Sonntag, 27. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 3, Szene 8
Der Fahrtwind kühlte seine Stirn. Er hatte es kaum abwarten können, bis die Nacht herein gebrochen war. Langsam leerten sich die Straßen, es war bereits ein Uhr. Sicherlich würde Berlin nur so von Bullen wimmeln, dachte er. Schließlich war die Brandserie das Thema Nummer Eins in den Medien. Selbst auf die Seite von Spiegel-Online und in die Tagesschau hatte er es geschafft. Ein unglaubliches Gefühl. Der Innensenator und der Regierende Bürgermeister im Interview. Und es ging um ihn. Um seine Taten. Um sein Werk. Großartig. Da draußen suchten ihn Hundertschaften der Polizei, Hubschrauber kreisten über der Stadt. Aber sie fanden ihn nicht. Er war am Drücker. Das war sein Spiel. Er hatte die Macht. Wozu Graffiti oder Flugblätter? Damit hatte er nichts erreicht. Nun hatte er die volle Aufmerksamkeit der ganzen Stadt. Überall in Deutschland sprach man über ihn. Wie viele Spießerschweine sitzen jetzt zu Hause und haben Angst? Wie viele Spießerschweine würden ihn am liebsten aufhängen? Hass, Angst – genau das wollte er mit seiner Zerstörungsorgie provozieren. Warum sollte es denen anders gehen als mir, dachte er.
Er musste eine halbe Stunde fahren, bis er im Süden der Stadt war. Dabei kam er an einigen Streifenwagen vorbei. Wirklich gefährlich waren aber die Zivilfahnder. In jedem Fahrzeug, das ihm entgegen kam oder ihn überholte, konnte der Gegner sein. Sicherlich würden sie sich auf die Innenstadt, die Bonzenviertel und Kreuzberg konzentrieren, wo in der vergangenen Nacht der Immobilienfritze verbrannt war. Vor hundert Jahren nannte man diese Leute noch Terrainspekulanten. Ein treffender Ausdruck. Er musste lächeln, als er daran dachte. Das musste Schicksal sein, dass es einen von den Richtigen getroffen hatte. Und es würde seiner Sache einen ungeheuren Auftrieb geben. Endlich würden die Anderen begreifen, dass er den richtigen Weg gewählt hatte. Die Autos letzte Nacht in Charlottenburg – das waren andere. Letzte Woche in Pankow. Das war ich auch nicht. Ich bin nicht allein. Und wenn die vielen Bullen mich nicht kriegen, kriegen sie uns erst recht nicht, wenn wir zehn oder wenn wir hundert sind. Wenn ich in einer Nacht zehn Autos anzünde, brennen hundert Autos, wenn wir zehn sind, und tausend Autos, wenn wir hundert sind. Jede Nacht. Und es werden nicht nur Autos brennen. Wir werden diesen Dreckschweinen die Paläste abfackeln, wir werden Polizeistationen und Ministerien niederbrennen. Wenn wir viele sind, bricht die Ordnung in dieser Stadt zusammen. High sein, frei sein, Terror muss dabei sein!
Das ist das bestgehütete Geheimnis der Politiker: die ganze Scheiß-Ordnung, der ganze Scheiß-Staat kann jederzeit zusammenbrechen. Wenn es tausend Menschen gäbe, die zu allem entschlossen sind, wird Berlin unregierbar. Das schafft die Polizei nicht mehr. Das hat man 2011 in London gesehen und 2005 in Paris. Ein Aktivist ist soviel wert wie tausend Schafe auf einer Demonstration. Die Zivilisation ist nur eine dünne Schicht, eine zerbrechliche Hülle. Es genügen ein paar Tage Randale und brennende Barrikaden, dann erkennt man die Angst in den Augen der Bonzenschweine. Und die Drohungen, das Militär einzusetzen, sind hilflos. Wer mit Panzern und Jagdbombern eine Stadt befrieden will, muss scheitern. Überall, wo das Militär gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird, hat die Regierung jede Sympathie verspielt, ob das nun in Libyen, Syrien oder wo auch immer ist. Wenn genug mitmachen, habe ich einen Feuerball, eine flammende Lawine ausgelöst. Berlin wird nicht mehr so sein, wie es mal war. Wir jagen die Bonzenschweine aus der Stadt, zurück nach Frankfurt und Düsseldorf. Dort können sie weiter Monopoly spielen, aber das ist meine Stadt. Er musste unwillkürlich kichern, als er an die wütenden Gesichter der Politiker, Bonzen und Bullen dachte. Die Spießerschweine haben im September ihre Pyronale, die Weltmeisterschaft der Feuerwerker. Wir machen hier unsere eigene Pyronale und wir werden sehen, wer am Ende gewinnt.
Endlich war er angekommen. Vom Kamenzer Damm bog er nach links in die Wedellstraße ein. An der Ecke war ein Italiener, die Fenster des Restaurants waren dunkel. Dann kam ein Gebrauchtwagenhändler, Autohaus Berolina. Scheiß-Name, irgendwie preußisch-faschistisch, dachte er und hielt an. Die Straße runter standen Wohnblocks aus der Nachkriegszeit. Einer sah aus wie der andere, vor den Häusern standen Autos. Das Viertel lag schon in tiefem Schlummer, als er eine Handvoll Grillkohleanzünder und sein Zippo aus der Seitentasche seines Kapuzen-Sweatshirts nahm. Nichts geht über ein gutes und verlässliches Benzinfeuerzeug, dem Billigmist aus dem Discounter konnte man nicht trauen.
Er blickte sich in Ruhe um. Niemand zu sehen, nichts zu hören. Er ging zu einem Citroen, der silberne Kleinbus war laut Preisschild ein Jahr alt und sollte 17.900 Euro kosten. Citroen rüstete die Polizei in Athen aus, das wusste er aus dem Internet. Citroen, ein Instrument der imperialistischen Unterdrücker gegen das griechische Volk und gegen die Revolution. Er legte ein Stück Grillkohleanzünder auf den Vorderreifen und setzte es in Brand. Autofahrer sind schlimmer als Nazis, dachte er. Sie vergasen den ganzen Planeten.
Dann ging er weiter und zündete noch einen Audi und einen Seat an. Lang lebe der Landesbrandpräsident, dachte er und zog die Mundwinkel ein wenig auseinander.
Er setzte sich wieder auf sein Fahrrad und hielt ein paar Hundert Meter weiter an. Hier erwischte es einen Mercedes und einen BMW. Durch die Fernseh- und Zeitungsberichte hatte er im Laufe der letzten Wochen die Besitzer der Fahrzeuge näher kennen gelernt. Da jammerte ein Rentner über seinen abgefackelten Opel Corsa, da erhob der junge Familienvater mit Halbglatze seine Stimme im Zorn, während hinter ihm die ganze Nachbarschaft das ausgebrannte Wrack seines Kombis angaffte. Diese Menschen waren ihm nicht nur gleichgültig, sondern auch unsympathisch. Wie sie ihren kläglichen Besitz und ihr erbärmliches bisschen Leben verteidigten, hatte für ihn etwas Lächerliches, Nagetierhaftes. Keiner nahm die Veränderung als Chance war. Man könnte es doch mal ohne Auto probieren. Man könnte weiteren Wohlstandsplunder aus seinem Leben verbannen. Stattdessen dachten sie noch nicht einmal über ihren egoistischen Lebensstil nach, sondern verteidigten verbissen ihr Gewohnheitsrecht, mit einer drittklassigen Karre die Stationen ihrer albernen Existenz abfahren zu können. Man sollte euch gleich in euren Blechsärgen beerdigen, dachte er. Aber die linken Konsenstierchen waren in ihrer lauwarmen Mittelmäßigkeit nicht viel besser. Wer freundlich ist, wird nicht respektiert. Wenn du hart bist, schauen dich die Leute ganz anders an. Es hilft nichts, sich alles schönzureden. Du sitzt in der Scheiße und redest dir ein, dass Braun dir steht. Es ist nicht alles gut.
Es war Zeit abzuhauen. Bald würden die Wagen lichterloh wie riesige Fackeln brennen. Feuerwehr und Polizei würden in fünf Minuten hier sein. Immer in Bewegung bleiben. Und nicht direkt zurück nach Neukölln. Jede Nacht war er in einem anderen Teil der Stadt, wenn es nicht regnete oder er mit den Jungs um die Häuser zog. Mitte, Prenzlauer Berg, Charlottenburg, Tiergarten oder Reinickendorf. Und manchmal fuhr er sogar am nächsten Tag noch einmal hin, um mit seinem Handy ein paar Fotos von den ausgebrannten Wracks zu machen. Aber inzwischen gab es genug Bildmaterial im Internet und in den Zeitungen. Die Welt würde sich an ihn erinnern, dachte er, und es lief ihm ein leichter Schauer über den Rücken. Er trat in die Pedale, überquerte die Malteserstraße und hatte bald darauf eine unauffällige Gegend mit Einfamilienhäusern in Lankwitz erreicht. Ein BMW X5 reizte ihn, aber er musste erst einmal weiter. In einem Bogen würde er sich nach Norden bewegen und unterwegs noch die restlichen zwei Grillkohleanzünder einsetzen. Wenn man ihn dann kontrollierte, war er einfach nur ein junger Mann mit Zigaretten und Feuerzeug. Einen Ausweis hatte er nicht dabei, aber er würde im Zweifelsfall einfach die Personaldaten eines Kommilitonen abgeben, auf dessen Geburtstag er mal gewesen war. Er war ungefähr gleich alt und gleich groß, außerdem ein Langweiler, der mit Sicherheit ein blütenweißes polizeiliches Führungszeugnis aufzuweisen hatte. Das würde einer oberflächlichen Überprüfung seiner Daten per Funk standhalten.
Während er von der Frobenstraße in die Seydlitzstraße einbog, dachte er an sein Studium. Seinen Eltern hatte er gesagt, er studiere Geisteswissenschaften. Das hatte er aber nach einem Semester aufgegeben. Eigentlich hatte er sich höchstens mal in der Cafeteria oder der Bibliothek des Fachbereichs herumgedrückt. Als Karteileiche war er noch an der Uni eingeschrieben, aber das Dreckssystem machte ihm Druck, weil er keine Scheine machte. Vielleicht sollte er Integrationspädagogik studieren? Auf dieses Fach war er eigentlich nur gekommen, weil er in der Uni-Mensa einmal am Nebentisch Ludmilla Kesselfleisch davon reden gehört hatte. Seitdem ging er gelegentlich in den hässlichen kleinen Flachbau in der Fabeckstraße in Dahlem, in dem der Arbeitsbereich Integrationspädagogik, Bewegung und Sport untergebracht war. Einige Male hatte er schon mit ihr sprechen können und hatte ihr von den regelmäßigen Treffen der linken Szene in der Schillerpromenade erzählt.
Sie sah einfach umwerfend aus mit ihren hohen Wangenknochen und den leicht schräg stehenden himmelblauen Augen. Ihr Weltklassearsch steckte in hautengen Jeans und sie trug gerne Adidas-Sportjacken in Dunkelblau. Diese Farbe erinnerte ihn an die Farbe seiner eigenen Augen: ein dunkles, metallisch wirkendes Blau. Ob sie es mochte? Wenn sie bei den Versammlungen auftauchte, legte er sich immer ins Zeug und gab sich so radikal wie möglich. Er verteidigte die Brandserie und forderte die Revolte. Er hoffte, sie damit zu beeindrucken. Er hatte noch nie eine feste Freundin gehabt, immer nur kurze Affären. Aber er war auch noch nie wirklich verliebt gewesen. Bei Ludmilla war es anders, er spürte etwas in seinem Hals, wenn er an ihr Gesicht oder nur an ihren Namen dachte. Aber er war ein Spielkind, dessen Ungeduld längerfristige Projekte verhinderte, das wusste er. Er war das Nesthäkchen seiner Familie gewesen. Er durfte verspielt bleiben, ihm wurde im Gegensatz zum Erstgeborenen alles verziehen.
Als er auf der Siemensstraße den Teltower Kanal überquerte, kam ihm eine Polizeistreife entgegen. Verdammt! Er musste sich konzentrieren. Noch zwei Autos und dann zurück in seine Wohnung. In Steglitz, nicht weit vom Insulaner, einer Sternwarte nebst Freibad, fand er was er suchte. Die silbernen Limousinen sahen ziemlich neu aus. Er stieg ab und holte wieder die Grillkohleanzünder aus der Tasche. Überall die gleichen oberflächlichen Menschen, dachte er, als er wieder auf sein Fahrrad stieg. Ihr lebt in einer Traumwelt mit Prosecco und Vorabendserien, mit dreißig seid ihr schon tot. Was kommt noch? Reihenhaus und Riesterrente, Menopause und Marmorgrabstein. Ihr sterbt mit offenen Augen und eure Kinder werden einmal dieselben Sparkassenvisagen haben wie ihr. Ich will nicht so leben wie ihr. Das muss ich auch nicht. Ich kann alles sein, ich bin frei, so frei, dass ich schreien könnte. Ich darf alles und muss mich nicht entscheiden. Und eure Autos liegen stumm und schutzlos vor mir wie schlafende Lämmer. So traumlos und tot wie ihr in euren Betten.
Talking Heads - Burning Down the House. https://www.youtube.com/watch?v=6wSFEHFFk_4
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