Samstag, 26. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 2, Szene 1
Die menschliche Großhirnrinde wird allgemein überschätzt. Ständig denkt sie ungefragt vor sich hin und produziert unnötige Sorgen. Jetzt stand Jan Mardo zum wiederholten Mal am Fenster neben der Eingangstür ihrer Gaststube und spähte auf den Bürgersteig hinaus. Zwei junge Mädchen mit bunten Kopftüchern schlenderten lachend vorüber, ein großer Mann mit Glatzkopf trug ein würfelförmiges Paket vorbei.
Mardo war schmal, schlank und trug die schwarzen Haare kurz. Würden Julia und er heute mit ihrem neuen vegetarischen Restaurant Geld verdienen oder würden seine zweifelhaften Einkünfte als Privatdetektiv ausreichen müssen? Würden Sie jemals ihre Schulden zurückzahlen können? Für das satte Gelb und das zarte Grün an den Wänden, für Küchengeräte und Geschirr? Wie lange konnten sie sich die Ladenmiete leisten? Würde ihre Idee, ein vegetarisches Restaurant mit fast ausschließlich eigenen Kreationen, die Namen trugen wie „Goldenes Dreieck“ oder „Stiefmutters Rache“, in einem der unangesagtesten Viertel der Stadt zu eröffnen, am Ende scheitern? Geld für einen zweiten Versuch hatten sie nicht. Die Küche hatten sie zwar übernehmen können, aber die Innenausstattung hatte einiges gekostet. Die Wände hatte eine Graffiti-Künstlerin namens Sophie van der Nacht bemalt, die Julia noch von der Uni kannte.
Zwar kostete die Welt in diesem kleinen Wohnviertel im Wedding, nördlich der Bernauer Straße und der touristischen Zone Berlins, nicht viel, aber auch dieses wenige produzierte einen permanenten Strom neuer Sorgen in seinem Kopf. Vor drei Tagen war die große Einweihungsparty mit allen Freunden und Verwandten in ihrem Restaurant gewesen. Das „Seven Heavens“ lag in der Brunnenstraße, auf der anderen Straßenseite war der Humboldthain. Julia und Mardo hatten stundenlang an ihrem vegetarischen Buffet gearbeitet, viele der Rezepte stammten aus Julias Feder. Mardo hatte in den vergangenen Wochen das Versuchskaninchen, besser: den Laboraffen gespielt, war aber nicht völlig vom Fleischgenuss zu entwöhnen. Die Gäste waren begeistert gewesen, aber in den vergangenen Tagen war das Geschäft nur schleppend angelaufen.
Julia, seine Lebensabschnittsgefährtin, spürte seine Unruhe und versuchte ihn abzulenken: „Sei nicht so ungeduldig. Es ist noch nicht einmal zwölf Uhr.“ Sie lächelte. „Bin ja mal gespannt, was wir hier für Gäste bekommen. Freunde und Nachbarn, klar. Aber vielleicht kommen ja auch ein paar Leute aus Mitte oder Prenzlauer Berg. Was trinken die feinen Leute aus dem Prenzlauer Berg eigentlich außer Bionade?“
„Koffeinfreien Kaffee mit laktosefreier Milch.“ Mardo hatte als gebürtiger Weddinger seine Probleme mit dem Schickimickivolk aus dem Prenzlauer Berg und Alt-Mitte, die sich in gelegentlichem Sarkasmus manifestierten.
„Latte macchiato wird es in meinem Restaurant nicht geben. Eher erschieße ich mich.“ Julia hatte die Haare kurz geschnitten, so dass ihre winzigen Ohren besser zur Geltung kamen. Außerdem hatte sie sich in der Aufregung der letzten Wochen das Haupthaar knallrot gefärbt. Die Farbe passte zu ihren blauen Augen.
„Die kriegen hier das hervorragende Aqua Canale aus dem freilaufenden Hahn. Ansonsten haben wir ja etliche gute Teesorten. Nicht zu vergessen das feine Bier aus Mareks Mikrobrauerei in Neukölln.“
„Meinst du, wir brauchen eine Spielecke mit Holzspielzeug für die Kleinen?“ fragte Julia besorgt.
„Und dann noch eine Wickelkommode oder was?“ Mardo schüttelte finster den Kopf.
Julia wechselte das Thema, vielleicht sollten sie weniger über ihr Lokal reden. „Hast du schon von dem toten Immobilienhändler gehört? Den haben sie heute Nacht gefunden.“
„Wundert mich bei den steigenden Mieten gar nicht.“
„Aber so im Auto verbrannt … schon ungewöhnlich, oder?“
„Warten wir mal das unvermeidliche Bekennerschreiben ab“, sagte Mardo und wandte sich wieder seinem Beobachtungsposten am Fenster zu.
„Vielleicht ist ja auch olle Leber mit dem Fall befasst?!“
Mardo hatte vor einem halbem Jahr Kommissar Leber bei der Aufklärung eines Falles geholfen und fünftausend Euro Belohnung erhalten. Er selbst glaubte nicht an den Erfolg des Restaurants, aber er ließ sich Julia gegenüber nichts anmerken. Genauso gut hätten sie ein Haus aus Sand in der Sahara bauen können. Der Dispo war bis zum Anschlag ausgereizt und sie hatten sich Geld von ihren Eltern leihen müssen. Gerade als Mardo sich ganz sanft in eine temporäre Depression hineingegrübelt hatte, wurde die Eingangstür geöffnet und eine indische Reisegruppe strömte plaudernd und lachend hinein. Mardos Herz setzte für einen kurzen Moment des Glücks aus, um danach umso heftiger zu pochen. Umsatz! Möge Vishnu, Shiva oder wer auch immer seine sicherlich zahlreichen schützenden Hände über die indischen Vegetarier halten!
Ihr Lokal war früher eine Dönerbude gewesen. Julia war für die Küche zuständig, sie hatte ein halbes Jahr in einem vegetarischen Restaurant bei einem uralten Tamilen kochen gelernt. Ihr Geheimnis waren neben den leckeren indischen und chinesischen Rezepten ihre europäischen Kreationen: eine leckere und pikante Gulaschsuppe auf Tofubasis, Steinpilze in allen Formen (als Risotto, Suppe oder mit Polenta serviert), Auberginen (überbacken, gebraten, mit Nüssen und Rosinen gefüllt) und deutsche Vegi-Klassiker wie Eierpfannkuchen, Linsensuppe oder Käsekuchen.
Julia verschwand in der Küche und Mardo war alsbald mit seinem Tablett voller Dal-Suppe und Mango-Lassi unterwegs. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf, von denen Mardo nichts wusste und die doch bald sein Leben bestimmen würden: ein toter Mann, eiskalte Russen, wütende Spekulanten, Nazis, Linke und die Polizei. Mardo würde sich die Sorgen um den Erfolg ihres Lokals noch zurück wünschen, wenn er gewusst hätte, was ihn in den nächsten Tagen erwartete.
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