Sonntag, 28. Dezember 2014
Brief vom 1. Oktober 1987
Lieber …!
Als ich vorhin die Treppe zu meiner Wohnung hinauf gestiegen bin, sah ich vom Fenster des Flurs im ersten Stock einen Vogel auf dem Vordach liegen. Er ist offenbar gegen die Scheibe geflogen und lag, still vor sich hin zitternd, in einer großen Blutlache. Wäre ich konsequent, würde ich dem Leid ein Ende machen, aber ich bringe es nicht übers Herz. Man muss nur das Fenster öffnen und hinaus klettern. Vor meinem geistigen Auge entwickelt sich der Fortgang der Geschichte: Frau Sekulla aus dem ersten Stock, die den ganzen Tag sowieso nichts zu tun hat, und andere Leute durch den Türspion observiert (und hinterher in ihren Tratschgeschichten abserviert), wird, da das Vordach in ihren Hygienebereich fällt, gleich wie eine Spinne aus ihrer Höhle schießen, in der linken Hand ein altes Zeitungsblatt, in der rechten einen feuchten Lappen, und für ihr Alter erstaunlich gewandt durchs Fenster steigen. Mit dem Papier wickelt sie vorsichtig den sterbenden Vogel ein (ohne sich die Finger schmutzig zu machen), mit dem Lappen wischt sie das viele, schwarz werdende Blut auf. Diese Menge hätte man in so einem kleinen Singvogel gar nicht vermutet. Dann geht sie zur Mülltonne, wo das arme Wesen dann ohne Verstoß gegen die Hausordnung verrecken darf. In einer stinkenden Mülltonne!
Aber ich wollte Dir ja von meinen Erlebnissen in der Fabrik erzählen. Ich war heute in der Kantine essen. Die Kantine ist ein Nachkriegsflachbau, er brummt und riecht ein wenig. Jeden Mittag essen dort über zweitausend Menschen. Die älteren Angestellten mit Schlips und grauem Anzug, die jüngeren in C&A-Chic, die Arbeiter im Blaumann und die Leute aus den Laboren im weißen Kittel. Pünktlich um zwölf Uhr öffnet die Kantine. Es wird in vier Schüben gegessen, jedes Mal stehen also gut fünfhundert Leute vor den drei Plexiglastüren. Sie sind bereits offen, aber niemand geht durch sie hindurch, obwohl die wartende Menge auf kleinstem Raum gedrängt ist. Alle stehen sie hungrig da und sehen den Küchenmägden beim Tischdecken zu. Das Essen wird hier in Schüsseln und Platten auf die Tische gestellt. Gegen 11:58 Uhr machen die Leute, die vorne stehen, meistens Arbeiter, die ersten Scherze. Einer schubst den Anderen, der schon unvorsichtigerweise einen Schritt in die Kantine gemacht hat, sie lachen, doch der Blick aus den böse rollenden Augen einer Magd treibt den Mutigen zurück. Verlegen verschwindet er in der Menge.
Um zwölf Uhr dann endlich - nicht um 11:59 Uhr, nicht um 12:01 Uhr – ein kurzes Handzeichen, ein kleiner Wink der Obermagd, den ich nicht einmal bemerkt habe, und nichts kann die Meute mehr halten. Ich werde an irgendeinen Tisch gespült, das Getöse und Geklapper ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Es gibt keine festen Plätze, jeder kann sich hinsetzen, wohin er will, aber natürlich setzt sich grauer Anzug zu grauem Anzug, C&A zu C&A und Blaumann zu Blaumann. Geredet wird kein Wort, binnen acht Minuten sind sämtliche Schüsseln geleert, einige schaffen es sogar in vier oder fünf Minuten. Als ich nach einer Viertelstunde vom Tisch aufstehe, schweißüberströmt und satt, bin ich einer der letzten im Saal. Wohlwollend blicke ich zu den Türen hinüber, wo sich schon der nächste Schub versammelt hat und sich die Nasen an den Fensterscheiben platt drückt. Noch ein Blick in die Küche: Ein mannshoher Kübel wird von einer Frau mit einem Leiterchen erstiegen, sie beugt sich hinein und schöpft einige Liter Suppe heraus, während eine Andere mit einem baseballschlägerartigen Holzknüppel, er ist über einen Meter lang, darin herumrührt.
Ein Handwerker hat mir einmal das Gästecasino gezeigt, das gerade umgebaut wird. Nur die Zimmereinrichtung hat 125.000 Mark gekostet. Ein anderer Raum, genauso supernobel eingerichtet, dient dem Firmenchef als Speisezimmer. Der Ton meines Reiseführers wandelte sich in ein verschwörerisches Flüstern, als er auf den leeren Platz des Pillen-Imperators zeigte. Auf dieser geheiligten Erde würde also seine Majestät demnächst lustwandeln. Schuldbewusst blickte ich auf meine zerlumpten Turnschuhe hinab. Der Handwerker hat mir auch die neue Chefetage gezeigt, die auf das Dach des Verwaltungsgebäudes gebaut wird. „Hier ist das Büro vom Chef“, „Das da ist seine private Toilette“ – und da deutete er in einen kleinen Seitenraum und lächelte dabei. Ich weiß gar nicht, wie ich es Dir beschreiben soll. So verzückt, als sei ihm ein höheres Glück zuteil geworden ... Einmal hinter die Kulissen der Großen schauen. In diesen Turnschuhen! Die Krone des Hochhauses bildete übrigens nicht, wie Du vielleicht vermuten wirst, ein Firmenzeichen, sondern eine Flasche Bitburger, die ein Bauarbeiter auf dem Dach abgestellt hatte, das wir auch noch besichtigt haben, um einen großartigen Panoramablick über die Stadt zu genießen.
Nachtrag: Als ich vorhin wieder durchs Treppenhaus lief, war der Vogel verschwunden. Nur noch ein verwischter Rest von Blut ließ die vorausgegangenen Ereignisse erahnen. In der Mülltonne habe ich erst gar nicht nachgeschaut. Die alte Sekulla! Wie ich dieses miese Stück Scheiße hasse! Neulich war ein – wie hätte es auch anders sein sollen – Staubsaugervertreter bei mir. Als ich die Wohnungstür öffnete, pries er mir nicht etwa sein Wunderwerk an, sondern fragte mich total entrüstet, ob die Frau im ersten Stock ein bisschen wunderlich wäre. Sie hätte auf sein Klingeln nicht geöffnet, sondern hätte ihn eine volle Minute durch den Türspion angeschaut. Er konnte aber, wie alle Vertreter, erkennen, ob jemand durch den Spion sah oder nicht. Seelenruhig standen sich die beiden eine Minute Auge in Auge gegenüber. Er hat das Duell verloren. Was geht in einem Menschen wie der Sekulla vor? Der arme Staubsaugermensch war ganz durcheinander.
Ach, was soll’s. Ich mache Schluss. Mit allem – und anfangen werde ich mit diesem Brief.
Matthias
Paul Kalkbrenner - Sky and Sand. https://www.youtube.com/watch?v=8ybFb_wKlvQ
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