Samstag, 28. Februar 2015
Wie ein Schriftsteller in den Wedding kommt
Als ich 2008 in den Wedding kam, war ich ein in zweifacher Hinsicht Zugereister. 1991 zog ich aus meiner rheinhessischen Heimat nach Berlin. Welche Stadt wäre damals, kurz nach dem Mauerfall, interessanter gewesen? Zuerst lebte ich im Kreuzberger Wrangelkiez, später in der West-City. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich die Gedächtniskirche sehen.
Dann bekam ich die Stelle als „Kiezschreiber“ im Brunnenviertel. Drei Jahre durfte ich, bezahlt aus einem Förderprogramm des Senats, über diesen Teil von Berlin-Gesundbrunnen schreiben. Es entstanden Reportagen, Erzählungen, historische und satirische Texte, Weihnachtsmärchen und Gedichte. Am Ende meiner Zeit, im Herbst 2011, erschien sogar ein Kriminalroman mit dem Titel „Weißer Wedding“, der im winterlichen Brunnenviertel spielt. Denn im Volksmund ist Gesundbrunnen immer ein Teil des Weddings gewesen – auch wenn beide Stadtteile heute dem Bezirk Mitte zugeordnet sind.
Zum ersten Mal kam im 1981 nach Berlin – und landete gleich im Wedding. Genauer gesagt fing mein Verhältnis zu Berlin im Wedding an. In der Koloniestraße. Hier war damals auf der Klassenfahrt unsere Jugendherberge. An ihrer Außenmauer sah ich das erste Berliner Graffito meines Lebens: „Auch Nixon tut wixen“. Von hier aus begann meine niemals endende Entdeckungsreise durch die große Stadt. Jahrzehnte später lief ich als Kiezschreiber wieder durch diese Straße. Momentaufnahmen, Schnappschüsse ohne Apparat: die Hinterhofwerkstätten, die alten Mietskasernen, der türkische Rentner, die Studentin, die kleinen Läden – und die Jugendherberge gibt es tatsächlich immer noch.
Ich komme aus Ingelheim am Rhein, einer bedeutungslosen Kleinstadt in der Nähe von Mainz, die aus unerfindlichen Gründen eine Städtepartnerschaft mit Kreuzberg hat, einem der aufregendsten Orte Deutschlands. Wir unternahmen viel mit den Schülern aus unserer Partnerklasse von der Leibniz-Schule in der Nähe der Bergmannstraße. Echte Punks, Langhaarige mit Parkas, Jungs mit Ohrringen – das war das wilde und gefährliche Berlin, das wir in Westdeutschland gerade im Buch und im Film „Christiane F.“ kennengelernt hatten. Viele von uns sind später nach Berlin gezogen, manche sind auch wieder heimgekehrt.
Ich habe über zwanzig Jahre in Berlin gelebt. Rein statistisch hat sich in diesem Zeitraum die Bevölkerung Berlins einmal komplett ausgetauscht. Mehr als 150.000 Menschen kommen jedes Jahr in die Stadt, fast genauso viele verlassen sie wieder. Dazu kommen Geburten und Todesfälle. Berlin ist ein atmender Organismus – schon darum kann diese Stadt niemals fertig werden und keinen Schlaf finden, sie ist für einen Schriftsteller nicht in Worte zu fassen. Es ist, als ob man einen fahrenden Zug anmalen möchte.
Der Wedding ist in meiner Erinnerung in seiner Vielfalt ein Abbild der Großstadt. Hier findet sich alles wieder, was typisch für Berlin ist. Die Badstraße und der Leopoldplatz vibrieren vor Lebendigkeit, hier geht es zu wie auf dem Ku’damm. Der Mauerpark ist sonntags der lebendigste Ort in Berlin. Verträumte Ecken wie am Ufer der Panke oder im Humboldthain, wo sich ein Flakbunker wie eine alte Burgruine versteckt, bieten die Gelegenheit zum Rückzug und zum Nachdenken. Man atmet auf und zückt das Notizbuch. In den Straßen, in der U-Bahn trifft man Menschen aus allen Teilen der Welt. Ein Schatz von Geschichten, den keiner jemals heben kann. Und wenn du hundert Jahre zuhörst und hundert Jahre schreibst, der Wedding ist unerschöpflich.
2011 habe ich den Wedding als Kiezschreiber verlassen, aber ich bin immer wieder zurückgekommen. Meine alten Stammkneipe, das Offside in der Jülicher Straße, und die Bürgerstiftungsinitiative Wedding waren die Anknüpfungspunkte. 2013 habe ich Berlin verlassen und bin wieder in meine alte Heimat gezogen. Ich war erschöpft, müde und auch ein wenig enttäuscht – in meine Wohnung war eingebrochen worden und ich fühlte mich dort nicht mehr wohl.
Aber der Wedding, ganz Berlin und ich sind Freunde geblieben. Im letzten Jahr war ich dreimal in Berlin, jeweils für zwei Wochen. Und 2015 werde ich wiederkommen. Hier auf dem Land, wo ich inzwischen lebe – mit Blick auf das Gartenhäuschen statt auf die Gedächtniskirche – ist es zwar so schön wie am Pankeufer, aber ohne die Badstraße, ohne das wilde Berlin, ohne die Traumtänzer und Maulhelden werde ich vermutlich niemals leben können.
Hach... Sehr schön. Die Formulierung mit dem Anmalen des fahrenden Zuges möchte ich bitte klauen dürfen.
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