marketings eine geniale Idee. So konnte eine „catch all party“ entstehen, für deren Wahl es genügte, Deutscher zu sein.
P.S.: MELANIE SCHLINCK !!!
Und diese Musik habe ich als fünfzehnjähriger Nachwuchsanarchist gehört – das gab’s in keinem Plattenladen: Checkpoint Charlie - Hitler in Dosen. https://www.youtube.com/watch?v=aXor8uumXlQ
Ach, komm. Einen hammwa noch. Gegen Kapitaschismus. Nach der ganzen unerträglichen Nazi-Jauche haben wir uns das verdient. Checkpoint Charlie - Du sollst dein Leben nicht den Schweinen geben. https://www.youtube.com/watch?v=6-VuW4I-Re0
Samstag, 21. Februar 2015
Gerhard
Langsam gehen wir in den Wald hinein. Ruheforst Rheinhessen-Nahe in Waldalgesheim. Es sind etwa dreißig Trauergäste erschienen. Die Familie des Toten: seine Frau, seine Kinder, seine Enkel. Freunde, der Bürgermeister, der Bestatter. Und die Stammgäste: die Frauen von der Kartenspielrunde (jeden Freitag), Dartspieler, Fußballfans, bewährte Tresenhelden und der Weinlieferant aus unserem Dorf. Heute wird unser Wirt beerdigt.
Es ist kein Pfarrer anwesend. Der Förster, der für den Ruheforst zuständig ist, hält eine fünfminütige Ansprache. Gerd ist 55 Jahre alt geworden. Sein Herz gehörte dem FC Bayern München und sein Traum war eine eigene Kneipe. Diesen Traum hat er sich erfüllt: die „Bierpumpe“. Der Förster erwähnt nicht die trauernde Familie und auch nicht den Lebensweg des Verblichenen. Arbeiter beim Opel in Rüsselsheim. Buckel krumm gemacht, Familie gegründet, Haus gebaut (bis heute noch unverputzt, aber es steht!). Die Sonne scheint, als wir hinter der Urne, die vom Bestatter getragen wird, zur Grabstelle laufen.
Dann wird es Zeit für den Abschied. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass dieser gewaltige Mensch in das winzige Loch passt, in das ihn der Bestatter jetzt mit professionell zerknittertem Gesicht hinab lässt. Noch irgendeine Internetweisheit des Försters und dann beginnt das Leiden. Die verheulten Familienmitglieder werfen Blütenblätter auf die Urne und manche auch Erde, für die ein Schäufelchen bereitsteht. Das helle Schluchzen der kleinen Enkelin. Wir wagen es kaum hinüber zu schauen, als sie Trost und Geborgenheit in den Armen ihrer Mutter sucht.
Dann gehen die Freunde ans Grab. Ich schaffe es nicht, andere auch nicht. Die Frauen gehen mutig nach vorne, die Tränen fließen über die Backen, der kalte Rotz läuft ihnen in den zitternden Mund und ich bewundere sie in diesem Augenblick. Eure Schwäche ist eure Größe, die uns nie vergönnt sein wird. Wir Männer dürfen nicht weinen, weder ich noch der gestandene Offizier und Großvater neben mir, mit dem ich beim Gerd so manchen Schoppen getrunken habe.
Auf dem Rückweg zum Parkplatz lösen sich Rührung und Trauer allmählich in leise Scherze auf. Man hätte doch ein Fass aufstellen können. Der bekannte Dorftrinker, der natürlich auch gekommen ist, hätte doch seinen letzten Deckel an den Baum hinter dem Grab nageln können. Die alberne Försteransprache. Bayern München erwähnt. Ausgerechnet. Wir fahren zu Edeka. Jägermeister auf Ex.
Am Abend treffen wir uns zum letzten Mal in Gerds Kneipe. Er hat es so gewollt. Und alle sind gekommen. Mit vollen Gläsern stoßen wir auf ihn an. Er hat sich gewünscht, dass nichts übrig bleibt. Dass wir alle Flaschen auf sein Wohl leer machen. Jeder gibt, was er kann, in eine Spendenkasse. Die Familie hat es schwer genug, Gerds Rente und die Kneipe waren ihr einziges Einkommen. Der letzte Wirt des Dorfes ist tot. Niemand ist traurig, aber alle sind sentimental. Erzählen Geschichten. Vor einigen Wochen hat er noch hinter der Theke gesessen. Gestanden hat er schon lange nicht mehr, weil er immer schwächer geworden ist. Die endlosen Hustenanfälle bei seinen letzten Zigaretten. Am Ende hat er nur noch Nullzweier Sinalco-Schoppen getrunken. Diese Kindergläser - für diesen riesigen Mann. Er hat kaum noch etwas essen können, immer wieder verschwand er für Wochen auf der Intensivstation des Krankenhauses in Bad Kreuznach, der Stadt, in der er geboren wurde.
Aber an diesem Abend sind noch einmal alle gekommen. Auch Hajo, der alte Matrose. Heimathafen Hamburg, letzte Anlegestelle Schweppenhausen. Hajo erzählt noch einmal seine Geschichten. Von dem sechzehnjährigem Schiffsjungen, der von einer riesigen Welle von Bord gespült wurde und von der nächsten Welle wieder an Deck getragen wurde. Diesen Tag haben sie als zweiten Geburtstag des Glückspilzes gefeiert, als der Sturm vorüber war. Wie er in Buenos Aries in einer Hafenkneipe einen Deckel gemacht hat und ein Jahr später, als niemand mehr damit gerechnet hat, wieder zurück kam und die Zeche gezahlt hat. Die ganze Nacht hat er vom Wirt alles umsonst bekommen, so hat der sich gefreut. Ich sag nur Yokohama. Drei Monate mit Maschinenschaden, jeden Abend Chinatown. Gibt’s da, kannste mir glauben. Hajo ist aus der Türkei und hat alle sieben Meere gesehen. Schon sein Vater und sein Großvater waren als Kapitän auf dem Schwarzen Meer unterwegs. Mindestens. Eher Admiral. Prost! Alte Seefahrerfamilie, sowas triffst du nur in der „Bierpumpe“.
Anne Clark - Sleeper In Metropolis. https://www.youtube.com/watch?v=aQ8GDG6Pygg
Freitag, 20. Februar 2015
Der Einzeller
Vor einigen Tagen habe ich geschrieben, dass die Gastronomie in Schweppenhausen verschwunden und damit den Geschäften gefolgt ist. Es gibt nichts mehr in diesem Dorf und neulich fragte mich ein Mainzer Freund in seiner Stammkneipe, dem „Kurfürst“, beim Schoppen, wann wir denn die Ortsschilder abschrauben würden. Aber dieses Dorf lebt. Seit dem Sommer vergangenen Jahres haben wir eine eigene Bibliothek, die „Bücherzelle“. In einer ehemaligen Telefonzelle (auch sie sind vom Aussterben bedroht) werden den lesenden Dorfbewohnern etwa dreihundert Bücher angeboten. Ich selbst habe seinerzeit zwei Dutzend Bücher gespendet, ich erinnere mich an eine Tolstoi-Biographie und einen Hemingway.
Die Idee gab es schon lange. Es wurde oft darüber gesprochen. Das Für und Wider abgewogen. Ein Beispiel für die bedächtige Ruhe des Landmenschen, dessen sorgfältiges Erwägen wohldurchdachter und liebevoll gepflegter Pläne manchmal Jahre dauern kann. Dann wurde im Nachbardorf eine Bücherzelle eröffnet und das Projekt erwies sich als bescheidene Erfolgsgeschichte. Und so bewegte sich die Diskussion in Schweppenhausen schließlich auf ein Ergebnis zu: Das machen wir auch. Und wir haben es gemacht. Das Angebot wird gerne angenommen und die ungeschützte Zelle ist auch noch nicht demoliert oder ausgeraubt worden. Jetzt warte ich auf eine kulturelle Zellteilung.
http://www.allgemeine-zeitung.de/lokales/bad-kreuznach/vg-stromberg/schweppenhausen/futter-fuer-leseratten-aus-der-zelle_14344034.htm
P.S.: Aus meiner aktuellen Lektüre: Gabriel Chevallier schreibt in seinem Roman „Clochemerle“, „dass der Besitz der jeweils allerneuesten Wagen eine Angelegenheit reichgewordener Schweinehändler ist“.
Lafayette Afro Rock Band – Hihache. https://www.youtube.com/watch?v=A3ckIovZRwk
Canned life
"Alles Unglück der Menschen entstammt einem, nämlich dass sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können." (Blaise Pascal)
„Als eine banausische Arbeit... hat man jene aufzufassen, die den Körper oder die Seele oder den Intellekt der Freigeborenen zum Umgang mit der Tugend und deren Ausübung untauglich macht. Darum nennen wir alle Handwerke banausisch, die den Körper in eine schlechte Verfassung bringen, und ebenso die Lohnarbeit. Denn sie machen das Denken unruhig und niedrig. (...) Denn die Muße, um noch einmal von ihr zu reden, ist der Angelpunkt, um den sich alles dreht. Denn wenn auch beides sein muss, so ist doch das Leben in Muße dem Leben der Arbeit vorzuziehen, und das ist die Hauptfrage, mit welcher Art Tätigkeit man die Muße auszufüllen hat. Man wird doch wohl nicht behaupten wollen, dass man sie auf eitles Spiel verwenden müsse. Dann wäre ja das Spiel der Zweck unseres Daseins. Wenn das aber unmöglich ist, und man des Spieles vielmehr bei der Arbeit pflegen soll - denn der Müde braucht Erholung, und das Spiel ist der Erholung wegen, und die Arbeit geschieht mit Mühe und Anstrengung -, nun, so folgt, dass man dem Spiele nur mit Beobachtung der rechten Zeit seiner Anwendung Raum geben darf, indem man es wie eine Medizin gebraucht. Denn eine solche Bewegung der Seele ist Ausspannung und wegen der damit verbundenen Lust Erholung. Die Muße dagegen scheint Lust, wahres Glück und seliges Leben in sich selbst zu tragen. Das ist aber nicht der Anteil derer, die arbeiten, sondern derer, die feiern. Denn wer arbeitet, arbeitet für ein Ziel, das er noch nicht erreicht hat, das wahre Glück aber ist selbst Ziel und bringt, wie allen feststeht, nicht Schmerz, sondern Lust.“ (Aristoteles, Politik, 1337b)
„Dabei ist Arbeit in ihrer jetzigen Form eine relativ moderne Erscheinung. Naturvölker arbeiten nicht mehr als drei bis vier Stunden täglich und Stämme wie die Nuer halten es sogar für ein böses Omen, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zu arbeiten. Noch im frühen Mittelalter und in den Hochkulturen der Antike war Arbeit im heutigen Sinne meist unbekannt oder von geringem Wert." (http://www.zeit.de/karriere/2012-10/leserartikel-zu-viel-arbeit)
„Die größte Offenbarung ist die Stille.“ (Laozi)
Donnerstag, 19. Februar 2015
Ein deutsches Vietnam?
Es ist noch nicht allzu lange her, dass ein deutscher Kriegsminister verkünden durfte, unsere Freiheit würde am Hindukusch verteidigt. Wir verteidigten uns gegen die Afghanen, die uns gar nicht angegriffen hatten – und das günstigerweise auch noch in ihrem Land. Glückliche Zeiten, als mit dem „rot-grünen Projekt“ endlich auch einmal die Alt-68er an der Macht waren. Hunderte von toten Afghanen und Deutschen später (endlich wurde auch einmal den Sozialdemokraten und den Grünen die Ehre zuteil, die hiesigen Soldatenfriedhöfe beliefern zu dürfen) sind wir von der Vorstellung, unsere kostbare Heimaterde und die sogenannten westlichen Werte in weiter Ferne verteidigen zu müssen („jwd-Doktrin“) noch immer nicht geheilt.
Die Bundeskanzlerin ist in die Auseinandersetzung in der Ukraine permanent involviert. Friedensverhandlungen unter der gnädigen Obhut des weißrussischen Diktators, Gespräche am Hof des Zaren, finanzielle Unterstützung der Ukraine. Die EU hat dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko 11 Milliarden Euro zugesagt.
http://europa.eu/newsroom/files/pdf/ukraine_en.pdf
Einem Land, dessen Bruttosozialprodukt allein im vierten Quartal 2014 um 15 Prozent eingebrochen ist und dessen Währung in den letzten zwölf Monaten um zwei Drittel gegenüber dem Euro an Wert verloren hat. Wie sollen diese Schulden jemals zurückgezahlt werden? Und viel wichtiger: Für was wird das Geld von der Kriegspartei Ukraine verwendet? Vermutlich hauptsächlich für Waffen, Munition, Nachschub und Sold.
„In der ‚Tagesschau‘ vom 13. Februar, also einen Tag nach dem Minsker Gipfel, wurde der ukrainische Präsident gezeigt, wie er Angehörige der ukrainischen Nationalgarde mit Orden auszeichnete. Poroschenko sagte bei diesem Anlass: ‚Niemand ist davon überzeugt, dass die Bedingungen von Minsk nun streng umgesetzt werden. Der Frieden wird nicht in den Hallen der Diplomatie entschieden, sondern in den Schützengräben.‘“ (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-abkommen-von-minsk-droht-endgueltig-zu-scheitern-a-1018974.html)
Wir finanzieren längst einen Stellvertreterkrieg. In der Ukraine kämpfen die Stellvertreter des Westens gegen Stellvertreter der Russen. Und die Ukrainer fordert den Westen unverblümt zur Teilnahme an diesem Krieg auf. Die Amerikaner haben Waffenlieferungen angekündigt, die „Grünen“ in Deutschland fordern sie seit Wochen. Der nächste Schritt sind „Ausbilder“ (wie in Vietnam) und Söldner. Am Ende der Entwicklung steht die Entsendung regulärer Truppen. Das sind die Stufen der Eskalation – und Deutschland ist mittendrin.
Unser Mann in Saigon, Poroschenko, will diesen Krieg. Er hat in Debalzewe kaltblütig zugeschaut, wie seine Truppen eingekesselt wurden. Er hat nicht den Befehl zum Rückzug gegeben. Er hat sie geopfert wie Hitler die sechste Armee in Stalingrad. Sieg oder Tod! Und so sind diese Menschen für ihn gestorben. Die Separatisten melden heute über dreitausend tote ukrainische Soldaten, Poroschenko spricht von sechs Gefallenen. Wir kennen die Wahrheit nicht – wie immer.
P.S.: Die Massenmorde in der Ukraine im vergangenen Jahr – Euromaidan (18.2.14), Odessa (2.5.14), Malaysia Airlines Flug 17 (17.7.14) - sind immer noch nicht aufgeklärt. Sie werden interessanterweise aber auch nicht mehr für die anti-russische Agitation eingesetzt.
P.P.S.: Der Massenmörder (Generalfeldmarschall) und spätere Reichspräsident Hindenburg macht Werbung für Lutschbonbons. https://www.flickr.com/photos/punalippu/2518773201/
Zur Qualität des Rohstoffs Information
Ich werde das Gefühl nicht los, die Berichterstattung in den Medien werde immer schlechter und eindimensionaler. Geht es nur mir so? Ist es der Glaube, früher sei es besser gewesen? Ist es also nur eine Alterserscheinung? Ich gehe davon aus, dass es anderen Menschen auch so geht. Ich höre es in Gesprächen, ich lese es im Internet. Es ist keine Frage des Alters, wenn man sich um die Qualität der Berichterstattung in Presse, Funk und Fernsehen seine Gedanken macht.
Wie funktioniert Journalismus? Wie werden die Berichte hergestellt, die wir täglich konsumieren? Der Rohstoff für die Produktion von Berichten, Kommentaren, Reportagen, Features, Leitartikeln, Dokumentationen, Glossen usw. ist die Information. Es ist etwas passiert. Irgendwo auf der Welt. Die Redaktion wählt aus, ob für den Zuschauer, Zuhörer oder Leser diese Information relevant ist. Dann werden für uns die W-Fragen beantwortet: Was? Wer? Wann? Wo? Wie? Warum? Soweit ist alles klar.
Wie wird dieser Rohstoff hergestellt? Man kann ihn selbst herstellen. Dazu braucht man ein Netzwerk von Korrespondenten, die wiederum ein Netzwerk von Zuträgern und Kontaktleuten in der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, in Verbänden und Religionsgemeinschaften usw. unterhalten. So bekommt man den puren Stoff. Information im Eigenanbau. Oder man kann sich den Rohstoff liefern lassen. Von Nachrichtenagenturen, von amtlichen Stellen, von anderen Medien. Informations-Catering. Das spart Kosten.
Nehmen wir als kleines Beispiel das Inferno in der arabischen Welt: Syrien, Irak, Jemen. Wie kommen die Medien, die uns zu Hause mit dem täglichen Informationsmenü beliefern, eigentlich an den Rohstoff, aus dem die „Tagesschau“ oder das „heute-journal“ gemacht sind? Die beiden großen deutschen Sendeanstalten, die mit vielen Milliarden Euro von den Privathaushalten alimentiert werden, haben in ganz Asien jeweils vier Korrespondenten. Lustigerweise sind die vier ARD-Korrespondenten in denselben Städten wie die vier ZDF-Korrespondenten. Die Auslandsstudios sind in Tel Aviv am Mittelmeer, dann kommt gaaanz lange nichts und die anderen drei finden wir in Ostasien (Tokyo, Singapur, Peking).
In Asien leben vier Milliarden Menschen. In den arabischen Ländern herrscht Krieg. Woher kommt beispielsweise der Rohstoff Information für ARD und ZDF? Und von den Privatsendern möchte ich gar nicht reden. Viele haben noch nicht einmal Korrespondenten vor Ort. RTL hat acht Korrespondenten weltweit, aus Asien berichtet man von den Standorten Jerusalem und Peking, Pro7/SAT1/N24 deckt den gesamten asiatischen Raum mit einem einzelnen Korrespondenten in Jerusalem ab. Die Korrespondenten sind die Augen und die Ohren der Nachrichtenredaktionen. Unsere Nachrichten werden so gemacht: In den Redaktionen auf dem Mainzer Lerchenberg und anderswo sitzen die Journalisten im Bunker, taub und blind, und werden von Reuters und anderen Nachrichtenverkäufern mit dem Rohstoff gefüttert. Außerdem ergießt sich eine uferlose Flut von Pressemitteilungen aus amtlichen Stellen, Parteien, Unternehmen und Interessenverbänden 24 Stunden am Tag in diesen Bunker.
Wir sollten uns über die Qualität der Medienerzeugnisse also nicht wundern. Es ist wie mit Fertiggerichten aus dem Supermarkt. Man kann es essen, niemand stirbt nach dem ersten Bissen, aber man sollte es vermeiden. Pferdefleisch in der Tiefkühllasagne, CIA in der Falschmeldung über russische Panzerkolonnen in der Ukraine. Die Menschen haben Recht, wenn sie ein tiefes Misstrauen gegen die Berichterstattung in den Mainstream-Medien entwickeln. Es hat vermutlich niemals unabhängigen Journalismus für die breite Masse der Medienkonsumenten gegeben, aber in diesen Tagen sind wir weiter davon entfernt als jemals zuvor. Es gibt nur eine Lösung: Wir müssen selbst nachdenken und uns eine eigene Meinung bilden. Die Medien sind in dieser Hinsicht keine große Hilfe.
Fleetwood Mac - Go Your Own Way. https://www.youtube.com/watch?v=6ul-cZyuYq4
Mittwoch, 18. Februar 2015
Reisebericht
Wikipedia ist ja immer eine Reise wert. Da schreibe ich einen Text über den Berliner Flughafen und seinen geheimnisvollen Bezug zur Lage der griechischen Staatsfinanzen. Natürlich kommt mir sofort der Jahrhundertmanager Hartmut Mehdorn (welch schöner deutscher Name – er könnte auch Erwin Stahlberg heißen) in den Sinn. Also schaue ich im uferlosen Online-Lexikon nach. Wussten Sie, dass dieser Mann 1942 in Warschau geboren wurde? Damals noch fest in deutscher Hand. Sein Vater hatte dort beruflich für die Wehrmacht zu tun. Der „passionierte Ruderer“ gehört zur Burschenschaft Freakonia, tschuldigung: Frankonia Berlin und war „Ökomanager des Jahres 2000“.
Ich klicke weiter zum BER. Das ist ja nicht nur das Kürzel des geplanten Flughafens, dessen Bau Herr Mehdorn leitet. Nein, wir sind hier beim „Bund zur Erneuerung des Reiches“ in der Weimarer Republik, der sich der „Stärkung des Führergedankens“ verpflichtet fühlt. Den Gründungsaufruf unterzeichnen die Herren Thyssen, Krupp, Bosch und Siemens sowie ein Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Und schon sind wir beim nationalsozialistischen Verleger Alfred Hugenberg, der diese Organisation bekämpfte, weil ihm die Vorschläge des BER nicht weit genug gingen. Der braune Medienmogul gab von der „Gartenlaube“ bis zu „Eiserne Blätter“ alles heraus, was ihm Geld einbrachte. Hinter seinem Konzern steht die „Wirtschaftsvereinigung zur Förderung der geistigen Wiederaufbaukräfte“, die ihn zum höheren Ruhme unseres prächtigen Vaterlandes tatkräftig unterstützte. Und von Hugenberg geht die gedankliche Reise zurück zur aktuellen Berichterstattung über Griechenland …
P.S.: Deutschlands Zukunft hat einen Namen: Melanie Schlinck. http://www.schleckysilberstein.com/2015/02/melanie-schlinck-die-npd-hat-endlich-wieder-einen-endgegner/
So wie unsere Urahnen die Venus von Willendorf angebetet haben, verehren die pfälzischen Waldnazis dieses Monstrum. Hieronymus Bosch hätte diesen Dämon sicher auf einem seiner Höllengemälde verewigt. Ich dachte im ersten Moment, die Titanic oder der Postillon steckt hinter Melanie Schlinck. Allein der Name … Horst Schlunz wäre ja schon schlimm genug gewesen, aber … Melanie … Schlinck …??? Oder will Gott uns ein Zeichen geben? Ist Kaiserslautern etwa Harmagedon? Steht der Untergang bevor? Griechen-Raffke, Russen-Hitler, Helene Fischer und Melanie Schlinck als Reiter der Apokalypse?
2010
Auszüge aus dem Notizbuch:
26. Januar, Berlin. Ich trinke, um zu vergessen. Ich schreibe, um mich zu erinnern.
31. Januar. „Wohin sind die beiden köstlichsten Gemüse verschwunden, die unser Garten zu bieten hat? Die Rede ist natürlich von Wirsing und Mangold. Sie sind von unseren Speisekarten gestrichen, niemand kennt sie mehr. Hinfort, arglistiger Broccoli! Weiche von mir, finstere Zucchini! Gebt mir Wirsing und Mangold, ihr Köche!“ (Aus einem Entwurf zu meiner Rede über die Sozialgeschichte der Beilagen)
4. Februar. „Hier kackte Goethe in der Not/ Er blieb nicht mal zum Abendbrot.“ (Inschrift an einem alten Dorfgasthof)
9. Februar. N.? Den kannte ich schon, als ich noch auf Bierdeckeln publiziert habe.
24. Februar. Am 17. bestelle ich einen neuen Fernseher per Internet, der am 18. Februar geliefert wird. Tage später erhalte ich einen Brief mit Datum vom 18., in dem mich die GEZ auffordert, das Gerät anzumelden. Soviel zum Thema Datenschutz. Ich kapituliere und werde Gebührenzahler.
27. Februar. Auf seinem Grabstein stand: „Und am Ende war er auch zu faul zum Atmen.“
Man fühlt sich als Mensch des 21. Jahrhunderts ja schon allein durch seine Frisur kulturell überlegen, wenn man Bilder aus den siebziger und achtziger Jahren betrachtet.
5. März. Vorstellung einer idealen Welt von Linda (sechs Jahre alt): Eine Hälfte der Welt gehört den friedlichen Menschen und Tieren. Hier wird kein Tier getötet, Fleisch zu essen ist verboten. Alle anderen Menschen und Tiere leben im anderen Teil der Welt. Falls sie zu Besuch kommen, müssen sie nett zu allen sein, sonst kommen sie ins Gefängnis. Für alle ist in dieser Welt genug zu essen da.
14. April. Langsam glitt die „Full of Tatendrang“ in den Hafen, lautlos, elegant, unheimlich.
23. April. Dass die Leute immer so übertreiben müssen. Zum Beispiel mit den Pyramiden. Hätte es nicht auch ein schlichter Grabstein getan?
31. Mai. In Sachen Politik und Wirtschaft ist dieses Jahrhundert bisher eine einzige Enttäuschung. Wenn man es umtauschen könnte, würde ich dieses Montagsjahrhundert jetzt zurückbringen. Immerhin sind Horst Köhler und der schwarze Hai Roland Koch zurückgetreten.
15. Juni. Derzeit arbeite ich an meinem ersten Comedy-Bühnenprogramm zum Thema „Flugreisen“. Ich werde einige süffisante Bemerkungen zu den vorgeführten Filmen und zu den Mahlzeiten machen, die im Flugzeug serviert werden. Außerdem sage ich was zu den Sicherheitskontrollen an Flughäfen, das dem Establishment da oben zu denken geben dürfte!
29. Juli. Und am Ende wirst du sagen: Es hat Höhlen und Tiefen gegeben.
31. Juli. „Beeindruckender Mehrfachnieser“ gibt es nicht bei Google. Obwohl er eben durch meine Wohnung gellte.
Dich kann nichts mehr brechen, wenn du bereits zerbrochen bist. Es bringt nichts, auf einen Scheißhaufen einzuprügeln oder ihn zertrampeln zu wollen. Unwichtig sein, an guten Tagen Reißzwecke im Arsch der Gewinner sein.
12. August. Batterien und Schiffe – beide können auslaufen. Gemüse und Menschen – beide können auflaufen. (aus meinem Gedichtzyklus „Scheinbare Zusammenhänge“).
16. August, Prag. In den Achtzigern war die Stadt heruntergekommen und leer, sie wirkte wie eine Stummfilmkulisse. Damals hat sie mir besser gefallen, aber trotzdem fahre ich gerne hin und besuche den Franz. Ich bin nicht nur aus alter Verbundenheit gekommen, sondern auch wegen meines aussichtslosen Schriftstellerlebens. Ich werde keine Romane mehr schreiben. Ein Besuch ohne Wünsche und Erwartungen, der am Morgen dramatisch wirkende Himmel löst sich in heiterem Sonnenschein auf. Ich muss niemandem sagen, dass meine Schriften vernichtet werden sollen – es ist bereits während des Schreibens Altpapier, zugeschmiertes Recyclingmaterial. Der Franz hat es verstanden. Fünf schöne Biere im schwarzen Ochsen, das Geplauder der Gäste wirkt so entspannt wie das rituelle Murmeln buddhistischer Mönche. Auf dem Rückweg zur liebenswerten Pension Dientzenhofer am Teufelsbach auf der Kleinseite genehmige ich mir ein köstliches Gulasch bei den sieben Schwaben. Draußen blendet die Sonne und drinnen stolpert man traumblöde im Kerzenlicht zu einem Tisch. Ich sollte noch erwähnen, dass ich heute fast von einer Straßenbahn überfahren worden wäre. Unbemerkt hatte sie sich von links angeschlichen, während ich nach rechts blickte. Kopfschütteln des Fahrers, böse Blicke der Fahrgäste. Aber noch endet die Geschichte nicht.
20. August. Die Deutschen haben so viele verschiedene Ausdrücke für Geld wie Eskimos für Schnee.
Pirna: Den älteren Menschen auf dem Bahnsteig scheint die Enttäuschung ins Gesicht gemeißelt zu sein. Der kleine Mann mit dem aufgedunsenen knallroten Gesicht. Den Kopf hat er schiefgelegt, die erstarrte Pose des Bittstellers. Beide Arme sind mit irgendwelchem Schulbankgeschmiere tätowiert. Er stinkt, als würde er seine eigene Pisse ausschwitzen.
4. September, Berlin. „Was kann man von einem Sessel lernen? Die Gelassenheit gegenüber jedem Arschloch.“ (Josef Hader)
5. September. Politische Symbolik hoch Tausend: Meine Wohnung hat zwei große Fenster nach Westen, zwei kleine Fenster nach Süden und nach Norden – und nach Osten nur den Türspion.
15. September. Beruflicher Plan: als abschreckendes Beispiel in Schulklassen auftreten.
24. Oktober. Meine gegenwärtige Stellung in der Berufswelt hat verblüffende Parallelen mit K. im Schlossroman. Nutzlosigkeit an der äußersten Peripherie des Systems. Nur geduldet, obwohl die Duldung längst bereut wird.
25. November. Am Anfang bekommt man sein Leben geschenkt, später muss man es sich verdienen. Der Kapitalismus ist auch nicht besser als irgendein Heroin-Dealer.
26. November. OINK = One Income No Kid.
10. Dezember. Habe die Biographien von Joseph Roth und Carl Zuckmayer gelesen. Neben den üblichen Parallelen (Alkohol, Niederlagen) auch überraschend neue: das Leben in meinem Berliner Kiez, andere Orte wie Vermont, Kurische Nehrung oder Wien. Mein Schriftstellerleben ist im Vergleich zu diesen Menschen natürlich nur das Spiel eines Kindes, aus einem Kindergedanken, einem Kindheitstraum ist ja mein Leben der letzten Jahre erst entstanden. Es scheint nur zwei Arten von Schriftstellern zu geben: Die einen schreiben erst und trinken dann, die anderen machen es umgekehrt.
15. Dezember. 1991 bin ich als Niemand nach Berlin gekommen. Immerhin habe ich mich nicht verschlechtert.
24. Dezember. Früher ahnte man, dass viele Menschen „schreiben“. Seit es Internet gibt, weiß man das. Narzisstischer Dilettantismus als Massenphänomen.
27. Dezember. Dicker Schnee überall, im Baum gegenüber sitzen Vögel. Es scheint, als blickten sie sehnsüchtig zu mir hinein. Für einen Augenblick denke ich: Es sind die Seelen verstorbener Menschen. Sie erinnern sich vage an das Leben, das sie einst geführt haben. Ich denke an sie, als ich mein altes Brot kleinschneide und aus dem Fenster werfe.
Pink Floyd - Hey You. https://www.youtube.com/watch?v=ymgYEQgSqLI
Dienstag, 17. Februar 2015
Die Akropolis von Berlin
Was hat die Ruine des geplanten Berliner Flughafens in Schönefeld mit dem antiken Wahrzeichen der griechischen Hauptstadt gemeinsam? Sie sind beide Symbole für die Verwendung von Steuergeldern in Europa im Jahre 2015. Wir wissen, dass der Flughafen niemals fertig wird. Und falls er wider Erwarten fertig ist, wird er ein Subventionsloch bleiben. Und wir wissen, dass Griechenland niemals seine Schulden zurückzahlen wird, weil es sie schlicht und einfach nicht zurückzahlen kann.
Was passiert also? Man macht so weiter wie bisher. In Berlin wird gebastelt und mit Athen wird verhandelt. Es wird nichts ändern, wenn in dieser Woche die EU mal wieder über die griechischen Finanzen debattiert. Das tut man seit fünf Jahren. Keiner der Beteiligten will einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion. Gäbe es einen solchen Austritt (die Wortspielkinder in den Dino-Medien nennen ihn „Grexit“ und finden das alles furchtbar lustig), könnte entweder ein Chaos ausbrechen (wenn’s nicht klappt) oder die nächsten Länder drängeln sich zum Ausgang (wenn’s klappt). Konkret bedeutet das: die mit Steuermilliarden geretteten Großbanken machen riesige Verluste oder der Euro bzw. die Währungsunion ist am Ende.
Immer schön bei der Herde bleiben. Bitte nicht die Karawane verlassen! Einzelgänger fallen unter die Räuber, denn da draußen in den unbekannten Weiten des selbstbestimmten Lebens lauert bekanntlich die Gefahr. Also wird die griechische Farce mit neuen Geldern am Leben gehalten – so wie die Berliner Großbaustelle. „Kicking the can down the road“, wie es im Fachjargon des modernen Politikmanagements heißt. Einfach immer so weitermachen. Kostet ja nur Steuergelder und die Geldgeber sind schließlich unmündige Angsthasen, denen man in den Nachrichtensendungen und in der Presse das Märchen von der bestmöglichen Lösung, hart erkämpften Kompromissen und der Alternativlosigkeit als Mittel der Politik erzählt.
Historischer Exkurs: Bis ins 19. Jahrhundert gibt es die soziale Figur des Dieners, des Leibeigenen, der sich aus dem antiken Sklaven entwickelt hat. Noch in den Romanen von Charles Dickens, die nach der Aufhebung der Leibeigenschaft spielen, finden wir Menschen, die als Diener von offensichtlichen Versagern arbeiten, die sie nur mühevoll ernähren können, denen sie dennoch treu ergeben sind und von deren Geschäftsideen sie sich eine gesicherte Zukunft erhoffen. Dieser soziale Typus findet sich als „braver Steuerzahler“ auch noch im 21. Jahrhundert.
P.S.: Während die BILD im Stürmer-Stil von „Griechen-Raffkes“ geifert, die jedoch bei Finanzminister Schäuble abBLITZen würden, und SPON die Mitglieder der neuen Regierung in Griechenland als „Pokerspieler“ bezeichnet, die nur bluffen würden, hier zwei andere Meinungen.
Paul Krugman: http://www.rutlandherald.com/article/20150217/OPINION04/702179959
Mathew D. Rose: http://www.nachdenkseiten.de/?p=25072
Musikalische Begleitung: Mireille Mathieu - Akropolis Adieu. https://www.youtube.com/watch?v=qDc4udA_Y4g
Lucke
Beim Namen „Lucke“ denkt man ja immer an Bernd, den anstrengend streberhaften Vorsitzenden der unsäglichen AfD. Ich denke aber an meinen alten Schul- und Sportkameraden Albrecht von Lucke, der als politischer Publizist in Berlin hervorragende Arbeit leistet.
http://de.wikipedia.org/wiki/Albrecht_von_Lucke
P.S.: Das Kiezschreiber-Blog wird jetzt auch von renommierten Ökonomen, Hanno Beck und Aloys Prinz, in der Fachliteratur empfohlen. Das Buch heißt „Bullshit Economics“ und befasst sich mit dem Bullshit, den Politiker uns tagein tagaus erzählen. Guter Stoff!
https://books.google.de/books?id=z6HvBQAAQBAJ&pg=PT104&lpg=PT104&dq=kiezschreiber&source=bl&ots=U7vKXpSd5n&sig=NmaNUQ7XKhz2p1WY-g3C49AEunU&hl=de&sa=X&ei=nR3iVMmPF8mqU6XsgMgN&ved=0CCAQ6AEwADgU#v=onepage&q=kiezschreiber&f=false
Montag, 16. Februar 2015
Fifty shades of brown
In Braunschweig wurde der Karnevalsumzug, zu dem eine Viertelmillion Menschen erwartet wurden, wegen eines vermuteten Terroranschlags abgesagt. Die Polizei fuhr mit Lautsprecherwagen durch die Stadt und schickte die Narren nach Hause, unter anderem Witzbolde, die sich als Terroristen verkleidet hatten. Die Durchsagen begannen mit den Worten „Dies ist kein Scherz“.
O süßes Gift des Terroralarms! Ein anonymer Anruf genügt und es werden die Reichsparteitage jedweder Couleur abgesagt, Spiele des FC Bayern, Computermessen, Nazi-Demos, Talkshows ... man kann die Schule ausfallen lassen und den eigenen Arbeitsplatz (sofern man aushäusig beschäftigt ist) zur verbotenen Zone erklären lassen.
Aber das Resultat ist immer das gleiche: Mehr Überwachung, mehr Polizei, mehr Verbote. Man stranguliert sich nur selbst, wenn man sich in seinen Fesseln bewegen will. Und die Terroristen werden inzwischen - wie im vorletzten Monat in Sydney und im letzten Monat in Paris, wie gestern in Kopenhagen – „auf der Flucht erschossen“ (wie man in der guten alten Zeit noch gesagt hat), um das Sicherheitsrisiko eines öffentlichen Gerichtsprozesses zu eliminieren.
Kneipengespräche, Folge 72
“Nobody likes a good laugh more than I do.” (Graham Chapman als Sergeant-Major in “And Now For Something Completely Different”)
A: Welches Organ ist das wichtigste?
B: Das Gehirn.
A: Wieso eigentlich?
The Beatles - In My Life. https://www.youtube.com/watch?v=-m6Kx0a6QEU
2009
Auszüge aus dem Notizbuch:
28. Januar, Berlin. Meine Lieblingsplatte: Ilse Fleck und die Frühkartoffeln, „Best of Fußgängerzone“.
14. Februar. Wenn ich das Wort „Maisonette“ lese, denke ich immer an eine kleine Maisonne.
7. März, Bergamo. Nachdem ich im Hotel eingecheckt und mich ein wenig ausgeruht hatte, wollte ich zu einem Spaziergang in Richtung Altstadt aufbrechen, den ich mit einem opulenten Mahl zu krönen gedachte. Als ich durch die Drehtür auf den Vorplatz getreten war, sah ich mich überraschenderweise mit einer politischen Demonstration konfrontiert. Zu meiner Linken stand nach Art römischer Legionäre eine Hundertschaft der Polizei mit Helm und Schild. Zu meiner Rechten standen etwa tausend junge Menschen mit roten Flaggen und anderen Kennzeichen der allgemeinen Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen, sangen Unverständliches in Sprechchören und bedienten sich ausgiebig ihrer Trillerpfeifen. Dazwischen etwa fünfzig Meter nichts und in der Mitte dieses Nichts: ich, unschlüssig und trotz des nagenden Hungers einen Rückzug erwägend. Ich spürte die Blicke auf mir, sah erneut einmal nach links und einmal nach rechts – dann entschloss ich mich für den Weg zu den roten Fahnen. Am Rande der Straße öffneten die Demonstranten eine kleine Gasse, durch die ich in die abendliche Stadt verduften konnte. Ich lief vergnügt zur Altstadt hinauf. Dem „Agnello d’Oro“ hat Eckard Henscheid in seinem Roman „Dolce Madonna Bionda“ ein Denkmal gesetzt.
20. März, Berlin. Er hatte die Fähigkeit, den ganzen Raum mit seiner positiven Energie zu erleuchten, aber er konnte ihn auch mit seinem Zorn ausbrennen wie Napalm.
19. April. „Warum heißen Sie Eberling?“ – „Weil meine Vorfahren Wildschweine mit der Hand fangen konnten, so wie Obelix.“
5. Mai. An guten Tagen schrieb er beidhändig auf zwei verschiedenen Notebooks an unterschiedlichen Texten – der Liberace des Trivialromans.
Das tschechische Frühstück ist darum so karg, damit man möglichst früh am Tag Bierdurst und Bratenhunger bekommt.
10. Mai. Manche scheitern einfach nur, andere drehen beim Scheitern Pirouetten.
Er war so einsam, dass er noch nicht einmal einen Namen hatte.
Ladies and Gentlemen! From a galaxy in your neighbourhood: Lord Nothingness. Nach seiner Kündigungsdrohung wegen fehlender Fenstervorhänge folgte eine Woche später die Selbstmorddrohung. Und neulich erklärte er uns, er habe das ganze Viertel unterirdisch mit Bomben verdrahtet. Er hat ständig einen Schalter mit einem roten Knopf in der Hand und droht uns mit völliger Vernichtung.
26. Mai. Natürlich gibt es Verbesserungen, du kannst Dinge verändern. Aber du bist im Wettlauf mit den Zerstörern.
16. Juni. Mit seinen Späßen hatte es der Narr nur bis vor den Thron des Obernarren gebracht, den König bekam er zeitlebens nicht zu Gesicht.
23. Juni. Erst versteht man eine Kultur nicht, dann schlägt man sie kurz und klein, um wenig später ihre Scherben zusammenzukehren und in einem Museum zu zeigen.
25. Juni. Das Licht der aufgehenden Sonne fällt nur durch den Türspion in meine Wohnung und bildet einen zitternden Fleck auf der Toilettentür. Ich müsste also die Wohnungstür öffnen, um den Morgen hereinzulassen.
26. Juni. 2012 in London soll Extrem-Couching endlich olympisch werden. Vierer-Sofa ohne Steuermann.
Ich glaube nicht an den Tod, deswegen werde ich auch nicht sterben. Diese Philosophie wird auf der nächsten Kreativmesse der Renner – ich muss nur gesund bleiben.
3. Juli. „Mord, Totschlag, Wahnsinn. Komm mir nicht mit sowas, ich fahr jeden Tag mit der BVG“ als neuer Slogan für Berlin.
7. Juli. Man kann „das System“ nicht durch Aktivität verändern, aber man kann es durch Passivität zerstören.
18. Juli, Bad Gastein. Eine Woche in Österreich. In der Villa Excelsior, in der N. und ich untergekommen sind, hat früher Sigmund Freud seine nervenkranken Patienten untergebracht. Die Zimmer haben neben der eigentlichen Tür noch eine zweite dunkelgrün gepolsterte Tür, wie man sie von alten Direktorenzimmern kennt. Sie sollten offenbar die Schreie der Insassen dämpfen. Der Hotelier ist ein wunderlicher junger Mann, der ebenso wenig in diesen Jahrhundert passt wie die Einrichtungsgegenstände, die Polstersessel, die verspielten Messingbetten oder der herrliche Schreibtisch von Cutler & Son aus Buffalo, New York, der im Flur steht und an den ich mich einmal zum Schreiben setze. Er besitzt einen feingliedrigen Aufbau aus offenen Fächern und Schubladen und ist aus schwerem dunklem Holz gefertigt. Der ganze Ort scheint aus der Zeit gefallen, hier stirbt der Feudalismus sehr edel und unendlich langsam, ein Siechtum, dessen Erhabenheit ich bewundern muss. Überall stehen prachtvolle Hotels leer, in deren Ballsälen vor hundert Jahren Prinzessinnen getanzt haben. Jetzt genieße ich den morbiden Charme von meinem Balkon aus, bevor es hinunter in den Speisesaal geht, wo bereits das Silberbesteck aufgelegt wird. Wenn der Untergang so schön ist, möchte ich auch hinabsinken ins Vergessen, in die süße Müdigkeit des endgültigen Verfalls.
2. August, Berlin. Auf der Busfahrt nach Kladow macht der Fahrer eine rätselhafte Durchsage: „Der Verlierer kommt bitte mal nach vorne.“ Hätte ich aufstehen sollen?
25. August. Hochsommer. Das heißt, sich das kalte Kondenswasser der Bierflaschen in den Nacken zu massieren.
2. September. Eine Milliardenerbin geht Pleite. Was hätte man nicht alles mit dem Geld machen können? Ich wäre der erste Trinker auf dem Mars gewesen!
15. September. Seifen- und Speichelblasen unterliegen denselben physikalischen Gesetzmäßigkeiten, erfreuen sich aber dennoch unterschiedlicher Beliebtheit.
3. Oktober. „So kam ich damals nach Berlin mit wenig mehr als einem Koffer und einem Sarg voller pestverseuchter Erde.“ (für meine Autobiographie)
7. Oktober. Wie ein Zen-Buddhist, der mit geschlossenen Augen einen Pfeil ins Ziel schießt, finde ich die gesuchte CD mit dem ersten Griff, obwohl ich auf dem Weg zum Regal noch darüber nachdenken musste, wie sie überhaupt aussieht.
Nein, ich hatte kein Baywatch-Leben, ich war als Kind stellvertretender Bademeister ehrenhalber, wenn man Vater als Aushilfsbademeister mit seiner DLRG-Hose in unserem Dorfschwimmbad vom Beckenrand aus für Ordnung sorgte.
17. Oktober. Manche erfinden Dinge, manche ergründen Dinge.
23. Oktober, Prag. Zum siebten Mal in diesem Schatzkästchen. Wenn nach fünf Bier im Pissoir der verqualmten Eckkneipe am Agneskloster ein wasserheller Strahl erscheint, bist du angekommen. Auf dem Rückweg vom Grab, wo ich nur schnell einen winzigen Zettel mit der Aufschrift „Danke. E“ unter einen Stein schieben kann, weil schon wieder die nächste Touristengruppe kommt, begleitet mich der Franz ein paar Schritte bis zum Tor. Er trägt einen schwarzen Anzug und lächelt still, während ich ihm von meinen kleinen Sorgen berichte und mit einer Hand die alberne Papierkippa festhalte, die der Wind immer wieder entführen will.
27. Dezember, Berlin. Habe die Feiertage gemütlich zu Hause verbracht. Meine einzige Gesellschaft waren eine Rippenfellentzündung und der Junge vom chinesischen Lieferdienst.
31. Dezember. Er war anderen Menschen gegenüber stets ausgeschlossen gewesen.
Eloy - Through a Somber Galaxy. https://www.youtube.com/watch?v=xtjw3IW7Wks