Sonntag, 31. August 2014
Im Zeitalter der Hochgeschwindigkeit
Es ist erstaunlich, wie sich innerhalb meiner Lebenszeit der Alltag in Deutschland verändert hat. Hat sich jemals innerhalb so kurzer Zeit so viel ereignet? In meiner Generation gibt es noch viele Menschen, die sind mit Kühen, Schweinen und Hühnern aufgewachsen. Im Garten hatte man Obst und Gemüse, das im Keller und in Einmachgläsern noch den ganzen Winter über aufbewahrt und langsam verzehrt wurde. Und als die ersten „Supermärkte“ aufmachten, sind manche von uns als Kind auf einem Traktor den weiten Weg gefahren, um sich dieses Wunder einmal aus der Nähe anzuschauen. Wer hatte damals schon ein Auto? Niemand ist in Urlaub gefahren, man verbrachte jede Nacht in seinem eigenen Bett oder ausnahmsweise bei Verwandten im Nachbardorf. Selbst in Berlin war es bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts normal, im Hinterhof eigenes Vieh oder Hühner auf dem Balkon für den persönlichen Bedarf an Milch, Eiern und Fleisch zu halten. Heute arbeitet fast niemand mehr in der Landwirtschaft, es gibt völlig neue Berufe, die für die Kinder des 21. Jahrhunderts selbstverständlich sind und nichts mehr mit der Welt vor unserem Fenster zu tun haben. Innerhalb weniger Jahrzehnte sind wir in eine völlig neue Epoche katapultiert worden. Den letzten Rest von Natur erleben wir in Form von Topfpflanzen, Haustieren und gelegentlichen Ausflügen in sogenannte „Naherholungsgebiete“. Und auf jeder Plastikverpackung im Supermarkt steht irgendwas mit „Bio“ oder „Natürlich“.
Vielleicht werde ich eines Tages als alter Mann einer jungen Krankenschwester oder einem erstaunten Pfleger meine Geschichte erzählen. Wie es war, als es noch kein Internet und kein Smartphone gab. Als es nur drei Fernsehprogramme gab und die meiste Zeit des Tages (von Mitternacht bis zum Nachmittag) nur das Testbild zu sehen war. Als man mit der Großmutter Gemüse säte und erntete, die Frühstückseier aus dem Hühnerstall holte und vor dem Mittagessen Kartoffeln schälte. Als man noch dabei war, wenn die eigenen Schafe ihre Lämmer bekamen. Ich gehöre vermutlich zur letzten Generation, die noch ein Telegramm erhalten hat. Damals bin ich in eine neue Wohnung in Berlin gezogen und man wartete wochenlang auf seinen Telefonanschluss (schließlich brauchte zu dieser Zeit die ganze ehemalige DDR Telefonanschlüsse). Telefone waren damals noch mit einem Telefonkabel versehen, das in einer Buchse an der Zimmerwand endete. Das Telefonieren auf der Straße oder im Auto war unmöglich. Nur sehr reiche Menschen hatten ein Autotelefon, die anderen begnügten sich mit Attrappen, mit denen man an der roten Ampel fremde Menschen beeindrucken konnte. Drahtlos telefonierte eigentlich nur die Polizei, die sogenannte „Funkgeräte“ oder „Walkie-Talkies“ besaß. Ein Telegramm ist übrigens ein Brief, der telegrafisch übermittelt und noch am selben Tag von einem Eilboten überbracht wird. Jedes einzelne Wort kostet eine bestimmte Summe, weswegen Telegramme im Regelfall ziemlich kurz sind.
Ich erinnere mich an meinen Zivildienst 1986/87. Ich betreute Frau Theis, die in Siebenbürgen bzw. Transsilvanien im heutigen Rumänien aufgewachsen ist. Sie war Jahrgang 1898 und erzählte mir beispielsweise von ihrer eigenen Großmutter, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Krimkrieg geriet und eine Choleraepidemie überlebte. Bei der Suche nach ihrem Mann übernachtete sie auf einer Parkbank und als sie am nächsten Morgen aufwachte, lagen um sie herum lauter Leichen. Ich fragte Frau Theis nach ihrem Alltag als junges Mädchen, schließlich gab es damals noch keine Diskotheken, Stereoanlagen und all die anderen Dinge, die mein Leben in Ingelheim damals prägten. Sie erzählte mir von dem Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen war, von der Arbeit auf den Feldern. Zwölf Stunden arbeitete sie damals am Tag, abends ging sie mit den Gleichaltrigen des Hofes oder der Nachbarhöfe spazieren und sie sangen zusammen Lieder. Nachts hat man vielleicht mal einen Roman gelesen – was damals schon als sehr verrucht galt. Ein Erntedankfest oder eine Kirmes in einem nahe gelegenen Dorf waren schon ein Höhepunkt des Teenagerlebens.
The Shirelles – Will You Still Love Me Tomorrow. http://www.youtube.com/watch?v=3irmBv8h4Tw
Samstag, 30. August 2014
Das Haus bei den Blutbuchen
Bisweilen ereignen sich in unserer ebenso ruhigen wie reizenden Grafschaft doch bemerkenswerte Geschichten, von denen ich Ihnen die folgende nicht vorenthalten möchte:
Es war gegen elf Uhr morgens, ich war gerade mit der Lektüre des „Bad Nauheimer Morgen“ beschäftigt, als Johann, mein braver Kammerdiener, den Besuch einer jungen Dame meldete, die mich dringend zu sprechen wünschte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, bin ich kein Freund unangemeldeter Besuche, da sie erstens den geregelten Tagesablauf durcheinander zu bringen pflegen, zweitens häufig mit unangenehmen Nachrichten verbunden sind und drittens einen mehr als deutlichen Hinweis auf die mangelnden Umgangsformen des Besuchers geben.
Ich empfing also die junge Dame, entgegen meinen Gepflogenheiten, in meinem Salon, obwohl ich nur mit einem seidenen Morgenrock, meinem rot-weiß-blau-gestreiften Pyjama und Plüschpantoffeln bekleidet war.
„Mister Bonetti, ich muss Sie unbedingt um Ihren Rat bitten.“ Die Frau mochte Anfang Zwanzig sein, sie war von schlankem Wuchs und hatte auffallend hellblonde lange Haare.
„Nehmen Sie bitte Platz, meine Werteste. Welche Angelegenheit führt Sie zu mir, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“
Sie nahm Platz und schlug ihre auffallend langen Beine übereinander. „Mein Name ist Juliette Baxter. Es geht um ein Stellenangebot und ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann.“
„Nun, ich bin unglücklicherweise kein Berufsberater“, antwortete ich kühl.
„Das Stellenangebot ist so rätselhaft, dass ich keinen anderen Ausweg wusste, als mich an Sie zu wenden, Mister Bonetti. Ich habe meine Unterlagen bei einer Casting-Agentur eingereicht und gestern bin ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Ein älterer und offenbar wohlhabender Herr hat mir eine Stelle als Gesellschafterin seiner Gattin angeboten. Ich soll in seinem Haus wohnen und bekomme dafür 50.000 Euro jährlich.“
„Das klingt doch sehr interessant für eine junge Dame, oder nicht?“ fragte ich mit kaum verhohlenem Desinteresse.
„Dieser Mann stellte aber einige seltsame Bedingungen: Ich solle mein Haar abschneiden und schwarz färben, außerdem müsse ich immer ein bestimmtes dunkelblaues Kleid tragen, das er für mich bereithalte. Und ich darf das Haus in den ersten Wochen nur in seiner Begleitung verlassen. Ist das nicht ungewöhnlich?“
„Das ist sicher richtig, aber ich verstehe nicht ganz, wie ich Ihnen in dieser Angelegenheit behilflich sein kann?“
Sie sah mich flehend mit ihren großen türkisfarbenen Augen an. „Ich kenne niemanden in dieser Grafschaft, Mister Bonetti, und jeder schätzt Sie hier als vollendeten Gentleman. Kann ich auf Ihre Hilfe zählen, wenn ich mich allein und schutzlos in diese abgelegene Villa begebe?“
Nun war ich natürlich bei meiner Ehre gepackt. „Selbstverständlich, Miss Baxter. Lassen Sie mir eine Nachricht zukommen, falls Sie in Schwierigkeiten sind.“
Dann klingelte ich mit meinem kleinen silbernen Glöckchen nach Johann, der die junge Dame hinaus begleitete.
Eine Woche später erhielt ich ein Telegramm eben jener Dame, die mich bat, sie am Flussufer in der Nähe des Hauses zu treffen, das im Volksmund den Namen „The Copper Beeches“ trug. Ich ließ Johann also die Kutsche anspannen und meinen Reiseanzug herauslegen. Bereits eine Stunde später verließen wir mein Anwesen in Upper Ingleham und waren auf dem Weg nach Lower Ingleham. Es dämmerte schon, als ich die junge Dame am verabredeten Treffpunkt vorfand. Sie trug ein blaues Kleid, ihr Haar war kurz und schwarz.
„Nun, meine Liebe. Sie wünschen mich zu sprechen?“
„Mister Bonetti, ich bin so froh, Sie zu sehen. Mister und Mistress Wilshire sind im Theater. Sie müssen bald zurück sein, daher habe ich nur wenig Zeit.“
„Erzählen Sie mir alles und lassen Sie nichts aus, so unwichtig es Ihnen auch erscheinen mag“, sagte ich mit der beruhigenden Stimme eines erfahrenen Kriminalisten.
„Jeden Tag muss ich in diesem blauen Kleid, das mir Mistress Wilshire gegeben hat, stundenlang am offenen Fenster sitzen. Mister Wilshire erzählt mir köstliche Anekdoten und bringt mich zum Lachen. Ich bekomme Kuchen und Kaffee gereicht, darf mich aber nicht vom Fenster wegbewegen. Eines Tages, als ich mich zufällig umdrehe, sehe ich einen jungen Mann vor dem Fenster, der mich anstarrt. Als es Mister Wilshire bemerkte, war er sehr ungehalten und schloss das Fenster. Außerdem habe ich bei meinen Gartenspaziergängen mit Mistress Wilshire bemerkt, dass in einem Flügel des Anwesens die Fenster permanent geschlossen sind. Eines Nachts habe ich mich in diesen Flügel geschlichen, aber die Zugangstür war verschlossen. Gestern Abend habe ich gesehen, dass der Schlüssel zu diesem Flügel im Schloss steckte. Also sah ich mich vorsichtig um und schlüpfte hinein. Ich fand drei leere Zimmer, deren Türen offen standen. Die vierte Tür jedoch war verschlossen und mit schweren eisenbeschlagenen Balken verriegelt. Ich habe einen grauenhaftes Stöhnen von dort vernommen.“
„Ich verstehe, Miss Baxter. Mir scheint, als sei Eile geboten. Führen Sie mich bitte zum Haus der Wilshires.“
Als wir im Haus bei den Blutbuchen waren, ging ich sogleich zur Tür, die in jenen geheimnisvollen Flügel führte und die ich verschlossen vorfand. Ich zog einen Bund Dietriche hervor und in kurzer Zeit hatte ich die Tür geöffnet. Die mit eisenbeschlagenen Balken bewehrte Tür machte etwas mehr Mühe, aber auch sie ward schließlich geöffnet.
Auf einem Diwan lag eine junge Frau, gefesselt und geknebelt, die Miss Baxter aufs Haar glich. Ich löste den Knebel und die Fesseln, die Frau schlug die Augen auf. Mit ein wenig Riechsalz und Franzbranntwein holte ich sie ins Leben zurück und sie erzählte mir Ihre Geschichte. Mister Wilshire habe sie geschlagen und misshandelt. Ferner sei es ihrem Verlobten nicht erlaubt gewesen, sie zu besuchen. Als sie ihrem Hausherrn mit Anzeige gedroht habe, hätte er sie gefesselt und geknebelt in diesem Raum eingesperrt.
Plötzlich hörte ich einen Schrei. Das musste Miss Baxter sein. Offensichtlich waren die Wilshires zurückgekehrt. Ich versteckte mich hinter der Tür und tatsächlich kam wenige Augenblicke später Mister Wilshire durch die Tür ins Zimmer gestürmt. Ich trat hinter der Tür hervor, packte ihn am Schlafittchen und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
„Mister Wilshire, hätten Sie die Liebenswürdigkeit, mich zu Polizei zu begleiten?“
Und so war auch dieser Fall gelöst. Für das Double ihrer Gefangenen hatten die Wilshires keine Verwendung mehr und so engagierten sie als nächstes einen Rechtsanwalt. In einer der folgenden Nächte brannte das Haus bei den Blutbuchen vollständig nieder. Der Täter wurde nie gefasst.
Madness – House of Fun. http://www.youtube.com/watch?v=GJ2X9SANsME
Freitag, 29. August 2014
Cut-up 2014
Ein Mann kommt in ein Dorf, in dem zwei rivalisierende Unternehmer um die Herrschaft kämpfen und Schlägerbanden anheuerten. Er quartiert sich in einem Wirtshaus ein und beobachtet die Situation. Er nimmt einen Job als Taxifahrer an. Aufgrund seiner Schlafstörungen fährt er vorwiegend die unbeliebten Nachtschichten bis in die dunkelsten Ecken der Stadt. Nachts befördert er zwielichtige Gestalten. Er ist der Ansicht, dass sich auf den Straßen zu viel „menschlicher Abschaum“ herumtreibt, der beseitigt gehört. Dieses beschauliche Leben ändert sich, als zwei Schlägertypen in seine Wohnung eindringen, weil sie ihn für den gleichnamigen Millionär Jeffrey Lebowski halten, dessen Frau einem Jackie Treehorn Geld schuldet. Um ihn einzuschüchtern, taucht ihn der eine kopfüber in die Toilette, während der zweite auf seinen Lieblingsteppich uriniert. Daraufhin sagt er sich: „Der Pfad der Gerechten ist auf beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Und da steht weiter: Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten, und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe.“
Er beschließt, den wahren Schuldigen zu finden und macht sich auf die Suche. Das Imperium hat eine gigantische Raumstation konstruiert, den Todesstern, mit genug Feuerkraft, um einen Planeten zu vernichten. Doch der Allianz der Rebellen gelang es, an die geheimen Pläne des Todessterns zu gelangen. Die Spur führt nach Yavin IV. Dort haben die Rebellen bereits die erbeuteten Pläne ausgewertet und eine Schwäche gefunden – einen Lüftungsschacht. Nach zwei missglückten Versuchen seitens der Rebellen beginnt er mit seinem Anflug im Graben des Todessterns. Darth Vader verfolgt ihn jedoch und ist kurz davor, ihn abzuschießen, als Han Solo mit dem Millenium Falken eingreift. Er setzt Vader und seine beiden Begleiter außer Gefecht und Luke hat Zeit, seine Torpedos abzufeuern. Dabei bekommt er von Obi-Wan Hilfe, der ihn anweist, der Macht zu vertrauen. Unser Held schaltet seinen Zielcomputer ab und vertraut seiner Intuition. Er feuert, trifft und der Todesstern wird zerstört.
Am Ende des Films, als die Bewohner der Stadt zusammenkommen, um ihren Helden zu feiern, wirft er ihnen den Marshalstern verächtlich vor die Füße und verlässt mit seiner Gattin die Stadt. Nach einer mehrjährigen Haftstrafe hofft er mit seiner Frau erneut auf ein Leben, das sie zusammen mit dem gemeinsamen Sohn beginnen wollen. Er sieht sich dieser Rolle zunächst nicht gewachsen, fürchtet, eine Belastung für Lula und ihren Sohn zu sein, und setzt sich ab. Als er kurze Zeit später von einer Straßengang zusammengeschlagen wird und bewusstlos zusammenbricht, erkennt er, dass er es ist, der entscheiden muss, welchen Weg er weitergehen will, und kehrt zu Lula zurück und singt für sie den Song „Love Me Tender“ von Elvis Presley, was sie sich immer gewünscht hat.
P.S.: Danke, Wikipedia.
T. Rex – Get It On. http://www.youtube.com/watch?v=Y5YoyAbE2bU
Cut-up
22:15 Uhr, ZDF: Eine Komödie im Mai. Spanischer Science-Fiction-Film, 1986.
„Auf dem Landgut von Lord Winfield, Makepeaces Vater, wird eine wertvolle chinesische Jade-Sammlung gestohlen. Natürlich werden Dempsey und Makepeace mit diesem Fall beauftragt. Ein aufrüttelnder Film über die Lage Polens nach Verhängung des Kriegsrechts: Die Fronten verhärten sich. Gabi und Theo fahren sich gegenseitig in die Parade. Gabi macht sich an Tante Erika heran, um Negatives über Theo zu erfahren. Der wiederum becirct die Tochter des Regierungsrates. So hofft er die Bezirksvergabe zu beeinflussen. Der junge Journalist Asch braucht Geld. Der Auftrag eines Kunsthändlers verwickelt ihn in eine mörderische Familienaffäre. Mittelalterliche Kulisse – kombiniert mit Außerirdischen. Fallon ist zum Volkshelden geworden. Seine Machtgelüste erschrecken sogar den Präsidenten. Auf der Flucht überwinden ein schwarzer und ein weißer Strafgefangener aneinander gekettet ihre Rassenvorurteile. Mit dem Fund einer geheimnisumwitterten Reliquie beginnt für den jungen Mönch Medardus ein gespenstisches Abenteuer. FBI-Agent Mancuso wird von der Presse gefeiert. Immerhin ist der Attentäter tot. Doch damit ist der Fall noch lange nicht abgeschlossen, wie die Ermordung von Mancusos Kollege Ross beweist. Ein Genforscher unternimmt einen Selbstversuch und mutiert langsam zur Echse. Kurz vor ihrer Heirat erfährt die junge Betti, dass die Eheleute Wulff, bei denen sie aufwuchs, nicht die leiblichen Eltern sind. Die Nachricht sorgt für Aufregung. Sie ist schwanger, lässt bei einem Hinterhof-Arzt die Abtreibung vornehmen. Eine andere Meldung schockt die ganze Welt: John F. Kennedy ist ermordet worden. Die Erlebnisse zweier Waisenkinder mit wilden Ponys. Lord Robert St. Simon ist ein begehrter Junggeselle. Keiner ahnt, dass hinter seiner glatten Fassade ein schreckliches Geheimnis schlummert. Auch seine Braut nicht. Am Tag der Hochzeit verschwindet sie plötzlich spurlos. Virgil Tibbs versucht zusammen mit Idealisten ein Rauschgiftsyndikat auffliegen zu lassen. Eine Journalistin gerät in eine unerklärliche Abhängigkeit von einem anonymen Anrufer. Das war einmal … 1966.“
Naja, den schaue ich mir noch an, aber dann gehe ich ins Bett.
P.S.: Dieser Text aus Elementen postmoderner Fernsehzeitschriften vom 4.5.1993 ist ein Beispiel für Cut-up-Literatur und eine Reminiszenz an William S. Burroughs.
The Specials – Too Much Too Young. http://www.youtube.com/watch?v=s-t6i1GVCww
Donnerstag, 28. August 2014
Wowereits Rücktritt – eine Chronologie
26.8.2014: Klaus Wowereit erklärt seinen Rücktritt vom Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Er kündigt an, am 11.12.2104 sein Amt zur Verfügung zu stellen.
14.9.2014: Gründung der Berlin Bürgermeister Findung Holding (BBF). Gesellschafter sind die Berliner SPD und ihre Ortsverbände.
31.10.2014: Beginn der Planungen zur Berliner Bürgermeister Inthronisierung (BBI).
11.12.2014: Die geplante Feier zu Wowereits Abdankung muss verschoben werden, da sich die Bauarbeiten an den Tribünen und Bierständen verzögert haben. Die Feier wird auf den 3.6.2015 verschoben.
1.4.2015: Das Bundesverwaltungsgericht genehmigt das geplante Sonderfeuerwerk zur Abdankung. Initiativen kündigen weitere Klagen an.
17.5.2015: Die geplante Feier wird auf den 11.12.2015 verschoben. Chefplaner Harry Knirsch wird entlassen.
18.11.2015: Die Kosten für den Rücktritt sind inzwischen auf 5,4 Milliarden Euro gestiegen, berichtet Chefplaner Theo Sackstroh in einer Pressekonferenz. Der Rücktrittstermin wird auf den 7.5.2016 verschoben. Hauptproblem ist der Brandschutz für das geplante Sonderfeuerwerk.
23.3.2016: Der Bundestag beschließt, der Stadt Berlin eine Soforthilfe in Höhe von zwei Milliarden Euro zu überweisen. „Beobachter sehen zahlreiche Fehler bei der Planung des Rücktritts“, berichtet „Die Zeit“.
18.9.2016: Die SPD scheitert bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin an der Fünf-Prozent-Hürde und eröffnet ein Parteiausschlussverfahren gegen Wowereit. Die Planung übernimmt Harry Knirsch.
26.10.2016: Hartmut Mehdorn wird Regierender Bürgermeister.
Sesame Street – Mahna Mahna. http://www.youtube.com/watch?v=8N_tupPBtWQ
Mittwoch, 27. August 2014
Die Klassengesellschaft des Todes
Wir gehen mit den Toten genauso um wie mit den Lebenden. Wir sortieren sie, wir klassifizieren sie, wir heften sie in unterschiedlichen Aktenordnern ab. Es beginnt mit der Nationalität: Als bei einem Erdbeben in Haiti 2010 über 300.000 Menschen ums Leben kamen, wurde berichtet, es seien auch drei Deutsche unter den Opfern. Über sie wurde namentlich berichtet, der Rest ist ein anonymer Leichenberg irgendwo in der Dritten Welt, wo man nicht einmal Urlaub machen kann, weil die Einheimischen offenbar nicht so unterwürfig oder geschäftstüchtig sind wie in der benachbarten Dominikanischen Republik. Arisches Blut wurde vergossen! Wie geht es den Angehörigen? Werden sie psychologisch betreut? Weitere 300.000 Menschen wurden damals in Haiti zum Teil schwer verletzt, mehr als 1,8 Millionen Menschen verloren ihr Zuhause. Wir haben sie einfach vergessen. Das ist die biologistische, rassistische, nationalistische Variante unserer Klassengesellschaft. Und natürlich klassifizieren wir die Toten nach ihrem Bekanntheitsgrad: Ein milliardenschwerer Industrieboss oder ein hoher Politiker schaffen es mit ihrem Tod auf die Titelseite – ich nicht. Sie auch nicht. Noch im Tod gehören wir unterschiedlichen Klassen an.
Aber es gibt auch noch eine perzeptive, kognitive Variante dieser Klassengesellschaft des Todes, die kaum Beachtung findet. Es kommt darauf an, wie ein Mensch stirbt. Ein gewaltsamer, ein ungewöhnlicher oder ein sehr schmerzhafter Tod erregen unsere Aufmerksamkeit und findet unser Interesse. Tote bei Gewaltverbrechen sind im Fokus: In Deutschland gab es im Jahr 2013 gerade einmal 282 Mordopfer (im Jahr 2000 waren es übrigens noch 497), aber Mord ist ein Dauerbrenner in den Medien. Andererseits gab es etwa 10.000 Selbstmorde. Sind wir uns selbst der größte Feind? Außerdem sterben jährlich in Deutschland 70.000 Menschen an Alkohol und 110.000 Menschen an Zigaretten ... Aber wer will das wissen? Auch Tote im Krieg können sich einer wesentlich größeren Aufmerksamkeit gewiss sein, denn Krieg ist Massenmord. Hundert Kriegstote an einem Tag? Schlagzeile, das kommt auf Seite 1. Unser Raubtierblick sieht die Toten durch Schusswaffen und Raketen, die bunten Explosionen und die blitzenden Mordwaffen viel deutlicher als andere Tote. Angeheizt wird dieser Blick durch die Snuff-Videos aus den Kriegsgebieten, die uns im Internet den schrecklichen Tod näher bringen als in allen Kriegen zuvor. Stellen Sie sich vor, ein deutscher Landser hätte im Zweiten Weltkrieg mit einem Smartphone gefilmt, wie seine christlich getauften Kameraden die Christen eines russischen Dorfes zusammentreiben und sie alle in der Dorfkirche einsperren. Dann wird diese Kirche angezündet und wir hören minutenlang die entsetzlichen Schreie der sterbenden Männer, Frauen und Kinder. So erzeugt man Aufmerksamkeit.
Während wir über den Krieg sprechen und in unseren bequemen Wohnzimmersesseln darüber nachdenken, ob Deutschland sich mit Waffenlieferungen daran beteiligen soll, sterben lautlos und unbemerkt wesentlich mehr Menschen, als wir uns vorstellen können. Weil wir sie nicht wahrnehmen, weil die Medien nicht über sie berichten, weil ihr Tod nicht so spektakulär, nichtsdestotrotz aber viel grausamer als jede Enthauptung ist. In jeder Stunde verhungern tausend Menschen auf dieser Welt. 8,8 Millionen Menschen pro Jahr. So viele Menschenleben hat der Erste Weltkrieg gefordert. Aber sie entgehen unserem sensationslüsternen Raubtierblick. Keine Explosionen, keine Verfolgungsjagden, keine Deutschen unter den Opfern. Noch nicht einmal medienwirksame Gräberfelder, denn den Eltern und Angehörigen fehlt das Geld für eine würdige Bestattung. Das wäre die Front, an der zu kämpfen wäre: Ungleichheit, Armut, Hunger, Krankheit. Und an dieser Front brauchen die Helden auch keinen Stahlhelm.
P.S.: Der einzelne Mensch kann so nett sein. Aber sobald eine kritische Masse erreicht wird, verwandelt sich die Gattung Mensch in einen Haufen Arschlöcher. Das habe ich noch nie verstanden. Kann mir da jemand helfen?
Carolyne Mas – Sittin In the Dark. https://www.youtube.com/watch?v=9_ydQHaU3cM
Dieser Text wurde Ihnen präsentiert von Heckler & Koch, offizieller Partner des Krieges.
Dienstag, 26. August 2014
Schwerathletik
Haben Sie gewusst, dass sich die beiden legendären Bad Nauheimer Dichterfürsten Andy Bonetti und Johnny Malta beim Steinstoßen kennengelernt haben? Dieser Sport ist im gesamten Wetterau-Kreis sehr beliebt. Bonetti, der damals für den Traditionsverein „Die Meilensteine“ antrat, hatte bei einem Wettbewerb auf der Trollwiese unweit von Bad Nauheim seinem Konkurrenten Malta von der „Pet Rock Company“ den Stein so unglücklich auf den Fuß geworfen, dass dieser zwei Wochen das Bett hüten musste. Bonetti besuchte ihn und schenkte ihm das Buch „Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln“. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
Das Steinstoßen ist eine der ältesten Sportarten der Menschheit. Ein Stein, der zwischen 3 und 15 Kilogramm wiegt, wird mit Anlauf und mit einem Arm möglichst weit gestoßen. Bei den Olympischen Zwischenspielen 1906 in Athen war Steinstoßen als Disziplin zugelassen. In der Schweiz werden seit dem 13. Jahrhundert Wettkämpfe ausgetragen, in Deutschland werden die Meisterschaften vom Deutschen Rasenkraftsport- und Tauzieh-Verband (DRTV) organisiert, seit 1983 tragen auch die Frauen eine Meisterschaft aus. Zur Schwerathletik gehören ferner das Hammerwerfen, das Gewichtheben, das Ringen und der Kraftdreikampf (Kniebeuge, Bankdrücken, Kreuzheben).
P.S.: „Pet Rocks“ waren in den 1970er Jahren unglaublich populär. Ein kalifornischer Geschäftsmann namens Gary Dahl kaufte in einem Baumarkt graue Kieselsteine und beklebte sie mit Plastikaugen. Innerhalb weniger Monate verkaufte er eine Million Stück und wurde Millionär. Die Idee hatte Mister Dahl übrigens in einer Kneipe, die Geschichte kann man im „Uncle John's Legendary Lost Bathroom Reader“ nachlesen. Später nannten manche Kiffer ihr Piece „Pet Rock“.
Wie Bonetti entdeckt wurde
Im Jahr 1492 kam Kolumbus bei der Entdeckung Amerikas vom Kurs ab und sah eine riesige Dampfwolke. Er konnte dieses Phänomen jedoch nicht einordnen und fuhr weiter.
1847 wurde ein norwegisches Walfangschiff durch einen Sturm in unbekannte Gewässer verschlagen und seine Besatzung sah ebenfalls die riesige Dampfwolke. Der hawaiianische Harpunier bekam es jedoch mit der Angst und riet zur Weiterfahrt.
1911 kam ein russisches Forschungsschiff in jenes Seegebiet und analysierte die Dampfwolke als Ergebnis des Atmungsprozesses eines ungewöhnlich großen Schriftstellers.
1957 wurde die Flaschenpost eines japanischen Soldaten gefunden, der berichtet, er sei auf der Insel unter der Dampfwolke gewesen, und die Gedichte, die er dort gelesen hätte, seien lebensgefährlich schlecht.
1996 wurde Bonetti endlich entdeckt und in einem riesigen Stahlkäfig nach New York gebracht. Und als man seine wahre literarische Größe erkannt hatte, landete er schließlich in Bad Nauheim.
Radiohead – Creep. http://www.youtube.com/watch?v=pp95olCn3lY
Montag, 25. August 2014
Fragen
Muss ich mich eigentlich im Falle eines internationalen Konflikts immer für eine Seite entscheiden? Muss ich entweder für die Russen oder die Ukrainer sein? Muss ich entweder für die Palästinenser oder die Israelis sein? Muss ich eine bestimmte Bürgerkriegspartei im Irak oder in Syrien unterstützen? Muss ich dieses Schwarz-Weiß-Spiel mitmachen – hier die Guten, die Besten aller Zeiten, da die Bösen, die größten Bestien aller Zeiten -, als wären wir in einem Disney-Film? Oder kann ich nicht einfach sagen: Ich mag beide Kriegsparteien nicht, so wie in einem Bandenkrieg der Mafia in Chicago oder Neapel? Weil es ohnehin nicht um Moral, sondern nur um Macht geht, Macht über Menschen und Territorien, um Geld und Eigentum, um den Sieg um des Sieges willen?
Talking Heads – Psycho Killer. https://www.youtube.com/watch?v=O52jAYa4Pm8
Des Wahnsinns fette Beute
Zwei NSA-Agenten unterhalten sich.
A: Hast du die Übergabe gesehen?
B: Ja. Wir haben alles gefilmt. Auch der Ton ist gut.
A: Um was ging es?
B: Um eine Ladung Gewehre für die Kurden.
A: Welche Kurden? PKK oder Peschmerga?
B: Eine ganz neue Organisation, die gegen PKK und Peschmerga kämpft.
A: Hast du gesehen, wer die Übergabe gemacht hat?
B: Die Bundeskanzlerin saß persönlich am Steuer. Von der Leyen saß auf dem Beifahrersitz und hat den Papierkram erledigt.
A: Um welche Waffen handelt es sich genau?
B: Es sind Spezialgewehre von BASF. Sie verschießen Luftballons.
A: Luftballons? Im Irak herrscht Krieg. Was soll das?
B: Keine Sorge. In den Luftballons ist Giftgas.
A: Was war die Gegenleistung? Geiseln oder Drogen?
B: Keins von beiden. Die Organisation hat versprochen, in Deutschland keine Terroranschläge zu verüben, solange der Nachschub rollt.
Sonntag, 24. August 2014
Bonettis Observatorium – Kaiserreich 3.0
Deutschland 2014: Es gibt eine Einheitspartei mit verschiedenen Geschmacksrichtungen (CDU, SPD usw.), die Bevölkerung wird apolitisch bzw. ihr politisches Interesse wird medial auf internationale Themen umgeleitet (dabei werden medial leicht verkäufliche Themen wie Krieg bevorzugt, weniger gerne werden sperrige Themen wie Ungleichheit, Umweltzerstörung oder Arbeitslosigkeit angeboten). Echte Opposition wird überwacht und verfolgt. Es herrschen die Dynastien des Geldadels, diese Eliten leben hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Ein geschlossener Kreis, der keinen Eingang hat und keinen Ausweg bietet. Das Dienstpersonal wird aus der Unterschicht und den Einwanderern (gerne: weiße, christliche Osteuropäer; weniger gerne: Farbige, Moslems) rekrutiert. Migranten sind der nachwachsende Rohstoff der Dienstleistungsgesellschaft. Altersarmut trägt zur Aktivierung der Bevölkerung bei (lebenslanges Lernen und Arbeiten). Gesundheitsterror übt Anpassungsdruck auf Trinker, Raucher und Genießer aus, Fitness ist eine Gesinnung geworden. Anpassungs- und Leistungsfähigkeit sind die zentralen Kriterien zur Beurteilung eines Menschen. Medien dienen als Opium für das Volk. Ein subventionierter Kulturbetrieb existiert zur Zerstreuung und Bereicherung der Oberschicht (Oper, Theater – Kunsthandel) sowie als kontrolliertes Reservat für die wenigen Unangepassten (Maler, Lieferanten für Kunst am Bau usw.). Bildungsabschlüsse wie das Abitur werden inflationär verteilt, um sie wertlos zu machen. Aufstieg über Bildung wird unmöglich, wenn die Hälfte eines Jahrgangs studiert.
Im Gegensatz zu den beiden alten Kaiserreichen (800 bis 1806 und 1871 bis 1918) existiert keine klar erkennbare Hierarchie. Es herrscht eine unsichtbare und der Bevölkerung unbekannte Elite, die einer Revolte oder einem terroristischen Angriff kein Ziel mehr bietet. Herrschaft hat sich ins System, in Regeln, Gesetze und Abkommen verflüchtigt. Sichtbar ist nur ein bürokratischer Apparat, der seinerseits wiederum nur aus Millionen machtloser Individuen besteht. Was hält dieses Land überhaupt zusammen? Da ist zum einen die Notwendigkeit zur Selbsterhaltung durch Arbeit, die den größten Teil der Kraft und der Aufmerksamkeit absorbiert. Der Rest der Lebenszeit wird für die unglaublichen Konsummöglichkeiten, ständig neue Trends, den bunten Medienzirkus, die unerschöpfliche Vielfalt der Nahrungs- und Genussmittel, Computerspiele und anderen technischen Schnickschnack benötigt. Wer denkt schon über den Zusammenhalt der Gesellschaft nach? Dafür sorgt das System, in das wir hineingeboren werden und in dem wir uns eingerichtet haben. Für jedes Problem gibt es eine institutionalisierte Lösung. Nationen kennen wir nur noch von den Wettkämpfen professioneller Gladiatoren im Fernsehen. Wir sind wieder im Biedermeier.
The Verve - Bitter Sweet Symphony. http://www.youtube.com/watch?v=635Ygn_h2eQ
Samstag, 23. August 2014
Dem Meister über die Schulter geschaut
Neue Buchprojekte von Andy Bonetti:
In Neuauflage erscheint Bonettis legendäre Erotik-Trilogie, die ihm in gewissen Kreisen den Spitznamen „Pornetti“ eingetragen hat: „Die Nacht, in der aus dem Sandmännchen ein Sandmann wurde“, "Wenn der Sandmann zweimal klingelt“ und „Feuchter Sand und heiße Männer“ (mit Kupferstichen bebildert).
Der Heldenepos „Völlig uncoole Typen“, in dem sich Bonetti mit Sätzen wie „I love the smell of Darmstadt in the morning“ und „Kassel ist wie Sperrmüll im Regen“ als hessischer Heimatdichter erster Güte erweist.
Der autobiographische Roman „Der Gesang der Kräne“ über Bonettis sechswöchiges Praktikum auf einer Baustelle.
Ein weiteres umfangreiches autobiographisches Werk über seine Jugend in der Lower Eastside von Bad Nauheim: „Da Hood“. Damals war Bonetti Leadsänger der Band Coolikowski, die im Sommer 1985 beim Indy-Label Zero Intolerance ihre einzige Platte „The Ultimate I Give A Shit On Copyrights Sergeant Nippletwister Extended Version Hardfloor Remix“ veröffentlichte. Was nur wenige wissen: Bonetti, der unter dem Pseudonym MC Feinripp auftrat, schrieb sämtliche Songtexte (die in diesem Buch alle abgedruckt werden), auch den damaligen, weit über Bad Nauheim hinaus bekannt gewordenen Sommerhit „Lebertod im Morgenrot“. „Da Hood“ enthält auch den berühmten Essay „Welchen Geruch hat das Sonnenlicht und welche Farbe hat der Durst?“ aus seiner Zeit als Korrespondent für das anarchistische Underground-Magazin „Der Weltgeist“, als Bonetti mit LSD experimentiert hatte.
Die phänomenologische Schrift „Die Welt der Erlebnisse und die Welt der Gegenstände – eine Gegenüberstellung“, in der Bonetti ausführlich darlegt und scharfsinnig begründet, warum Eigentum nichts gegen eine gute Story ist.
Das historische Werk „Der Rock’n Roll wird verbeamtet – Geschichte der Amateurkapellen im Wetterau-Kreis 1964-2014“.
Sein tiefenpsychologischer Beziehungsroman „Auf der anderen Seite deines Gesichts“, dessen Anfang wir an dieser Stelle exklusiv präsentieren:
Ihr ganzes Gesicht schien ihm entgegen zu springen. Die Glubschaugen quollen aus ihren Höhlen, die lange spitze Nase stach hervor und ihre prallen Lippen waren kaum im Stande, die vielen großen Zähne im Mund zu halten. Ihr Mund faszinierte ihn am meisten, dieser riesige Menschenmund, mit dem man essen, sprechen, lachen, küssen, knurren, brüllen und beißen konnte.
„Ich bin Melissa Bleiberg“, sagte sie.
„Das weiß ich doch längst“, antwortete Erich Kartmann lächelnd.
Er war begeistert von der Dreidimensionalität ihres Gesichts, das er bisher nur auf einem Foto im Internet gesehen hatte, und das mit all seinen Elementen auf ihn eindrang, als ob es ihn in sich hineinsaugen wollte. Die Augen starrten ihm kreisrund und durch die Brille unnatürlich vergrößert entgegen, ihre Unterlippe hing schwer und erwartungsvoll herab.
Sie gingen in eine Bar und er betrachtete ihren Körper, während sie sich vor ihm durch die Tür bewegte. Sie war in einem Alter, bei dem man sich fragte: Ist das eine Tätowierung auf ihrem Unterschenkel oder eine Krampfader? Frauen Ende Vierzig haben nur noch drei Dinge vor sich, dachte er böse: Wechseljahre, Altersarmut, Zentralfriedhof. Erst verliert man seine Würde, dann die Backenzähne.
So fing alles an.
Tag Team – Whoomp There It Is. https://www.youtube.com/watch?v=c8AyVhs3gJU
Freitag, 22. August 2014
Hausbesuch
Robin Kohlhammer sitzt breitbeinig auf seiner Couch und hat die Arme auf die Rückenlehne gelegt. Auf dem hölzernen Tischchen vor ihm liegen eine Fernsehzeitschrift, die Fernbedienung und sein einbändiges Volkslexikon („A-Z“). Die gerahmte Kopie eines Ölgemäldes über seinem Kopf zeigt einen Dreimaster in stürmischer See.
„Verarschen wollten die mich! Da sind sie aber an den richtigen geraten. Ich habe gleich an den Bürgermeister geschrieben. Bis heute keine Antwort. Alle Verbrecher! Wo Sie nur hinschauen.“
Eigentlich wollte ich mich nur kurz vorstellen. Benjamin Kurzke, Ihr neuer Nachbar. Dann wollte ich wieder gehen. Jetzt sitze ich hier. Er hat gedroht, mir die ganzen Briefwechsel zu zeigen. Schweißperlen an meinem Haaransatz, ein dumpfes Gefühl der Beklemmung in der Magengegend.
„Hol doch mal den Ordner, Ilse! ILSE!! Der muss doch irgendwo sein. Haste denn schon im Schlafzimmer nachgeschaut?“ Von Ilse hört man nur ein leises Scharren aus der Küchengegend. Sie spricht nicht, keine Anzeichen von Zustimmung oder Ablehnung.
„Eigentlich wollte ich ja nur kurz vorbei schauen und guten Tag sagen. Wo wir doch praktisch jetzt Nachbarn sind.“
Kohlhammer hat eine scharf geschnittene, gerade und schmale Nase in seinem aufgeweichten Gesicht. Dazu Igelfrisur und Vollbart. Mürrisch kratzt er sich den Bierbauch, der von einem weißen Unterhemd kaum bedeckt wird. „Da haben Sie sich ja ein schönes Haus ausgeguckt. Ist Ihnen aufgefallen, wie es im Hausflur aussieht? Und der Rasen vor der Tür ist doch die reinste Müllhalde. Wie oft habe ich schon an die Hausverwaltung geschrieben. Und ins Gesicht habe ich’s der Witzblattfigur von Hausmeister gesagt. Der traut sich schon gar nicht mehr her!“
Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich will nur hier raus. Aber jetzt kommt Kohlhammer langsam in Fahrt.
„Mein Leben lang haben die mich betrogen. Von vorne bis hinten beschissen. Aber ich habe alles gesammelt. Alles aufgehoben. Mich kriegen die nicht klein.“
Er steht auf und fängt an, den Wohnzimmerschrank zu durchsuchen. Seine Familiengeschichte kenne ich schon. Sein Vater lebt noch, aber er hat jeden Kontakt zu diesem „Streithammel“, wie er ihn verächtlich nennt, abgebrochen. Er ist geschieden, seine Tochter aus erster Ehe lebt in Wuppertal. Mehr weiß er nicht von „diesem undankbaren Volk“.
„Es kann doch nicht wahr sein. Muss doch hier irgendwo sein. Ilse! Wo ist denn der Ordner mit der Telekom-Sache? Das ist das Allerschärfste. Aber ich habe mit Prozess gedroht. Bis zum Vorstand ist die Sache raufgegangen. Die wollten mich kaputtmachen! Ich zahl doch nicht für irgendwelche Gespräche, die ich nie geführt habe. Das müssen die mir erst mal beweisen, diese Mafiabrüder!“
Kohlhammer arbeitet schon seit zehn Jahren nicht mehr. Er sei damals auf der Baustelle von den Kollegen regelrecht gemobbt worden. Aber er habe sich gewehrt, sagt er. Denn kleinkriegen, kleinkriegen lässt er sich nicht.
„Sag mal, Ilse, du hast doch den Ordner mit den Beweisen nicht weggeschmissen, oder?“
„Nein“, tönt es leise aus der Küchengegend, „nix hab ich weggeschmissen.“
„Alles weg ... diese Schweinebande. Wahrscheinlich alles geklaut, heimlich eingebrochen und alles mitgenommen. Dieser Drecksstaat schnüffelt hinter jedem her. Haben mich wahrscheinlich auf dem Kieker, seit ich an den Bundeskanzler geschrieben habe. Aber die Lottogesellschaft schuldet mir noch 58 Euro 70. Das kann ich belegen. Hab ich alles da.“
Er steht auf und läuft unruhig umher. Als er kurz das Wohnzimmer verlässt, spiele ich mit dem Gedanken an Flucht. Aber möchte ich Kohlhammer zum Feind haben? Und möchte ich in unmittelbarer Nachbarschaft zu diesem Feind leben?
„Da ist er ja!“ Strahlend kommt er mit einem roten Ordner zurück zu seinem Thron. „Das sind die Briefwechsel mit der Versandhausfirma und dem Busunternehmen. Alles Ganoven und Halunken! Vom Arbeitsamt gar nicht zu reden. Mit denen kämpfe ich seit Jahren. Die wollen mich aushungern. Kann mir einer erzählen, wie Ilse und ich von dem bisschen Stütze leben sollen? Und wir wollten doch immer mal nach Griechenland.“ Und etwas lauter: „Oder, Ilse?“
Während ich den Ordner zur Lektüre gereicht bekomme, ist Kohlhammer schon wieder unterwegs. Bald kommt er mit einem kleinen Schulheft wieder, das er mir strahlend präsentiert.
„Hier, schauen Sie mal! Ich arbeite an einem Regierungsprogramm. Hierzulande muss doch alles anders werden, es geht doch so nicht mehr weiter. Da können sich die Damen und Herren Politiker mal eine Scheibe von abschneiden. Sind doch alles Lügner und Betrüger.“
Ich sehe kleinkarierte, eng beschriebene Seiten. Es flimmert vor meinen Augen. Zum Glück kommt ein Wind auf und bläst kühle, frische Luft durch das Fenster. Die Blätter auf dem Couchtisch wirbeln auf.
„Wenn ich an Gott glauben würde, hätte ich dem längst einen Brief geschrieben. Verdammter Scheißwind!“
„Gab es denn auch mal was Gutes?“ Meine Frage überrascht mich selbst.
Kohlhammer sieht mich misstrauisch an. „Gar nichts war gut. Mein Leben lang haben sie mich beschissen. Von vorne bis hinten haben sie mich beschissen. Von der Firma Kleineisen habe ich noch einen Radiowecker zu bekommen. Als Werbegeschenk. Aber heute wollen die von ihrem Versprechen nichts mehr wissen. Alles Halsabschneider, wo man hinschaut. Ilse! Wo ist denn der Ordner mit der Kleineisen-Sache? Ich habe alles dokumentiert, glauben Sie mir. Alles abgeheftet. Die Beweise sind lückenlos.“
Hier komme ich nicht mehr raus, soviel steht fest.
Andreas Dorau – Kleines Stubenmädchen. http://www.youtube.com/watch?v=cIp-P3pz2NI
Donnerstag, 21. August 2014
Madame Moreau-Arnoux
„Und was machen Sie beruflich?“
„Call Center Agent, im Outbound. Aber keine Angst, ich werde Ihnen keine Lotterielose andrehen.“ Er lachte routiniert über seine Bemerkung, so als hätte er diese Nummer schon hundert Mal gespielt. Sein Gesicht glänzte wie frischer Schinken.
„Haben Sie Kinder?“ Der Mann stellte eindeutig die falschen Fragen.
„Nein, ich hatte eins. Es hat nur wenige Stunden gelebt, hat sich gewunden und um sein Leben gekämpft, das kleine Würmchen, dann war es weg. Und Sie? Haben Sie einen Hund?“ Madame Moreau-Arnoux dachte an ihre Zeit als jugendliche Ausreißerin und an den Angriff eines verwilderten Hundes.
„Nein“, sagte er knapp und nippte hastig an seinem Rosé d’Anjou, den er sicher bestellt hatte, um sich bei ihr anzubiedern.
Es war ein paar Augenblicke still, man hörte das Gemurmel von den anderen Tischen und leises Gläserklingen. Sie saßen im Restaurant „Transilvania“, einem rumänischen Gasthaus in einer Seitenstraße des Ku’damm. Madame Moreau-Arnoux hatte Bulz gegessen, eine Polenta mit Käse, Butter und Ei, ihr Gegenüber „Rulada de porc cu legume si cartofi fierti“, Schweineroulade mit Gemüse und Salzkartoffeln. Typisch Mann, dachte sie. Minderwertiges Fleisch, zerkochtes Gemüse. Wahrscheinlich erwartet er von seiner zukünftigen Partnerin, dass sie ihm so einen Mist kocht. Und dann kommen die Vergleiche mit den Kochkünsten seiner Mutter. Es war doch immer dasselbe.
„Ich bin auch nicht in Berlin geboren“, plapperte der Mann munter weiter. Er war etwa in ihrem Alter, hatte schütteres Haar und war so aufregend wie das Werbeprospekt einer Bausparkasse. „Wer ist denn schon wirklich hier geboren. Ich bin Saarländer.“
Wieso hatte sie sich überreden lassen? War es Neugier, Schwäche oder einfach Dummheit? Vielleicht sollte sie es einfach lassen, als „Madame Chauchat“ in Internetforen auf Partnersuche zu gehen. Dann säße sie jetzt nicht mit einem Rohrkrepierer namens „LatinLover22“ bei einem Blind Date. Danach gingen sie auf einen „Absacker“, wie man das wohl in Berlin nannte, in eine angeblich urige Eckkneipe. Diese Spelunke war das Hauptquartier der Trostlosigkeit, hier waren die Verlierer zu Hause. Schweigender Alkoholismus im Endstadium. Blinde Scheiben, verstaubte Plastikblumen, fauliger Geruch aus Aschenbechern und Schweißporen. Er ging zur Herrentoilette, gleich würde er sich vor das Urinal stellen und sein Gemächte hervorkramen. Ihr wurde übel bei dem Gedanken. Sie stand einfach auf und ging. Ihr Gesicht war blass und dünnhäutig, in der Sonne schimmerte es perlmuttfarben. Sie war schmal und dunkel gekleidet, unwillkürlich dachte man an eine unbelebte Seitenstraße, wenn man sie sah.
Madeleine Moreau-Arnoux stammte aus Bayonne, einer Stadt in Frankreich, die hauptsächlich für ihren köstlichen Schinken berühmt ist. Ihr Vater war unbekannt, ihre Mutter hatte Selbstmord begangen. Die Kindheit bei den Großeltern war unerträglich gewesen, also war sie mit zwölf auf Wanderschaft gegangen und hatte einige Jahre in Paris gelebt. Seit fünfzehn Jahren arbeitete sie nun als Buchhändlerin in Berlin. Alles fing an, als sie damals einen Job als Kellnerin im „Ganymed“ hatte und dem sterbenden Schriftsteller Thomas Brasch jeden Tag eine Flasche Wodka in dessen Wohnung bringen musste, die über dem Lokal lag. Bücher wurden ihre Passion. Abends saß sie an ihrem Roman, der „ADS-Mann trifft PMS-Frau“ heißen sollte. Alle Buchhändler in Berlin schrieben gerade einen Roman, inhaltlich ging es vorwiegend um das Romanschreiben in Berlin, genauer gesagt um die Schwierigkeiten, ja die Unmöglichkeit des Romanschreibens in Berlin. Madame Moreau-Arnoux lebte seit kurzem allein mit ihrer Katze Mimí in einer kleinen Dachgeschoßwohnung des Hauses am Prager Platz. Der Fahrstuhl fuhr nur bis in den vierten Stock, so dass sie ihre Einkäufe das letzte Stockwerk die Treppe hinauf tragen musste. Neben ihr, in der großen Wohnung mit Dachgarten, lebte der knapp dreißigjährige Miethering, der das Haus von seinem Vater geerbt hatte.
Frauen ist leider Bescheidenheit und Höflichkeit anerzogen worden, dachte sie auf dem Weg nach Hause. Sie fühlen sich häufig dort wohl, wo es keine Konflikte oder Machtkämpfe gibt. Zusammenarbeit, Kommunikation, Liebe, Harmonie – das sind die Stichworte, mit denen sich auch heute noch viele Frauen identifizieren. Männer bringen andere Catchwords in die Diskussion: Status, Macht, Strategie. Eine Frau, die den Konflikt sucht, um ihre Interessen durchzusetzen, wird von Männern und Frauen immer noch gleichermaßen misstrauisch beäugt. Sie gilt dann schnell als Zicke, im Konflikt mit anderen Frauen spricht man abschätzig von „Stutenbissigkeit“. Aber während die Frauen einfach nur nett und sympathisch sind, verändern Männer die Welt, treffen Entscheidungen, schaffen vollendete Tatsachen. Dieses Spiel wollte sie nicht mitmachen. Sie wollte das verstaubte Weibchenschema hinter sich lassen. Brave Mädchen sind keine Gewinner, sie sind bestenfalls die Frau eines Gewinners. Wer immer nur schluckt, stirbt von innen.
Madeleine Moreau-Arnoux hielt sich für eine starke Frau, eine Kriegerin, wie sie es nannte. In ihrem Leben gab es nur sie selbst, es war kein Platz für einen anderen Menschen. Ein Ich bis zum Horizont, den ganzen Himmel und die ganze Welt füllend. Aber eigentlich führte sie ein trauriges Leben. Sie hätte einen Freundeskreis und eine Familie haben können. Sie war kurze Zeit mit dem mittellosen Schriftsteller Jacques Arnoux verheiratet gewesen. Sie erzählte immer, sie arbeite nur vorübergehend in der Buchandlung, eines Tages würde ihr Mann zu ihr zurückkehren. Aber das war nur ihre fixe Idee, Arnoux war schon lange tot, 1999 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ohne je auch nur eine Zeile veröffentlicht zu haben. Trotz ihrer vierzig Jahre war ihr Gesicht noch fast makellos schön. Sie wirkte unverbraucht, ungelebt. Ihre Zähne waren wie eine Perlenkette. Man sah die einzelnen Zähne und jeder Zahn war eine eigenständige Schönheit, eine Reihe glänzender Einzelstücke blinkte aus ihrem Mund. Sie war schlank, aber nicht dünn. Sie kannte die bemalten Totenköpfe der Fotomodelle und ahnte das Elend, das sich hinter ihren Knochenmasken verbarg. Ihr Äußeres wirkte gepflegt, sie war elegant gekleidet. Aber sie redete zuviel. Traf sie einmal einen anderen Menschen, hört sie nicht auf zu erzählen. Meistens ging es nur um sie selbst. Es gab daher viele Menschen im Viertel, die ihre Buchhandlung mieden. Gerade die Eiligen, die gehetzten Menschen gingen lieber in das große Medienkaufhaus an der nahen Gedächtniskirche. Rentner kauften hingegen gerne bei ihr, blieben auf einen Schwatz und wunderten sich gemeinsam mit ihr, dass dieses Viertel noch vor hundert Jahren eine Wiese gewesen war und jetzt Menschen hier lebten, die Romane schrieben – oder ihre Lebenserinnerungen. Wäre es noch eine Wiese gewesen, hätte es nicht all die vielen schönen Romane gegeben. Ein Gedanke, der gerade in der Winterzeit geeignet war, Trost und Wärme zu spenden.
Die Dämmerung färbte die Szene rostrot wie vergilbte Farbfotos aus den Sechzigern. Ich bin noch nicht alt, dachte sie. In den letzten Jahren haben sich einige Männer um mich bemüht. Ein geschiedener Gemüsehändler, ein Versicherungsfritze, ein Zeitsoldat, sogar ein Tierpräparator war dabei. Er hat das Geschäft in dem Haus, in das ich gerade eingezogen bin. Was für ein merkwürdiger Beruf, tote Tiere ausstopfen. Er kommt immer wieder in meine Buchhandlung. Vielleicht werden wir irgendwann einmal einen Abend zusammen verbringen. Ich bin zwar skeptisch, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Woher nahmen die Kerle eigentlich ihre realitätsblinde Eigenliebe? Was sahen sie, wenn sie morgens in den Spiegel blickten? Tatsächlich einen Siegertypen, den Pontifex Maximus ihrer Mietskaserne? Zaudern, Zögern, Zweifel, Zwiespalt – das alles gab es für sie nicht. Woher dieses unbegreifliche Selbstbewusstsein? Niederlagen waren für Männer so tabu wie Blähungen beim Sex. Frauen sahen beim Blick in den gleichen Spiegel nur Runzeln und Pickel. Bin ich in meinem Körper zu Hause? Im Spiegel sehe ich eine dünne Gestalt, einen fremden prüfenden Blick. Früher war ich zu dick und jetzt das. Ich bin nie wirklich in mir angekommen. Alte Fotos von mir wirken so fremd.
Freiheit war ihr wichtiger als alles andere. Eine Kriegerin lässt sich nicht verbiegen und sie lässt sich nicht verkaufen. An ihr baumelt kein Preisschild. Während Männer als modernes Zeichen der Sklaverei einen Kulturstrick (vulgo: Schlips) um den Hals trugen, hatte sie einen individuellen Stil entwickelt. Sie ragte optisch aus der Masse, ohne die Masse mit ihrem Geschmack zu provozieren. Sie wirkte nach außen souverän, aber sie war es nicht wirklich. Die Angst war ein furchtbarer Gegner. Um als Frau selbständig und allein zu sein, musste diese Angst ständig bekämpft und immer wieder neu besiegt werden. Wer diesen Gegner hinter sich ließ, brauchte keine anderen Gegner mehr zu fürchten. Vorher hatte sie in Hohenschönhausen gelebt. Die vergilbten Hochhäuser waren gesichtslos, dazwischen verwahrloste Brachen, von Schutt und Müll bedeckt, als wäre man in Bukarest gelandet. Aber so war der Osten, so fremd wie eine Fotographie und dennoch ihre selbstgewählte Heimat. In der West-Berliner Innenstadt fühlte sie sich besser, sicherer und freier.
Das Blind Date war noch grauenhafter gewesen als das Treffen vor zwei Wochen, dachte sie, als sie in der U-Bahn nach Hause fuhr. Dieser Immobilienhändler, eine menschliche Blendgranate. Der Typ war reine Fassade gewesen, hinter seinem Geschwätz war überhaupt nichts. Auf den ersten Blick hatte er attraktiv gewirkt – aber das taten Schaufensterpuppen auch. Anfangs hatte sie es gemocht, von Männern umschmeichelt, berührt und verführt zu werden. Aber im Laufe der Jahre hatte sie die kalte Routine bemerkt, die allzu glatte Zwangsläufigkeit, mit der eine Beziehung schnell in Sex mündete. Der eigentliche Akt hatte ihr nie Spaß gemacht, er war in ihren Augen mechanisch, kurz, mit Schleim und Gestank verbunden wie ihre Monatsblutungen. Sie mochte die Männerkörper nicht und sie mochte auch ihren eigenen Körper nicht.
Der Sinn eines Gesprächs wird von Männern und Frauen völlig verschieden eingeschätzt, dachte sie, während sich ihr gegenüber ein Teenagerpärchen gemeinsam mit einen iPod verstöpselt hatte. Für Männer bedeutet Sprechen, Informationen miteinander auszutauschen. Sind alle Informationen weitergegeben, wird das Gespräch sinnlos. Frauen messen dem Gespräch eine ganz andere Bedeutung bei: Gespräche sind der gesellschaftliche Kitt, der alles zusammen hält. „Lass uns darüber sprechen“, sagt die Frau. „Ich muss darüber nachdenken“, sagt der Mann. Frauen tut es gut, über ein Problem einfach nur zu sprechen. Die Männer – an Logik, Information und schnellen Problemlösungen orientiert – glauben dann, sie müssten einer Frau Ratschläge geben. Als ob ich den Rat eines Mannes brauche, dachte sie und lächelte ein wenig bei dem Gedanken. Männer verstehen den Subtext der weiblichen Kommunikation, feinfühlige Anspielungen und Metaphern einfach nicht. Aber für manches brauchte man sie doch, etwa bei handwerklichen Tätigkeiten. Männer helfen Frauen gern. Dann fühlen sie sich männlich, nützlich, angehimmelt. Aber Madame Moreau-Arnoux, die Kriegerin, spielte in diesem Fall jedoch nicht das hilflose Dummchen. Sie schlüpfte einfach in die Rolle einer Komplizin und suggerierte ihrem Opfer inhaltliche Nähe. Natürlich wollte sie sich nur ein wenig fachlich mit ihm austauschen. Männer waren immer begeistert, wenn Sie Begriffe wie Flachzange oder Turbolader, Lüsterklemme oder Zierleistenhobel ins Gespräch einfließen lassen konnten. Das raffinierte Spiel mit der männlichen Eitelkeit funktionierte immer, notfalls mit ein wenig französischem Charme. Schon war der tropfende Wasserhahn repariert.
Sie hatte sehr viele Bücher über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen gelesen, die meisten davon in der Buchhandlung. Es war aber auch wirklich zu drollig. Manchmal musste sie sich wundern, dass es überhaupt Menschen gab, die heirateten und eine Familie gründeten. Das konnte nicht gut gehen. Die Männer würden sich nie ändern, das war ihr unerschütterlicher Glaube. Und es würde ein langer Weg sein, bis man die Stärken der Frauen endlich zu würdigen wüsste. Die Einstellungen der jungen Frauen gefielen ihr nicht. Pragmatismus war in ihren Augen Schwäche, ein Zurückweichen in Zeiten, in denen der Kampf um Arbeitsmöglichkeiten und Aufstiegschancen härter wurde. Gerade neulich hatte sie sich mit einer dieser jungen Frauen unterhalten. Sie hieß Sarah und wohnte im selben Haus wie sie. Aber sie konnte mit ihrer Weiblichkeit nicht umgehen, sie war sich ihrer Weiblichkeit noch gar nicht bewusst. Da stimmte der ganze strategische Ansatz nicht. Der Grundkonflikt in unserer Gesellschaft war der Widerspruch von Mann und Frau. Für die Studentin bestand der Grundkonflikt zwischen Arm und Reich. Und trotz all ihrer Bemühungen war sie von dieser Einstellung auch nicht abzubringen. Und dann war sie auch noch mit diesem widerlichen dicken Typen zusammen. Wer weiß, welche Leiden sich hinter der Tür ihrer Wohnung abspielten?
Nach einem japanischen Sprichwort hat jeder Mensch drei Herzen. Eines für die Allgemeinheit, eines für Freunde und Familie und eines, die letzte, tiefste und geheimste Kammer, nur für sich selbst. Madame Moreau-Arnoux gab den Blick in die letzten beiden Herzen nicht frei. Männer machten das im Übrigen auch nicht. Und trotzdem kamen sie sich beim Bier nach Feierabend näher, indem sie über unverfängliche Themen wie Sport, Politik oder Wirtschaft diskutierten. Sie wollte ihr eigenes Leben, eine Maßanfertigung, ein Einzelstück. Eine Kriegerin will niemanden treffen, der das gleiche Leben führt oder die gleichen Gedanken hat, dachte sie. Sie sprach nie über diese Dinge. Man sollte nur merken, dass sie anders war. Charlie Brown hat einmal gesagt, das Leben sei als Ganzes gar nicht zu ertragen. Er zerlegte seinen Alltag in kleine Abschnitte, die es zu überstehen galt. Genauso ging sie ihren Alltag an: Sie zerlegte ihn in seine Einzelteile und bewältigte die einzelnen Teilaufgaben Schritt für Schritt. Wichtig war es, Ruhe zu bewahren und keine Angst aufkommen zu lassen. Wer die Nerven verliert, verliert den Überblick. Das Berufsleben erfordert die Talente eines Schachspielers, nicht eines Boxers.
U-Bahnhof Güntzelstraße. Sie stieg die Stufen empor an die Oberfläche der Stadt. Es stürmte ein wenig, aber das machte ihr nichts aus. Sie fühlte sich wohl in dieser Gegend, in der es einmal so viele Schriftsteller gegeben hatte. Kurt Tucholsky kam ihr in den Sinn: „Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Die Vorteile stehen im Baedecker.“ Stattdessen fand man heute nur die schrillen Plakate von „Bild“ und „B.Z.“ vor einem schamlos bunten Kiosk am Prager Platz. Zwei prinzipielle Botschaften hält die Berliner Boulevardpresse für den geneigten Leser bereit: Erstens ist das Leben schlecht und zweitens wird alles noch schlimmer. Das Rezept war ihr bekannt, der Katholizismus des Mittelalters war das Vorbild. In ihrer Wohnung begrüßte die Katze sie mit einem Schnurren. Hier fühlte sie sich wohl, in diesem Nest unter dem Dach war sie geborgen. Der Sturm wurde heftiger, die alten Türen knarrten wie die Wanten eines Segelschiffs. Sie ging in die Küche. Mimí hatte das leckere Katzenmenü nicht angerührt. Offensichtlich hatte es nicht ihrem Geschmack entsprochen. Ich verwöhne sie viel zu sehr, dachte Madame Moreau-Arnoux. Aber jetzt ist es zu spät, meine Prinzessin auf der Erbse wird sich wohl nie mehr ändern. Sie seufzte, war aber nicht wirklich böse. Sie summte leise eine Melodie, als sie sich Schuhe auszog.
Guesch Patti – Etienne. http://www.youtube.com/watch?v=Ybea868xDW0
Mittwoch, 20. August 2014
Herr Blumfeld
Es gibt in der Menschenwelt verschiedene Wege, langsam unglücklich zu werden und schließlich zu sterben. Blumfeld schleppte seinen welkenden Leib in den vierten Stock. Auf halber Strecke blieb er schnaufend stehen, zückte ein Stofftaschentuch und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Geduldig wartete einige Meter über seinem Kopf die leere Wohnung auf seine Ankunft, sonst wartete niemand. Er war inzwischen sechsundsechzig Jahre alt und wunderte sich über sein Alter. Die letzten zwanzig Jahre waren eigentlich so schnell an ihm vorbei gerast, dass er kaum einen Blick auf ihren Ablauf werfen konnte. Der Sommer flog vorbei, ein paar nasskalte Tage und schon war wieder Weihnachten. Die Zeit wirbelte wie die Schneeflocken vor seinem Dachfenster, denn auch Feiertage und seine Geburtstage unterbrachen die Routine und die Monotonie seines Alltags nicht. Er war immer allein, er mochte seinen Geburtstag nicht und hatte auch früher niemals das Datum verraten, um nicht unangenehm von den Nachbarn oder Kollegen überrascht zu werden. Er stand nicht gerne im Mittelpunkt, er mochte den Schatten, die dämmrigen Plätze am Rande des Geschehens und beobachtete in Ruhe, ohne in etwas hinein gezogen werden zu können. Tagsüber bestimmte die Arbeit seinen Rhythmus, am Abend genoss er die Einsamkeit. In Berlin begegneten ihm jeden Tag genug Menschen, er war froh, wenn er abends die Wohnungstür hinter sich schließen konnte. Dann bestimmte die Stille seinen Rhythmus. Nur gedämpft klangen die ewig gleichen Geräusche der Stadt zu ihm hinauf.
Jeden Donnerstag kam seine polnische Putzfrau und am Abend konnte er sich an einer blitzblanken Wohnung erfreuen. Jeder benutzte Löffel lag wieder sauber im Besteckkasten, das Bett war frisch bezogen. Ein wunderbares Gefühl, sich in einem frisch bezogenen Bett zu dehnen und zu strecken, wohlig vom Duft der Sauberkeit betäubt. Im Bad standen Zahnpasta- und Rasierschaumtuben, Seifenschale und Wasserglas in geradezu militärischer Ordnung. Alles war sortiert, an seinem Platz und lag im rechten Winkel zur Tischkante. Die ordentliche Wohnung gab ihm nicht nur ein Gefühl der Behaglichkeit, sondern auch das Selbstbewusstsein, das Leben im Griff zu haben. Ein älterer Junggeselle, der niemandem zur Last fiel, niemandem Rechenschaft ablegen musste, Rechnungen und Steuern pünktlich bezahlte und im Hause als Inbegriff der Rechtschaffenheit galt. Zumindest glaubte er das.
Blumfeld dachte an die Zeiten seines Berufslebens zurück. So unschuldig wie kleine Kinder, die einen Hamster totspielen, hatten ihn seine neuen Kollegen nach der Wende 1989 zerstört. Er war einfach ein farbloser Schwächling und damit prädestiniert für diese Außenseiterrolle. Jede Gruppe braucht ein Omega-Tierchen, vor allem eine Gruppe westdeutscher Herrenmenschen. Er hatte seine Kindheit auf einem Bauernhof verlebt, Reden war nie seine Stärke gewesen. Felder und Tiere reden nicht, man lernt im Laufe der Jahre vielmehr, die Dinge intuitiv zu erkennen. Man erkennt den Anlass, begreift den Grund, etwas zu tun, ohne darüber nutzlose Worte zu verlieren. In seinem Beruf in der Verwaltung war das bisher nie ein Problem gewesen, aber Geschnatter und Schauspielkunst waren nun einmal elementare Bestandteile der westlichen Arbeitswelt. Ständig irgendwelche Sitzungen, ständig wurden die Pläne wieder geändert. Flexibilität nannte man diese Form der Unentschlossenheit. Aber er hatte Rache am System genommen. Er hatte eine neue Stelle als Geschäftsführer einer kleinen Werbeagentur in Reinickendorf gefunden, die Übernahme hatte ihn zwar seine Abfindung gekostet, aber er war nun Herr über hundert Grafiker, Texter und Prospektverteiler. Als die Agentur groß genug geworden war, hatte er sie verkauft, blieb aber als Geschäftsführer im Amt. Der westdeutsche Besitzer hatte sich auf die Gewinne des neuerworbenen Goldesels gefreut, aber Blumfeld führte den Laden systematisch in die Pleite. Als ein Kredit notwendig wurde, den die Bank verweigerte, bestand er auf die vertraglich festgelegte Abfindung. Der Investor gab auf und hundert Wessis verloren auf einen Schlag ihren Job. Er konnte sich noch gut an die Betriebsversammlung erinnern, an die Unruhe und die Spannung im Saal.
„Herr Blumfeld, das können sie doch nicht machen.“
„Denken Sie an Ihre Kollegen. Wir leben in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit.“
„Sie nehmen den Menschen Ihre Zukunft.“
„Denken Sie doch auch mal an unsere Kinder.“
Aber er war hart geblieben. Ein ganz persönlicher Sieg im Kampf der Systeme. Nun hatte der Rentner Blumfeld ausgesorgt und lebte am Prager Platz.
Am Wochenende trug Blumfeld immer Freizeitkleidung. Eine hellgraue Windjacke, eine ockerfarbene Cordhose und dunkelbraune Lederschuhe. Das fliehende Kinn und die fliehende Stirn gaben ihm das Profil eines Karpfens. Seine Zähne waren so gelb, dass sie sicherlich das Interesse von Elfenbeinhändlern geweckt hätten. Jeden Sonntagmorgen um acht Uhr spazierte er über Friedenau und Dahlem in den Grunewald, umrundete die Krumme Lanke und ging über Schmargendorf und den alten Wilmersdorfer Dorfkern, die Wilhelmsaue, wieder zurück. Zuvor aß er einen Joghurt, putzte sich die Zähne und fuhr sich mit seinen kleinen feuchten Händen kurz durch das lichte Haar. Am frühen Morgen waren die Bürgersteige und Straßen nahezu leer, verspätete Nachtbummler waren hier nicht zu erwarten. Die Luft wehte frisch durch die noch unbefleckte Stille des Morgens. Amseln beäugten ihn aus dem Gebüsch, riesige Krähen saßen auf Parkbänken. Im Wald dann Männer unbestimmten Alters mit Hunden und joggende Frauen. Manchmal sah er eines der Eichhörnchen, die er sehr mochte. Putzige und fidele Burschen, immer munter, voller Neugier auf die Welt. Und trotzdem so schweigsam wie er selbst. Blumfelds Schweigen war bescheiden. Es gibt ja Leute, die ganz bedeutungsvoll schweigen können, dachte er. Bis man merkt, dass ihr Schweigen gar keine Bedeutung hat. Sein eigenes Schweigen sollte nichts ausdrücken. Er war weder verbittert noch schockiert von seinen Lebenserfahrungen. Eigentlich gab es kaum etwas zu berichten. Sein Schweigen war höfliche Zurückhaltung, er ließ der ganzen Welt mit einem winzigen Lächeln Vortritt. Ein stiller und zufriedener Beobachter der Dinge und Vorgänge. Und so ging er durch die Straßen und den Wald, alles war zu seinem vollständigen Wohlbehagen eingerichtet, sämtliche Umstände tadellos. Man konnte wirklich nicht meckern.
Nach seinem Ausflug fuhr Blumfeld gewöhnlich in ein tschechisches Restaurant an der Karl-Marx-Allee und aß dort zu Mittag. Ganz besonders mochte er Knödel, die böhmischen Knedliky. Schweinebraten und Gulasch mit schmackhaften Soßen und Mährisch Kraut. Kümmel, Majoran, Liebstöckel. Deutsches Sauerkraut mochte er nicht, auch das Berliner Eisbein nicht. Überhaupt war die hiesige Küchentradition nicht sein Fall. Das „Berliner Schnitzel“ galt ihm als Paradebeispiel für die Minderwertigkeit der preußischen Küche: Kuheuter wird mit Lauch und Zwiebeln gekocht, danach gehäutet, in Scheiben geschnitten und paniert. Widerlich! Aber böhmische Speisen waren ein Genuss, gefüllte Rinderrouladen („Spanische Vöglein“) und Sauerbraten mit Sahnesoße und Preiselbeeren. Dann gab es rätselhafte Speisen wie Topfenhaluschka, die er noch nie probiert hatte. Vor allem die Nachspeisen waren eine wahre Pracht, Marillenknödeln und Buchteln. Dazu ein kühles Prager oder Pilsener Bier mit feiner Schaumkrone. Und hinterher einen Becherovka, ein Kräuterschnäpschen zur Verdauung. Becherovka, das klang so, als könne man nach dem Öffnen der Flasche den Deckel im Prinzip gleich weg werfen. Heute wollte sich Blumfeld, der Mann mit dem ungewissen Etwas, aber etwas ganz Besonderes gönnen und bestellte Kalbshaxe Florida.
An diesem Sonntag war die „Prager Hopfenstube“ etwa zur Hälfte gefüllt. Der Himmel wirkte schwer und grau wie Beton. Unberechenbare Sturmböen hatten den älteren Herren förmlich hineingeweht. Blumfeld war zunächst wie benommen, lange dauerte es, bis er mit der Umständlichkeit eines greisen Apothekers seinen Mantel an einen Haken gehängt hatte. Das Anziehen des Mantels würde ihm später noch schwerer fallen, denn wie zuletzt in Kindheitstagen verschwand der zweite Mantelärmel auf geheimnisvolle Weise, wenn man hinter dem eigenen Rücken danach stocherte. Fast blind tastete er sich an einen der kleinen runden Tische und setzte sich auf den winzigen, zerbrechlich wirkenden Stuhl. Die junge Kellnerin wartete geduldig, bis er sich die Nase geputzt hatte und seine Umgebung wahrnehmen konnte. Seine Augen hatten die undefinierbare Farbe verwitterer Baumrinde, sein nervöser Tick meldete sich, ein zwanghaftes Zucken mit den Augenbrauen, mehrmals pro Minute. Mit dem Rücken zu einer der riesigen Fensterfronten saß ein junger Mann und notierte etwas in seinen weitläufig ausgebreiteten Unterlagen. Ein anderer junger Mann, ein paar Tische entfernt, beugte sich so tief über ein Magazin, dass es den Anschein hatte, er schliefe gleich darüber ein. Meditierte er oder schrieb er etwa auch? War er hier unter die Literaten gefallen? Auftritt Kellnerin: schmal, klein, völlig in schwarz gekleidet, ein wunderbares Lächeln, sie sah ihn beim Sprechen unentwegt an, das Augenweiß schimmernd wie Porzellan. Das änderte alles.
Blumfeld war gebürtiger Dresdner und sprach mit schwerem sächsischem Akzent, tief aus der Kehle heraus wie ein Truthahn: „Gänse mir dö Galbshöxe bringen, bidde. Unn ä größes Bier“. Ein Augenblick später hatte er immer noch ihr Bild vor den Augen, obwohl sie längst gegangen war. Die trockene Wärme des Gasthauses kroch mit leisen Schauern seinen Rücken hoch. Dann der honiggelb lockende Humpen, serviert mit filmmäßigem Zähneblitzen. Herausgetreten aus dem Sturm, aus der Welt, wie in einer dunklen Kirche geborgen, sicher, zeitlos. Dann kam sein Essen. Die Biersoße zum Gulasch war so unglaublich lecker, er hätte sich mit der Wange in den Teller hineinschmiegen können. Hier liegen bleiben, hier angekommen sein. Niemals mehr hinaus müssen, einfach bleiben, ewig versorgt mit Gulasch, Knödeln und Bier, ein Paradies – mit ausgezeichneten sanitären Anlagen, bequem auch mit der U-Bahn zu erreichen. Wenn er das alte Berlin erleben wollte, ging er am Sonntagmittag zum Essen ins „Wirtshaus zum Nussbaum“, ein gutbürgerliches Lokal am Bundesplatz. Die bis auf halbe Höhe mit Holz getäfelten und mit historischen Drucken geschmückten Wände vermittelten die sogenannte Gemütlichkeit des Vor-Ikea-Zeitalters. Der typische Berliner, der hier anzutreffen war, verfügte über einen Seehundschnauzbart, Halbglatze plus schlohweißen Haarkranz. Er aß Eisbein mit Erbspüree oder Kalbsleber mit Zwiebeln und trank dazu seine Molle, wie er das Bier zu nennen pflegte. Es gab jedoch auch herrlich altmodische Gerichte wie Rührei, Spinat und Kartoffeln auf der wechselnden Wochenkarte. Gelegentlich konnte man auch am Nachbartisch den Lebenserinnerungen eines Mannequins (so nannte man die Models früher) aus den fünfziger Jahren lauschen. Das Publikum bestand am Wochenende ohnehin fast ausschließlich aus reiferen Herrschaften.
Er ließ seinen Blick über die weiteren Gäste schweifen. Sein Stammplatz war neben dem schwarz lackierten Klavier, das wie ein frisch polierter Sarg glänzte. Von seinem Nachbarn Hopperflap hatte er vor einigen Jahren den Tipp erhalten, hier einmal zu speisen. Der Amerikaner war ganz verrückt nach Schnitzel und Bier. Schon für ein paar Euro bekam man in dieser Stadt vielerorts ein ordentliches Schnitzel mit Pommes und Salat serviert, so auch wochentags in der „Hopfenstube“. Der Osten der Republik ist zwar arm, aber eben auch preiswert. Da war der in die Jahre gekommene Rocker mit grauer Halbglatze und Schlangentätowierung. Oder die beiden älteren Damen mit den langen, platinblond gefärbten Haaren an ihrem Fensterplatz, deren Gesichter durch etliche Schönheitsoperationen entstellt waren. Sie mussten weit über fünfzig Jahre alt sein und wirkten wie Pornostars aus den Siebzigern. Nichts ist schlimmer als ein solches Gesicht, dessen letzte Modellierung Jahre zurück liegt. Die gelbliche Haut war wieder erschlafft und gealtert, aber es sah im Wortsinne unmenschlich aus. Sie wirkten gruselig, wie groteske Masken des Menschlichen. Die Falten und Wülste saßen an unnatürlichen Stellen in ihren grellbunt bemalten Gesichtern, dazu die wurstförmig aufgepumpten Lippen. Blumfeld musste an Zombies denken. Die Beine hatten sie in längst aus der Mode gekommene Karottenjeans gezwängt, an den verwelkten Armen klimperte Talmi und Tinnef in rauen Mengen. Dazu Brüste, die nichts Brustförmiges hatten, sondern wie angeschraubte Lampen wirkten. So saßen die beiden jeden Sonntag im Restaurant und warfen den Männern aufreizende Blicke zu, ein beschämendes würdeloses Schauspiel voller Tragik und Altersmelancholie. Aus den Lautsprechern erklangen, nein: plärrten die tschechischen Varianten alter Sinatra-Stücke, er verdächtigte Karel Gott der sprachlichen und stimmlichen Schändung dieses Liedguts. Aber in diesem Augenblick passte die schreckliche Musik zum Anblick der anwesenden Gäste.
Saß da nicht auch dieser junge Student, der mit zwei anderen Burschen in seinem Haus wohnte? Frau Gomolke hatte ihm von den lauten Feiern erzählt, die manchmal bis in die frühen Morgenstunden dauerten. Ob diese Typen je mit dem Studium fertig würden? Diese langhaarigen und ungepflegten Zottel würden es sicher einmal schwer haben, dachte er. Mit Arbeitsplatz und Rente. Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Er hatte damals beim Studium der Chemie sicher auch mal fünfe gerade sein lassen, wenn er mit den Kommilitonen unterwegs war. Aber am nächsten Morgen ging es wieder um neun Uhr los, da wurde kein Schlendrian geduldet. Man hätte Ärger mit der Fakultät riskiert, wenn man seine Studien und seine Versuchsaufbauten vernachlässigt hätte. Geschadet hat ihm das nichts. Im späteren Leben hatte es ihm an nichts gemangelt. Arbeit fand er in Berlin, der Hauptstadt der DDR. Dank seiner aktiven Parteiarbeit hatte er eine Stelle in der „Staatlichen Planungskommission“, der zentralen Planbehörde bekommen. Er war für die chemische Industrie zuständig gewesen und besuchte gelegentlich die Provinz, Leuna, Schkopau oder Bitterfeld. Blumfeld erinnerte sich an das „Chemieprogramm“, das auf dem fünften Parteitag der SED beschlossen wurde. Motto: „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit.“ Er fuhr damals einen Wartburg und in den späten siebziger Jahren war er in eine schöne Zweiraumwohnung im neu entstandenen Stadtteil Marzahn gezogen. Zum Urlaub durfte man ins sozialistische Ausland, an den Balaton in Ungarn. Er hatte alles, was er brauchte. Es gab viel Schönes in der DDR: die schönen Paradeuniformen der NVA, die beruhigende Langeweile der Aktuellen Kamera im abendlichen Fernsehprogramm und Karl Marx auf dem blauen Hundertmarkschein. Während im Kapitalismus kein Stein auf dem anderen blieb, war sein Leben wunderbar ruhig gewesen. Er freute sich über die Weltjugendjestspiele 1973 im ehemaligen Walter-Ulbricht-Stadion an der Chausseestraße, auf dessen Gelände heute der westdeutsche Geheimdienst seine neue Festung baute, über Sigmund Jähn, 1978 der erste deutsche Kosmonaut, all die schönen Treffen im Rahmen der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, deren Mitglied er war, die herrliche Olympiade 1980 in Moskau, ohne Amerikaner und andere Imperialisten und Revanchisten – und er freute sich über arrogante Westdeutsche aus dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“, die von den Kellnern seiner Stadt ignoriert und gegängelt wurden.
Blumfeld hängte den Mantel an den vorgesehenen Haken, als er wieder zu Hause angekommen war, und zog seine Hausjacke aus dunkelblauer Wolle an. Jeden Abend das gleiche Ritual. Dann las er die Zeitung. Mord, Krieg, zweite Bundesliga – Dinge, die die Welt nicht braucht. Das Böse wird nicht bestraft und das Gute wird nicht belohnt. Man entscheidet sich einfach für eine Seite. Und oft ist Feigheit das einzige Motiv für das Gute, dachte er. Aber man musste ja informiert sein. So wie früher, als er noch berufstätig geworden war. Damals gab es aber noch nicht die ganze neumodische Technik, von der sein sozialistisches Heimatland überumpelt worden war. Er hasste Computer, er hasste es, dass seine Arbeit mit einem Knopfdruck verschwunden war. Niemand konnte das tief empfundene Gefühl der Befriedigung nachvollziehen, wenn man einen Vorgang in einem Aktenordner abgeheftet oder ein korrekt ausgefülltes Formular in ein Fach gelegt hatte. Die Arbeit am Computer war unsichtbar, ließ sich mit den Fingerspitzen nicht fühlen, hatte keinen Geruch und keine Farbe. Ein Aktenstapel wurde im Laufe der Zeit kleiner und tröstete den Sachbearbeiter, der Computer war ein Fließband, das von Ewigkeit zu Ewigkeit zu rollen schien. Alles ohne Anfang und Ende. Nun lag dieser Teil des Lebens hinter ihm. Für die Zeit danach hatte er nie Pläne gemacht. Er hatte keine Kinder, Familie oder andere Verwandtschaft. Freunde hatte er auch keine. Er befasste sich inzwischen mit historischen Themen, sah sich Ausstellungen an und unternahm ausgedehnte Wanderungen durch die Stadt. Ob er sich die plastinierten Leichen der „Körperwelten“ in der Straße der Pariser Kommune am Ostbahnhof anschauen sollte, die ab Mai gezeigt wurden? Eigentlich hätte man die Exponate ja beerdigen sollen, es war in seinen Augen unmoralisch, tote Menschen für Geld zu präsentieren. Andererseits war die Atmosphäre in den Räumen der Ausstellung sicherlich sehr interessant. Die Menschen hatten ja heutzutage nichts mehr mit dem Tod zu tun. Auf dem Bauernhof seiner Kindheit war der Tod ein natürlicher und alltäglicher Bestandteil des Lebens gewesen. Und mit diesen Gedanken schlummerte er für ein Viertelstündchen ein, die Zeitung immer noch auf seinem Schoß ausgebreitet.
Es war ein seltsam dunkler Tag, an dem es gar nicht auffallen würde, wenn die Sonne endlich unterging. Er stand am Fenster und blickte lange auf dem leeren Hinterhof hinab. Die Haut seines Gesichts sah aus wie zerknittertes Papier. Später schaltete er den Fernsehapparat ein. In kurzen schmissigen Reportagen wurde über diverse Fußballspiele berichtet, Sprücheklopfereien wie „Er macht die Bude“ usw. bildeten den ärgerlichen Kern der Berichterstattung. Dieses Ich-geh-jeden-Samstag-auf-den-Sportplatz-Deutsch in den Medien und an den Kneipentresen, das man auf Sportplätzen aber nie hörte. Es erinnerte ihn an das Touristen-Berlinerisch, das aus der Siegessäule eine Goldelse machte, aus einem zentral gelegenen Brunnen den Wasserklops und aus einem Kulturhaus eine schwangere Auster. Kein Einheimischer benutzte diese Ausdrücke, vielmehr belächelte man im Stillen die Erfindungen der Springer-Presse. Die Bezeichnung Telespargel für den Fernsehturm am Alex war ein von den DDR-Offiziellen gewünschter Spitzname, der sich in der Praxis jedoch auch schon in der DDR nicht durchgesetzt hat. Aber in jeder Reisegruppe, die Berlin besuchte, gab es einen Besserwisser, der den Reiseleiter verbessern musste und diese Phantasiebegriffe wieder in die Welt setzte. Dröhnend fuhr ein Lastwagen vorüber, eine lockere Fensterscheibe protestierte klirrend und beruhigte sich wieder. Blumfeld schlief ein, ohne die Fernbedienung loszulassen.
Fleetwood Mac - Songbird. http://www.youtube.com/watch?v=wTi19MPOvDw
Reisenotizen
Wir vergehen in der Zeit - und erzählen uns zum Trost, es sei die Zeit, die vergeht.
Der Tod des Einzelnen wird unter Grabsteinen und hinter Friedhofsmauern versteckt. Der Tod der Massen wird auf öffentlichen Plätzen ausgestellt. Große behauene Steine erinnern an Kriege, noch im Tod werden die Menschen nach Regimentern und Schlachtfeldern geordnet. Als Soldaten hat man die jungen Männer zu ihrer Richtstätte geführt, als „Krieger“ sollen sie nun geehrt werden. Jede Gemeinde und jede Stadt rühmt sich auf diese Weise für ihr Menschenopfer, das sie den Herrschenden dargebracht hat.
Die überwiegende Mehrheit ist ebenso triebgesteuert wie unsere Vorfahren in der Steinzeit. Nur mit dem Unterschied, dass sich das Jagdfieber nun auf das größte Haus, die schönsten Schuhe und das schnellste Auto konzentriert. Sie opfert ihr Leben der Gier nach Besitz, indem sie sich selbst in bedeutungslosen Jobs versklavt. „Der Verzicht gibt einem unendliche Macht.“ (E.M. Cioran)
Werbung für einen Finanzdienstleister (abgelehnt): „Wir sind das ROCK in ‚staubtrocken‘ und das ROLL in ‚Controlling‘.“
Der Physiker spielte den Urknall mit astronomisch korrekt geformten Puppen nach.
„ … diese friedliche und heitere Gemütsverfassung, die darin besteht, dass man ein Narr ist unter lauter Schurken.“ (Jonathan Swift)
War es Zerstreutheit oder Rastlosigkeit? Jedenfalls stieg Manfred Naujack aus der Lufthansa-Maschine, als sie noch in fünftausend Meter Höhe im Landeanflug auf Frankfurt war.
Die Unvollkommenheit ist das natürliche Habitat des New Yorker Nörglers, des Berliner Meckerers und des Wiener Grantlers. Wäre die Welt perfekt, wären sie unglücklich.
A: Machen Sie Sport? B: Für mich ist Schuhe-Anziehen schon Sport.
Falls wir in einem buddhistischen Universum leben, werde ich als Korkenzieher wiedergeboren.
Niemand ist einsamer als ein schreibender Mensch.
Die Physiker behaupten, die gesamte Materie des Weltraums hätte nur den Umfang eines Fußballs, eigentlich bestünde alles aus Energie und es gäbe vor allem sehr viel leeren Raum zwischen den Atomen und den Planeten. Ich finde aber, dass sich die Wände meines Zimmers sehr fest anfühlen, auch der Schreibtisch erscheint mir als festgefügte Materie. Selbst ein Snickers fühlt sich doch fest an, obwohl es mit Karamell und Schokolade gefüllt ist. Und dann die ganzen Sachen in den Baumärkten! Können wir der Wissenschaft trauen?
P.S.: Die Feuertrutz GmbH, ein Verlag für Brandschutzpublikationen, sucht einen Fachredakteur. Klingt nach Satire, ist aber wahr. Soll ich mich bewerben? Außerdem gab es bei der Schach-Olympiade in Tromsö zwei Tote. Beim Versuch, den Spieler von den Seychellen wiederzubeleben, kam es in der Halle zu tumultartigen Szenen, weil die Zuschauer den Defibrillator für eine Waffe hielten und mit einem terroristischen Anschlag rechneten.
Journey – Don’t Stop Believin’. http://www.youtube.com/watch?v=HOEKsQVvqfM
Dienstag, 19. August 2014
Dankesrede für den Literaturnobelpreis, die Bonetti bereits in der Schublade hat
Hast du deine Zigaretten eingesteckt, fragte die Mutter jeden Morgen am Haustor, bevor ich auf die Straße ging. Ich hatte keine Zigaretten einstecken. Und weil ich keine hatte, ging ich noch mal ins Zimmer zurück und nahm mir ein Päckchen. Ich hatte jeden Morgen keine, weil ich jeden Morgen auf die Frage wartete. Die Zigaretten waren der Beweis, dass die Mutter mich am Morgen behütet. In den späteren Stunden und Dingen des Tages war ich auf mich selbst gestellt. Die Frage „Hast du deine Zigaretten eingesteckt?“ war eine indirekte Zärtlichkeit. Eine direkte wäre peinlich gewesen, so etwas gab es in Bad Nauheim nicht. Die Liebe hat sich als Frage verkleidet. Nur so ließ sie sich trocken sagen, im Befehlston wie die Handgriffe der Arbeit.
Und zwanzig Jahre später war ich längst für mich allein in der Stadt, Aushilfspraktikant in der Redaktion des Medienfabrikanten Barry Niemann, der später mit dem „Bad Nauheimer Morgen“ zu Weltruhm gelangen sollte. Fünf Uhr morgens stand ich auf, halb sieben Uhr fing die Arbeit an. Morgens schallte aus dem Lautsprecher die Hymne über den Fabrikhof. In der Mittagspause die Arbeiterchöre. Aber die Arbeiter, die beim Essen saßen, hatten leere Augen wie Weißblech, ölverschmierte Hände, ihr Essen war in Zeitungspapier gewickelt. Bevor sie ihr Stückchen Speck aßen, kratzten sie mit dem Messer die Druckerschwärze von ihrem Speck.
Dort habe ich gelernt, mich gegen den Imperialismus und das Ausbeutersystem zu wehren. Der amerikanische Neoliberalismus ist eine Seuche, die unseren Planeten vergiftet. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile. Man hat das Herz des Landes infiziert, eine bösartige Wucherung in Gang gesetzt und schaut zu wie der Faulbrand erblüht. Ist die Bevölkerung unterjocht worden oder totgeprügelt - es läuft auf dasselbe hinaus - und sitzen die eigenen Freunde, das Militär und die großen Kapitalgesellschaften bequem am Schalthebel, tritt man vor die Kamera und sagt, die Demokratie habe sich behauptet. Die US-Invasion des Irak war ein Banditenakt, ein Akt von unverhohlenem Staatsterrorismus, der die absolute Verachtung des Prinzips von internationalem Recht demonstrierte. Die Invasion war ein willkürlicher Militäreinsatz, ausgelöst durch einen ganzen Berg von Lügen und die üble Manipulation der Medien und somit der Öffentlichkeit.
Ich bin ein Geschichtenerzähler. Weil ich ein Geschichtenerzähler bin, wird mir der Nobelpreis für Literatur verliehen. Ich werde auch weiterhin meine Geschichten erzählen. Wie hätte ein verhältnismäßig junger Mann, dessen einziger Reichtum in seinen Zweifeln und seinem noch im Werden begriffenen Werk besteht, der gewohnt ist, in der Einsamkeit der Arbeit oder der Zurückgezogenheit der Freundschaft zu leben, wie hätte er nicht mit einer Art Panik den Spruch vernehmen sollen, der ihn, allein und nur auf sich gestellt, mit einem Schlag in den Brennpunkt eines grellen Lichtes rückt?
Schreiben bedeutet, dass man die innere Einkehr in Worte fasst, dass man aus sich heraus voller Geduld, Hartnäckigkeit und Freude an einer neuen Welt arbeitet. Wenn ich am Tisch sitze und auf eine leere Seite nach und nach Wort um Wort schreibe und darüber Tage, Monate, Jahre vergehen, dann fühle ich, dass ich eine neue Welt erstehen lasse und einen anderen Mensch aus mir heraushole, so wie man Stein auf Stein eine Brücke oder eine Kuppel baut. Der Stein des Schriftstellers ist das Wort. Wir nehmen das Wort in die Hand, befühlen es, setzen es mit anderen Wörtern in Zusammenhang, betrachten es manchmal aus der Ferne, fahren mit dem Finger oder dem Stift gleichsam streichelnd oder abwägend darüber, dann setzen wir es an seinen Platz, zäh, geduldig, hoffnungsfroh, über Jahre hinweg, neue Sphären erschaffend.
Flaubert lehrte mich die Notwendigkeit der eisernen Disziplin, Sartre, dass Worte Taten sind, Orwell, dass die Literatur der Humanität verpflichtet sein muss, Cervantes, Dickens, Balzac, Thomas Mann, dass Fülle und Ambition für den Romanautor genauso viel Gewicht besitzen wie Stil und Erzählgeschick. Von Jörg Fauser habe ich gelernt, dass man als Schriftsteller authentisch bleiben muss, von Franz Kafka und Robert Walser, dass man erst im Scheitern Größe beweisen kann, und von Thomas Bernhard, dass man aus der Verachtung der Gesellschaft seine Kraft schöpfen kann.
Und nun trinke ich darauf, dass das Ideal, das der Stiftung zugrunde liegt, seiner Verwirklichung immer näher geführt werden möge, ich meine das Ideal des Weltfriedens, das ja das höchste Ideal der Wissenschaft und der Kunst in sich schließt. Die Kunst und die Wissenschaft, die dem Kriege dient, ist nicht die höchste und echte, die ist es, die der Friede erzeugt und die den Frieden erzeugt. Und ich trinke auf den großen letzten und rein idealen Nobelpreis, den die Menschheit dann sich wird zuerkennen dürfen, wenn die rohe Kraft unter den Völkern ebenso verhasst geworden ist, wie die rohe Kraft es bereits unter den menschlichen Individuen der zivilisierten Gesellschaft ist.
P.S.: Danke an Herta Müller, Harold Pinter, Mo Yan, Albert Camus, Orhan Pamuk, Mario Vargas Llosa und Gerhart Hauptmann, deren Nobelpreisreden hier verwurstet wurden.
Jay Z & Alicia Keys – Empire State of Mind. http://www.youtube.com/watch?v=0UjsXo9l6I8
Montag, 18. August 2014
Uncle Sam’s
Gerade war ich für zwei Wochen in Berlin und habe natürlich alle wichtigen Sehenswürdigkeiten abgeklappert. Und damit meine ich nicht dieses alberne Brandenburger Tor oder den hässlichen Reichstag, sondern meinen Lieblings-Inder, meinen Lieblings-Chinesen, meinen Lieblings-Griechen und so weiter. Alle sind noch da, bis auf meinen Lieblings-Italiener, aber das wusste ich schon bei meinem letzten Besuch im März. Damals war ich in der Woche vor Geschäftsaufgabe noch einmal dort und durfte als Stammgast kostenlos bestellen, was ich wollte. Meine Begleiterin und ich entschieden uns für eine gemischte Fischplatte mit allem, was der Koch am Morgen auf dem Markt ergattert hatte, und eine Flasche Rotwein, die uns vom Kellner empfohlen wurde. Tempi passati. Aber mit dem Piutrentanove (+ 39 ist die Vorwahl von Italien) in der Möckernstraße, Ecke Kreuzbergstraße habe ich einen würdigen Ersatz gefunden.
Eines Urlaubstages wollte ich zu meinem Lieblings-Burgerladen in Zehlendorf, Uncle Sam’s auf der Berliner Straße an der Kreuzung zur Clayallee. Eine Institution in Sachen korrekter Old School-Burger ohne modischen Schnickschnack und experimentellem Tralala wie marokkanischer Mayonnaise und burmesischer Brunnenkresse. Natürlich ist der Wirt und Burgerbrater ein waschechter Amerikaner, der seinen Job so liebt wie Spongebob. Und selbstverständlich gibt es in diesem Lokal seit achtzehn Jahren nur Burger, Pommes und Hot Dogs – alles andere wäre Quatsch.
Ich latsche also die Berliner Straße entlang und bereite mich mental auf einen High-End-Burger in entspannter Atmosphäre vor. Ohne Gourmet-Generve und Tischreservierung wie im Prenzlauer Berg, ohne die Kinderkacke der Großkonzerne wie Selbstbedienung, Alkoholverbot und drittklassige Burgersurrogate (ich bin doch nicht in Nordkorea!). Und was sehe ich: Uncle Sam’s ist weg. Verschwunden! Jetzt ist da so eine seelenlose Salat+Sandwich-Butze und einige Schritte weiter ein riesiger Burger-Tempel, der wohl Uncle Sam’s Stammkundschaft abgreifen will. Ich bin geschockt! Was ist passiert? Ist der Wirt nach Amerika zurückgegangen? Kommt demnächst ein McDonald’s an diese Stelle? Dann ist Schluss mit lustig, dann komme ich mit Semtex wieder, Toleranz hat Grenzen. Irritiert laufe ich ein paar Schritte weiter. Ich bin auf Burger eingestellt. Den ganzen Tag habe ich mich auf meinen Lieblings-Burger gefreut – und jetzt das! Gegenüber ist ein Italiener, um die Ecke gibt’s bei Krasselt eine exzellente Currywurst, eigentlich eine Topadresse. Nein, Burger muss es sein. Ich laufe zurück und schaue mir den Burger-Tempel und seine Speisekarte im Aushang näher an. Hey, es ist Uncle Sam’s mit seiner patentierten Burger-Matrix! Auf der horizontalen Achse die Burger-Größe und auf der vertikalen Achse die Beläge. Matrix statt Karte – bin ich hier richtig?
Vorsichtig betrete ich das Lokal und wähle einen Tisch im raucherfreundlichen Außenbereich. Ich frage die Kellnerin, was passiert sei. Man habe im März renoviert und sei umgezogen, die Burger seien aber immer noch die gleichen, auch der Wirt wäre immer noch da. Glücklich und erleichtert bestelle ich einen Dallas mit Käse und ein Weizenbier. Kurze Zeit später kommt der Chef, Mr. Clarence „Lee“ Mendenhall aus Idaho, an meinen Tisch und ich erzähle ihm meine Geschichte. Ende gut, alles gut: Uncle Sam’s Burger sind unschlagbar! Gott schütze diesen aufrechten Gastwirt! Gib dieser Stadt jeden Tag deinen besten Burger, Spongebob … äh Lee!
Die Fantastischen Vier – Troy. http://www.youtube.com/watch?v=TkvuDOB9XD4
Sonntag, 17. August 2014
Der Dompteur
Als Kind bin ich immer gerne in den Zirkus gegangen. Ich liebe die Clowns und Trapezkünstler, aber am besten gefällt mir die Dressurnummer. Während das Orchester einen Trommelwirbel spielt, wird rund um die Manege eine Gitterwand herabgelassen. Dann betritt der Dompteur die Szene, er trägt eine rote Uniform mit goldenen Knöpfen und einen roten Zylinder. Er lässt die Peitsche knallen und schon kommen durch einen vergitterten Gang drei Männer in grauen Anzügen herein. Sie fauchen und schlagen mit ihren Tatzen nach ihm, doch der Dompteur sieht ihnen fest in die Augen und lässt die Peitsche noch einmal knallen. Die Anzugträger springen auf bunt bemalte Podeste und machen Männchen. Der Dompteur gibt jedem von ihnen einen Geldschein. Wieder ein Peitschenknall und die Männer laufen hintereinander eine Polonaise, bevor sie nacheinander durch einen Feuerreifen springen. Als sie wieder auf ihren Podesten stehen, bekommen sie noch einen Geldschein. Dann wirft ihnen der Dompteur Gummibälle zu, die sie geschickt auffangen und auf ihrer Stirn balancieren. Das Publikum applaudiert begeistert und der Dompteur verneigt sich. Es heißt, vor langer Zeit sei einmal ein Dompteur bei einer Vorstellung angegriffen und schwer verletzt worden. Inzwischen haben die Menschen aber das Interesse am Zirkus völlig verloren. Ich weiß gar nicht, ob es heute überhaupt noch Dressurnummern zu bewundern gibt.
P.S.: Heute vor 118 Jahren, am 17.8.1896, starb Bridget Driscoll bei einem Verkehrsunfall in London. Sie war das erste Todesopfer des Automobils. Der Fahrer des Wagens war Arthur James Edsall. Er wurde vor Gericht freigesprochen. Der Richter hoffte, dass so etwas nie wieder passieren würde. Heute sterben weltweit jährlich etwa eine Million Menschen im Straßenverkehr.
Sade – Smooth Operator. https://www.youtube.com/watch?v=o-chH7BMgVI
Das erste Foto in diesem Blog
Samstag, 16. August 2014
Der Sohn des Teufels
Nachdem Gott seinen Sohn auf die Erde geschickt und mit dem Christentum einen Riesenerfolg hatte, der ihm Milliarden von Neukunden und ungeheure Einnahmen, schicke Immobilien wie den Petersdom und gigantische Auflagen des Begleitbuchs eingebracht hatte (von den Filmrechten, Merchandising-Artikeln und der Online-Vermarktung ganz zu schweigen), beschloss der Teufel, seinen Sohn ebenfalls auf die Menschheit loszulassen.
Der Sohn des Teufels hieß Damon und er kam in Berlin-Kreuzberg als Kind einer drogenabhängigen Prostituierten auf die Welt. Er war schwer erziehbar und flog von sämtlichen Schulen. Seinen Mitmenschen predigte er Hass, Gewalt, Gier und vorehelichen Sex. Mit 17 wurde er Sänger in einer Death Metal-Band namens Hellfire und hatte bald viele Anhänger. Zu dieser Zeit vollbrachte er die ersten Wunder: Er verwandelte arglose Mädchen durch Drogen und Musik in wilde Bitches und er heilte langweilige Schwaben durch Tätowierungen und Piercings. Er gründete die Gothic-Bewegung und bekam einen Plattenvertrag, mit dem er seine erste Million machte. Auf dem Prenzlauer Berg hielt er eine Predigt, zu der Zehntausende in den Mauerpark kamen. Er verwandelte für seine Jünger Wasser in Wodka und Katzenstreu in Kokain. Die Obrigkeit wurde auf ihn aufmerksam, da er gegen die Staatsgewalt und jedwede Berufstätigkeit agitierte. Aber seine Anwälte beschützten ihn und so wuschen der Berliner Senat und die Bundesregierung ihre Hände in Unschuld. Sein Geld investierte Damon SS (für: Satans Sohn) in Google und Facebook. So wurde er nach deren Börsengang zum Milliardär. Bald hatte er viele hundert Millionen Follower, die seine Platten, Bücher, T-Shirts und Action-Figuren kauften. Er wurde noch reicher und gründete aus Steuergründen eine Umweltstiftung, für die er das Bundesverdienstkreuz erhielt.
Heute lebt er in einer prächtigen Villa in Potsdam und plant, eine Partei zu gründen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen soll, in Wirklichkeit aber der nächste Schritt zu Weltherrschaft ist. Das behauptet er jedenfalls seinem Vater gegenüber. Der Teufel weiß nicht, ob er mit seinem Sohn zufrieden sein soll, denn es hat noch immer keine Toten gegeben, und Damon weigert sich, eine Atombombe zu bauen.
P.S.: Den ersten Tag verschlief Gott. Am zweiten Tag hat er die Menschen und die Tiere der Erde zerstört. Am dritten Tag vernichtete er die Vögel und alle Tiere des Meeres. Am vierten Tag nahm er Sonne, Mond und Sterne von unserem Himmel. Am fünften Tag zerstörte er die Flüsse und Meere, die Bäume und alle Pflanzen. Am sechsten Tag wurden das Wasser, der Himmel und die Erde wieder eins. Und am siebten Tag machte Gott das Licht aus.
The Robocop Kraus – Standing in the Punchline. http://www.youtube.com/watch?v=PrCWeI6uXfw
Freitag, 15. August 2014
Die Invasion
Bundeskanzler: „Die Zuständigkeit für die ganze Angelegenheit liegt ab heute beim Bundeskanzleramt.“
Umweltminister: „Wir haben die Sache völlig unter Kontrolle. Das Raumschiff ist im Pfälzer Wald gelandet, die extraterrestrischen Wesen bewegen sich im Unterholz und ernähren sich von pflanzlicher Kost. Sie sind völlig harmlos.“
Innenminister: „Sie tauchen inzwischen auch in den Städten der Umgebung auf. Einige Leute füttern sie sogar. Sie scheinen Allesfresser zu sein.“
Gesundheitsminister: „Aus unserer Sicht sind diese Wesen ungefährlich. Wir haben einige Exemplare untersucht. Sie übertragen keine Krankheiten und sind völlig virenfrei. Allerdings vermehren sie sich rasend schnell. Sie teilen sich alle vierundzwanzig Stunden und verdoppeln somit ihre Anzahl.“
Verteidigungsminister: „Genau darin sehe ich die Gefahr. In naher Zukunft gibt es mehr von diesen pelzigen Knopfaugen als Menschen auf der Erde. Es ist eine Invasion, wir müssen sie aufhalten!“
Forschungsminister: „Aber es sind intelligente Wesen. Wir versuchen derzeit, ihre Sprache zu entschlüsseln und mit ihnen zu kommunizieren. Sie haben ein Raumschiff gebaut, das sie zu uns gebracht hat. Wenn das kein Zeichen von Intelligenz ist! Außerdem haben sie Kultur und vermutlich auch religiöse Zeremonien. Sie schließen sich zu Kreisen zusammen und summen gemeinsam Melodien. Wir dürfen sie nicht töten.“
Außenminister: „Einige dieser Wesen sind bereits auf französischem Territorium gesichtet worden. Die französische Regierung macht uns für das Problem verantwortlich. Die Schweiz will den Außerirdischen die Einreise verweigern. In den USA werden Flugzeuge aus Deutschland penibel kontrolliert. Was ist, wenn wir die Dinge nicht mehr in den Griff kriegen?“
Bundeskanzler: „Können wir die Sache nicht wenigstens eindämmen?“
Justizminister: „Das ist rechtlich unmöglich. Wir können intelligenten Wesen nicht die Fortpflanzung verbieten. Wir können sie auch nicht töten. Wie würden wir vor aller Welt dastehen? Als Barbaren. Denken Sie an unsere Geschichte.“
Wirtschaftsminister: „Können wir diese Wesen nicht dazu bringen, einfach auf einen anderen Planeten zu fliegen? Oder wenigstens in ein anderes Land? Es waren bei ihrer Landung etwa hundert Exemplare. Bei täglicher Verdoppelung sind das ungefähr dreizehn Milliarden nach siebenundzwanzig Tagen, habe ich ausrechnen lassen.“
Forschungsminister: „Nein, das Raumschiff wurde beim Aufprall stark beschädigt. Entweder war es eine Notlandung oder es wurde nur für den Zweck gebaut, diese Wesen zu uns zu bringen. Die Brennstoffzellen sind jedenfalls komplett leer. An der Analyse des Steuerungssystems arbeiten unsere Experten noch.“
Außenminister: „Es gibt derzeit kein Land, das ihnen Asyl gewähren will.“
Verteidigungsminister: „Diese süßen kleinen Biester werden alles auffressen. Wir müssen sie jetzt stoppen!“
Sozialminister: „Es ist unser erster Kontakt mit einer anderen Zivilisation im Weltall. Wir müssen eine intelligente Lösung finden. Sie sind sehr freundlich und lassen sich sogar streicheln. Es dürfte leicht sein, sie zu integrieren.“
Bundeskanzler: „Wir werden eine Kommission einrichten, die sich mit der Sache befasst. Ich möchte täglich einen Lagebericht auf meinem Schreibtisch sehen.“
Depeche Mode – Never Let Me Down Again. https://www.youtube.com/watch?v=ZbsQ0gxv9OM