Freitag, 26. Dezember 2014
Die Strafe, Kapitel 1
Sind nicht alle Brücken letztlich gebaut, um niedergebrannt zu werden? Er stand vor einer alten Holzbrücke, die sich über einen schmalen Fluss wölbte. Sie besaß keinerlei Schmuck oder Anstrich, das graue Holz war zersprungen und löchrig. Niemand war zu sehen, um ihn Wiesen und in der Ferne ein Wäldchen voll struppigem Unterholz. Er ging auf die Brücke, die Bretter knarrten und stöhnten unter ihm. Ein leichter Wind kam auf, er roch den nahen Frühling, Blumenduft mischte sich in den erdigen Geruch der Weiden.
Auf der anderen Seite war der Boden grau, die schwarzen Bäume wirkten, als hätten sie seit langer Zeit keine Knospen mehr getragen. Er blickte zurück, aber Nebel begann, die Brücke und den Fluss einzuhüllen. Auch hier kein Mensch. Also ging er los. Er überquerte Berge und fand den Weg durch dichte Forste. Endlich kam er in einer Stadt an. Es war eine sehr große Stadt und wie alle großen Städte nahm auch sie diesen Fremden großzügig auf. Er fand Unterschlupf in einer Wohngemeinschaft und bewohnte ein kleines Zimmer hinter der Küche, von dem aus man durch ein winziges Fensterchen den Hinterhof voller Fahrräder und Mülltonnen sehen konnte.
Seine Vermieterin, eine umfangreiche Witwe jenseits der Fünfzig mit einer Vorliebe für Faltenröcke und Barry Manilow, hatte drei Zimmer ihrer riesigen Altbauwohnung vermietet und kochte auch des Abends für ihre Zimmerherren. Die beiden anderen Gesellen waren Studenten der Betriebswirtschaft, sie trugen beide die immer gleiche weiß-dunkelblaue Hemd-Pullover-Kombination. Er konnte sie nie richtig auseinander halten, auch weil sie immer über die gleichen Begebenheiten sprachen. Beide trugen Brillen, die den Eindruck vermittelten, die Gestelle seien breiter als das dazugehörige Gesicht. Auch der akkurate Scheitel saß bei den beiden Studiosi auf der gleichen Seite. Dazu ihre ungeteilte Vorliebe für Rinderrouladen. Aber er war fremd und hatte dazu wenig Geld. Also passte er sich an.
Er führte eigentlich ein ruhiges und angenehmes Leben voll verschlafener Vormittage, nutzlos verbrachter Nachmittage und durchsoffener Nächte, als es eines Morgens an die Tür seines Zimmers klopfte. Schon damals bei seinem Aufbruch wusste er, dass es passieren würde. Jemand würde Dennis K. verleumden. Dennoch ist man im eigentlichen Augenblick des Geschehens völlig unvorbereitet und noch im allerhellsten Tageslicht schlaftrunken. Als er - zu unbestimmter Stunde, aber die Sonne stand bereits am Himmel – den Fernseher einschaltete, klopfte es unmittelbar und noch bevor er „Herein!“ rufen konnte, standen zwei Männer in anthrazitfarbenen Anzügen vor ihm. Zunächst glaubte er, die beiden Zimmerherren in ihren Konfirmationsanzügen vor sich zu haben. Sicher ein Scherz, mit dem ihm auf humorvolle Weise die Nutzlosigkeit seines Lebens vorgeführt werden sollte. Er war nicht sicher, ob er diesmal mitlachen würde oder ob er den beiden angehenden Betriebswirten den Sinn des Müßiggangs anhand ausgewählter Zitate nicht endlich einmal deutlich machen müsste.
Aber diese Männer hatte er niemals zuvor gesehen. „Sie sind verhaftet“, sprach ruhig der eine, während der andere gelangweilt in verschiedenen Schriftstücken und Briefen las, die über den gesamten Schreibtisch verstreut lagen. „Wer sind Sie denn überhaupt?“, fragte K., während er sich langsam aus seinem Bett erhob, über dem ein Nachdruck des Gemäldes „Der durstige Mann“ angebracht war. „Er will wissen, wer wir sind“, mit diesen Worten drehte sich der dunkelgraue Sprecher zum dunkelgrauen Leser, der zu lachen begann. Und sich nun selbst an K. wandte, als hätte er nur auf den Abschluss der Vorrede gewartet, um endlich mit der eigentlichen Unterredung beginnen zu können. „Sie werden sich bis auf weiteres in diesem Ort aufhalten und müssen permanent erreichbar sein. Wir geben Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt neue Anweisungen.“ Es klang nicht so, als ob er zur Antwort mehr als verständnisvolles Nicken erwartete. „Was wirft man mir denn vor?“ fragte K. dennoch. „Wir sind nur befugt, Ihnen diese Mitteilung zu machen. Über Ihre Verwendung wird an anderer Stelle entschieden.“
K. trat zum niedrigen Fenster. Er musste den Kopf beugen, um hinaus sehen zu können. Auf der anderen Hofseite sah er eine alte Frau, die es sich mit einem reich bestickten Kissen auf einem Fensterbrett bequem gemacht hatte und nun ungeniert herüber starrte. K. beschloss, die neuen Grenzen, die sein Leben bestimmen sollten, einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Er ging ohne Hast zwischen den beiden Männern hindurch in den langgezogenen und lichtlosen Flur der Wohnung. Dort blieb er stehen und wartete. Dann drehte er sich um, aber niemand folgte ihm. Die Behörde, deren Aufmerksamkeit sich auf ihn gerichtet hatte, verfügte offenbar über keine polizeiliche Gewalt und Handhabe gegen ihn. Er konnte einfach sein Zimmer verlassen, das vor wenigen Augenblicken noch zu seinem Verließ erklärt worden war. Mutig ging er ein paar Schritte zur portalartig in die hohe Wand gesetzten Wohnungstür, als ihm ein großer älterer Mann in den Weg trat. K. wunderte sich, dass er dieses gewaltige Schnaufen, welches die Atmung dieses Mannes bestimmte, nicht bereits viel früher wahrgenommen hatte.
„Wie sehen Sie denn aus?“ fragte ihn der große Mann. K. trug nur Jeans und T-Shirt und als er diese Frage hörte, blickte er fast verwundert an sich herab. Wie wollte er in dieser Bekleidung, dazu barfuß, das Verhör durch jenen Herren überstehen, der einen tadellosen Dreiteiler und eine – eigentlich überflüssige, aber dennoch beeindruckend wirkende – Melone trug? Nun traten, wie auf ein geheimes Zeichen zur gleichen Zeit, die beiden Zimmerherren in den Flur. Stumm betrachteten sie die Szene, die Wangen aneinander geschmiegt. K. zog mit seinem Schweigen die nächste strenge Frage auf sich. „Wie wollen Sie denn in diesem Zustand arbeiten?“ brummte der Mann, der ganz offenbar mit den beiden anderen unbekannten Herren gekommen war und als ihr Vorgesetzter sicher völlig anders zu sprechen gewohnt war. K. fühlte sich eigentlich wohl, unter den Blicken dieses Herrn und dem Gekicher der Studenten wurde er aber unsicher. Gut, er hatte gestern dem bösen Teufel Alkohol zugesprochen und an allerlei Verbotenem genascht. Schon ein Gang zur nahegelegenen Bäckerei wäre nicht unfallfrei zu bewältigen gewesen. Hätte man ihn jedoch im Bett gelassen, anstatt ihn zu dieser Stunde in unsinnige Verhöre zu verwickeln, wäre dieser Zustand allgemein unbekannt geblieben.
In seinem Rücken bauten sich die Wächter auf, die ihm seine Verhaftung mitgeteilt hatten. Die Studenten wichen in einen Türrahmen zurück, bis sie kaum noch zu sehen waren. Nur ihre Augenpaare blitzten neugierig hervor. K. sammelte seine ganze Kraft in einer Geste, die seine Widerrede einleiten sollte. Aber der Oberwächter kam ihm mit einer verächtlichen Senkung der ausgestreckten Hand zuvor: „Sie halten sich ab heute zur Verfügung, verstanden?!“ Angesichts der Lautstärke konnte es bei der Frage nur um ein inhaltliches, nicht aber um ein akustisches Verstehen gehen. K. nickte und zu seiner Überraschung verließ nun der Oberwärter, seine Helfer im Geleit, die gemeinschaftliche Wohnung der Frau Braubach. Glücklicherweise hatte sie von diesem Vorfall keine Kenntnis, da sie sich zur Vorbereitung des Abendessens auf dem Markt befand. Es konnte jedoch nicht lange dauern, bis die schmierigen BWL-Lurche die Hausherrin unterrichten würden. Heute war K.s dreißigster Geburtstag, das letzte wichtige Jubiläum vor dem großen Niemandsland bis zu jenen Geburtstagen, von denen man einst sagen wird, man sei froh noch zu leben. Es sollte am Abend seine Leibspeise, Spaghetti Bolognese, geben. So hatte es ihm Frau Braubach am Vortag versprochen, als er die Mietrückstände in kleinen Scheinen beglichen hatte.
Kurz darauf lag K. wieder in seinem Bett. Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, dass er nicht noch zufriedener war.
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