Samstag, 27. Dezember 2014
2005
Auszüge aus dem Notizbuch:
16. Februar, Berlin. In einem geordneten, perfekt durchorganisierten Haushalt weiß man: Es gibt keine Zigaretten mehr. Im Chaos hast du aber immer eine Chance. Irgendwo findest du noch was zu rauchen.
17. Februar. Die Medienfritzen haben eine hohe Verantwortung für die Gesundheit ihres Publikums. Grund: Je schlechter die Unterhaltung, desto größer der Missbrauch von Alkohol und Drogen (um das Programm auszuhalten oder um dessen Niveau zu erreichen). Schlechte Unterhaltung tötet Menschen!
18. Februar. Sprichwörter der Moderne, Teil 99: Wo man Unterwäsche kaufen kann, da lass dich ruhig nieder; böse Menschen tragen keine Mieder.
28. Februar. Es ist Mitternacht, ich renne auf die U-Bahn zu. Der Gang, durch den der Lärm meiner aufschlagenden Stiefel hallt, liegt im rechten Winkel zum Bahngleis. Ich laufe direkt auf den vordersten Wagen zu, in dem ein gelangweilter und boshafter BVG-Knecht am Steuerpult sitzt. Er dreht langsam den Kopf und sieht mich heran sprinten. Ich komme näher. Er lächelt nicht einmal, er blickt nur wissend. Und er schafft es tatsächlich wie ein Klaviervirtuose, zum exakt richtigen Zeitpunkt die Türen zu schließen, so dass ich nur noch mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen gegen die geschlossene Wagentür klatschen kann. Bravo!
11. März. Der Sauerstoffschock. Trinker reden von ihm wie Küstenbewohner über Haie und andere Meeresungeheuer. Es ist ein Unglück, das jeden treffen kann, eine unheimliche Erfahrung. Ich erinnere mich, wie ich nach einem Abend im angesagten Tanzlokal jener Kleinstadt auf allen Vieren vor meinem Alfa Romeo kniete und versuchte, den Schlüssel ins Türschloss zu bekommen. Der böse, böse Sauerstoffschock!
31. März. Die meisten Menschen bewegen sich wie Gejagte durch die Zeit, nur wenige wie Jäger. Noch geringer ist die Zahl der Mönche, die der Jagd entsagt haben.
2. April. Heute habe ich der kleinen Linda (eineinhalb Jahre alt) das allererste Eis ihres Lebens beim Italiener in der Maaßenstraße spendiert. Das Bällchen Vanilleeis hat sie zunächst mit vorsichtiger Skepsis, dann mit wachsendem Genuss eigenständig gelöffelt (und weil sie das neue Wort „Eis“ mit „heiß“ assoziierte, hat sie am Anfang drauf gepustet). Außerdem ist der Papst heute gestorben.
21. Mai. Der Kulturbegriff ist Bakterien und Menschen vorbehalten.
18. Juni. Mit N. bin ich ein paar Tage im Hotel Rosenlaui im Berner Oberland. Ein schönes altes Haus an einem Bergbach, es gibt weder Fernsehen noch Radio, dafür aber eine große Bibliothek. Zimmer wie aus ferner Vergangenheit mit Waschschüssel und Wasserkrug, schon Goethe und Tolstoi haben hier gewohnt. Die berühmte Eigernordwand. Vom Wetterhorn löst sich donnernd eine Lawine, Minuten später kreisen ein Rettungshubschrauber und ein Adler auf der Suche nach Opfern über dem Gebiet. Anschließend besuchen wir noch das Engadin und Südtirol.
27. Juni, Barcelona. Ich sitze in einem Lokal an der lauten und meeresblicklosen Uferpromenade, um mich herum lauter andere Einzelgänger. Manchen hat das Bier, gemeinsam mit der Mittagssonne, die Zunge gelöst und sie rufen den Passanten unverständliches Zeug zu. Ich merke, dass mich ein Mann beobachtet, also werfe ich einem vorüber fahrenden Bus einen bedeutungsvollen Blick zu. Er folgt meinem Blick, sieht nur den Bus und kratzt sich verlegen am Kopf.
28. Juni. Gaudis Architektur, fließend wie Wasser, wachsend wie Pflanzen. Später Langusten, Weißwein und ein Spaziergang durch die Altstadt, der mich ans Meer und in die Barceloneta führt. Frauen, die im rechten Arm ihr Kind halten und mit der Linken Bier aus Flaschen trinken. Selbstgemachte Knasttätowierungen statt ordinärer Arschgeweihe westfälischer Studentinnen. Schmale Häuser mit Unmengen von bunter Wäsche, die zwischen ihnen aufgespannt ist, aus kleinen Läden plärrt die indische Top Ten. Natürlich bin ich auch hier ein Fremder, aber ich bin es gerne, denn ich brauche den überfüllten Strand und die sinnlosen Boutiquen genauso wenig wie die Einheimischen. Auf diese Weise gehöre ich nirgends hin, so wie ich es immer wollte.
29. Juni. Maschinenlärm der Klimaanlage, leere Schubladen und Schränke, Insekten warten, bis ich wehrlos schlafe. Alle Gebäude, die ich vom Hotelfenster aus sehen kann, sind sandfarben. Warum gibt es keine schwarzen Häuser auf der Welt? Weil niemand sie mag. Die Farben der Häuser spiegeln die Natur wider, den Himmel, den Strand, die Sonne.
14. August, Schweppenhausen. Der Sternenhimmel wölbt sich gewaltig über dem dunklen Dorf. Ich bin nur ein bedeutungsloser Krümel, der die Gasse hinauf geht. Aber ein Krümel, der betrunken ist und ein klein wenig glücklich.
18. August, Berlin. Anfang einer SF-Story: „Wir schreiben das Jahr 3005. Mein Vater ist ein abgeschnittener Fingernagel aus dem 20. Jahrhundert. Unser gesamtes Erbgut stammt von antiken Müllkippen, weil wir so degeneriert sind ...“
1. September. Aus den alten Zeiten, die nie gut waren: Die Google-Suche. „Blöde Frage“ = 462.000 Treffer, „Saublöde Frage“ = 7.500 Treffer und „Selten blöde Frage“ = 123 Treffer. Speichern unter D wie Dreck.
Ich gebe den Ideen ein Dach aus Worten.
4. September. Ein Anti-Midas: Ihm wurde alles zu Scheiße, was er anfasste.
2. Oktober. Im ersten Berliner Adressbuch von 1799, in dem allerdings nur die Haus- und Grundbesitzer eingetragen sind, ist ein Tischler namens Eberling verzeichnet. 1930 gibt es bereits 13 Eberlings, darunter Handwerker, Kaufleute, Witwen, Kellner usw. Aktuell stehen 20 Eberlings im Telefonbuch.
8. Oktober. Man kann sich nur verlaufen, wenn man ein Ziel hat.
Ein Mann, der sturzbesoffen und stinkend einen U-Bahnsteig entlangtorkelt, erlangt eine ebenso hohe Aufmerksamkeit wie ein Filmstar. Ganz oben, ganz unten – und alles starrt dich an.
27. Oktober. Ob so eine Nase im Laufe eines Lebens wohl eine Tonne Rotz produziert?
9. November, Neapel. Alles, was ich als Kind schon immer von Italien erwartet habe, finde ich hier: Lärm, Chaos, Enge, Gestank, Hitze, Elend. Fliegende Händler mit allem Tinnef und Talmi des Planeten, mannshohe Müllberge und ein Straßenverkehr, der Fremde in den Wahnsinn treibt. Noch in der kleinsten Gasse fahren Vespas und winzige Autos durch die Menge der Flaneure. Nur in den Kirchen ist es still und kühl – ich habe dort Menschen lesen und schreiben sehen, offenbar findet man nur hier die Muße dazu. Vor dem Theater Trianon sind ein paar antike Trümmer mit einem Gitterzaun eingefasst, über den gerade ein paar fröhliche Jungs klettern, weil sie ihren Fußball hinein geschossen haben. Zweieinhalb tausend Jahre Geschichte fließen ganz selbstverständlich ineinander.
10. November. Die Flagge Neapels: ein Bettlaken. Alle Häuser haben große Balkone, wo nicht nur die Wäsche hängt, sondern ganze Familien zu besichtigen sind. Es ist wie eine große Theateraufführung und immer wieder geht ein neues Türchen auf, die großen Häuser sind wie Adventskalender. Aus dem zweiten Stock wirft eine korpulente Frau mit elegantem Schwung eine Mülltüte auf die Straße und verschwindet wieder. Selbst Rio oder Nairobi habe ich nicht so schmutzig in Erinnerung.
22. November, Berlin. Nachts wird alles klar: In der Finsternis sehe ich zuletzt nur noch das kristallene Leuchten der Gläser und Flaschen, alles andere ist schwarz. Ein stiller erhabener Augenblick. Tagsüber sieht man nur den Himmel, nachts aber das ganze Universum.
23. November. Denkmäler: die versteinerten Hoffnungen vergangener Zeiten.
24. November. Gibt es eigentlich Intelligenz ohne Aggression? Offenbar nicht, denn die Vernunft ist nur Mittel zum Zweck, sie dient der Durchsetzung von Interessen. Die Frage wäre also: Gibt es Klugheit ohne Machtansprüche?
Heute rief eine Lektorin von Suhrkamp an und fragte mich, ob ich eine Biographie über Gandhi schreiben könne, ein Autor sei ausgefallen. Wird der heimliche Traum vom Schriftstellerberuf tatsächlich wahr?
25. November. Seine Stimme ist nicht verstummt, es hört ihn nur keiner. Ist seine Stimme zu schwach, sind die Zuhörer taub oder ist er einfach zu weit entfernt?
28. November. „Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.“ (Kafka an seine Schwester Ottla 1914)
2. Dezember. Was lehrt uns das Leben der Schnecke? Mit einem Haus auf dem Rücken kommt man nicht weit.
The Offspring – Self Esteem. https://www.youtube.com/watch?v=eeWjzBHUdsI
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