Mittwoch, 18. Februar 2015
2010
Auszüge aus dem Notizbuch:
26. Januar, Berlin. Ich trinke, um zu vergessen. Ich schreibe, um mich zu erinnern.
31. Januar. „Wohin sind die beiden köstlichsten Gemüse verschwunden, die unser Garten zu bieten hat? Die Rede ist natürlich von Wirsing und Mangold. Sie sind von unseren Speisekarten gestrichen, niemand kennt sie mehr. Hinfort, arglistiger Broccoli! Weiche von mir, finstere Zucchini! Gebt mir Wirsing und Mangold, ihr Köche!“ (Aus einem Entwurf zu meiner Rede über die Sozialgeschichte der Beilagen)
4. Februar. „Hier kackte Goethe in der Not/ Er blieb nicht mal zum Abendbrot.“ (Inschrift an einem alten Dorfgasthof)
9. Februar. N.? Den kannte ich schon, als ich noch auf Bierdeckeln publiziert habe.
24. Februar. Am 17. bestelle ich einen neuen Fernseher per Internet, der am 18. Februar geliefert wird. Tage später erhalte ich einen Brief mit Datum vom 18., in dem mich die GEZ auffordert, das Gerät anzumelden. Soviel zum Thema Datenschutz. Ich kapituliere und werde Gebührenzahler.
27. Februar. Auf seinem Grabstein stand: „Und am Ende war er auch zu faul zum Atmen.“
Man fühlt sich als Mensch des 21. Jahrhunderts ja schon allein durch seine Frisur kulturell überlegen, wenn man Bilder aus den siebziger und achtziger Jahren betrachtet.
5. März. Vorstellung einer idealen Welt von Linda (sechs Jahre alt): Eine Hälfte der Welt gehört den friedlichen Menschen und Tieren. Hier wird kein Tier getötet, Fleisch zu essen ist verboten. Alle anderen Menschen und Tiere leben im anderen Teil der Welt. Falls sie zu Besuch kommen, müssen sie nett zu allen sein, sonst kommen sie ins Gefängnis. Für alle ist in dieser Welt genug zu essen da.
14. April. Langsam glitt die „Full of Tatendrang“ in den Hafen, lautlos, elegant, unheimlich.
23. April. Dass die Leute immer so übertreiben müssen. Zum Beispiel mit den Pyramiden. Hätte es nicht auch ein schlichter Grabstein getan?
31. Mai. In Sachen Politik und Wirtschaft ist dieses Jahrhundert bisher eine einzige Enttäuschung. Wenn man es umtauschen könnte, würde ich dieses Montagsjahrhundert jetzt zurückbringen. Immerhin sind Horst Köhler und der schwarze Hai Roland Koch zurückgetreten.
15. Juni. Derzeit arbeite ich an meinem ersten Comedy-Bühnenprogramm zum Thema „Flugreisen“. Ich werde einige süffisante Bemerkungen zu den vorgeführten Filmen und zu den Mahlzeiten machen, die im Flugzeug serviert werden. Außerdem sage ich was zu den Sicherheitskontrollen an Flughäfen, das dem Establishment da oben zu denken geben dürfte!
29. Juli. Und am Ende wirst du sagen: Es hat Höhlen und Tiefen gegeben.
31. Juli. „Beeindruckender Mehrfachnieser“ gibt es nicht bei Google. Obwohl er eben durch meine Wohnung gellte.
Dich kann nichts mehr brechen, wenn du bereits zerbrochen bist. Es bringt nichts, auf einen Scheißhaufen einzuprügeln oder ihn zertrampeln zu wollen. Unwichtig sein, an guten Tagen Reißzwecke im Arsch der Gewinner sein.
12. August. Batterien und Schiffe – beide können auslaufen. Gemüse und Menschen – beide können auflaufen. (aus meinem Gedichtzyklus „Scheinbare Zusammenhänge“).
16. August, Prag. In den Achtzigern war die Stadt heruntergekommen und leer, sie wirkte wie eine Stummfilmkulisse. Damals hat sie mir besser gefallen, aber trotzdem fahre ich gerne hin und besuche den Franz. Ich bin nicht nur aus alter Verbundenheit gekommen, sondern auch wegen meines aussichtslosen Schriftstellerlebens. Ich werde keine Romane mehr schreiben. Ein Besuch ohne Wünsche und Erwartungen, der am Morgen dramatisch wirkende Himmel löst sich in heiterem Sonnenschein auf. Ich muss niemandem sagen, dass meine Schriften vernichtet werden sollen – es ist bereits während des Schreibens Altpapier, zugeschmiertes Recyclingmaterial. Der Franz hat es verstanden. Fünf schöne Biere im schwarzen Ochsen, das Geplauder der Gäste wirkt so entspannt wie das rituelle Murmeln buddhistischer Mönche. Auf dem Rückweg zur liebenswerten Pension Dientzenhofer am Teufelsbach auf der Kleinseite genehmige ich mir ein köstliches Gulasch bei den sieben Schwaben. Draußen blendet die Sonne und drinnen stolpert man traumblöde im Kerzenlicht zu einem Tisch. Ich sollte noch erwähnen, dass ich heute fast von einer Straßenbahn überfahren worden wäre. Unbemerkt hatte sie sich von links angeschlichen, während ich nach rechts blickte. Kopfschütteln des Fahrers, böse Blicke der Fahrgäste. Aber noch endet die Geschichte nicht.
20. August. Die Deutschen haben so viele verschiedene Ausdrücke für Geld wie Eskimos für Schnee.
Pirna: Den älteren Menschen auf dem Bahnsteig scheint die Enttäuschung ins Gesicht gemeißelt zu sein. Der kleine Mann mit dem aufgedunsenen knallroten Gesicht. Den Kopf hat er schiefgelegt, die erstarrte Pose des Bittstellers. Beide Arme sind mit irgendwelchem Schulbankgeschmiere tätowiert. Er stinkt, als würde er seine eigene Pisse ausschwitzen.
4. September, Berlin. „Was kann man von einem Sessel lernen? Die Gelassenheit gegenüber jedem Arschloch.“ (Josef Hader)
5. September. Politische Symbolik hoch Tausend: Meine Wohnung hat zwei große Fenster nach Westen, zwei kleine Fenster nach Süden und nach Norden – und nach Osten nur den Türspion.
15. September. Beruflicher Plan: als abschreckendes Beispiel in Schulklassen auftreten.
24. Oktober. Meine gegenwärtige Stellung in der Berufswelt hat verblüffende Parallelen mit K. im Schlossroman. Nutzlosigkeit an der äußersten Peripherie des Systems. Nur geduldet, obwohl die Duldung längst bereut wird.
25. November. Am Anfang bekommt man sein Leben geschenkt, später muss man es sich verdienen. Der Kapitalismus ist auch nicht besser als irgendein Heroin-Dealer.
26. November. OINK = One Income No Kid.
10. Dezember. Habe die Biographien von Joseph Roth und Carl Zuckmayer gelesen. Neben den üblichen Parallelen (Alkohol, Niederlagen) auch überraschend neue: das Leben in meinem Berliner Kiez, andere Orte wie Vermont, Kurische Nehrung oder Wien. Mein Schriftstellerleben ist im Vergleich zu diesen Menschen natürlich nur das Spiel eines Kindes, aus einem Kindergedanken, einem Kindheitstraum ist ja mein Leben der letzten Jahre erst entstanden. Es scheint nur zwei Arten von Schriftstellern zu geben: Die einen schreiben erst und trinken dann, die anderen machen es umgekehrt.
15. Dezember. 1991 bin ich als Niemand nach Berlin gekommen. Immerhin habe ich mich nicht verschlechtert.
24. Dezember. Früher ahnte man, dass viele Menschen „schreiben“. Seit es Internet gibt, weiß man das. Narzisstischer Dilettantismus als Massenphänomen.
27. Dezember. Dicker Schnee überall, im Baum gegenüber sitzen Vögel. Es scheint, als blickten sie sehnsüchtig zu mir hinein. Für einen Augenblick denke ich: Es sind die Seelen verstorbener Menschen. Sie erinnern sich vage an das Leben, das sie einst geführt haben. Ich denke an sie, als ich mein altes Brot kleinschneide und aus dem Fenster werfe.
Pink Floyd - Hey You. https://www.youtube.com/watch?v=ymgYEQgSqLI
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