Donnerstag, 2. Oktober 2014
Bonetti – Die Jahre der Entscheidungen
„Ich esse dreimal im Tag, in der Zwischenzeit gar nichts, aber nicht das Geringste.“ (Franz Kafka in einem Brief an Felice Bauer vom 21. November 1912)
An meine erste Begegnung mit Andy Bonetti kann ich mich noch gut erinnern. Es war in meinem ersten Semester an der Heinz-Schenk-Universität in Kassel, als mir der hochgewachsene, aber doch schmächtige, ja fast knabenhaft wirkende Kommilitone mit dem in der Mitte gescheitelten schwarzen Haar ins Auge fiel. Es war in der ideologiekritischen Vorlesung „Der Ismus wo ich mitmuss“ von Professor Ferdinand Klemm, als ich mit schöner Regelmäßigkeit sein glockenhelles Lachen aus der letzten Reihe hörte. Vorgestellt wurde ich ihm durch Heinz Pralinski bei einem Mittagessen in der Mensa und es stellte sich heraus, dass wir alle aus Bad Nauheim stammten. Tatsächlich hatten wir nur wenige hundert Meter voneinander entfernt gelebt, ohne uns als Kinder oder Jugendliche je kennengelernt zu haben. Das lag vermutlich daran, dass Bonettis Vater als Vogelstimmenimitator in den Gasthäusern der Stadt sein Geld verdiente und gelegentlich die Mülleimer der Stadt nach Pfandflaschen durchsuchte, während mein Vater Bankdirektor war und ich meine Freizeit mit Klavierunterricht und Reitstunden verbringen musste.
Ich begann bereits in meinem ersten Semester, in der Fachschaftszeitschrift der Germanisten kleinere Artikel zu veröffentlichen. „Der Schrei“ galt an der Universität als avantgardistisches Blatt und wurde für viele Studenten zum Sprungbrett in die nordhessische Presselandschaft und das Verlagswesen. Ich verwendete den Künstlernamen „Johnny Malta“, da meine Eltern nichts von meinen literarischen Ambitionen erfahren durften. In Wirklichkeit heiße ich Konrad Fleischhauer. Als Studienfächer hatte ich neben Germanistik noch Philosophie und Spätbyzantinistik gewählt, während ich meinen Eltern erzählte, ich würde Jura studieren. Bonetti hatte tatsächlich einige meiner Texte gelesen und erzählte mir, er würde auch schreiben. Und so trafen wir uns bald regelmäßig in den Weinstuben und Kaffeehäusern der Stadt, wo ich ihn mit anderen Gleichgesinnten bekannt machte. Bonetti blieb in unseren literarischen Diskursen jedoch meist ein stiller Beobachter und es fiel mir schwer, ihn zur Herausgabe eigener Arbeiten zu ermutigen. Bonetti schrieb damals an einem längeren Werk mit dem Titel „Beschreibung eines Krampfes“, in der es um eine traumatische Erfahrung während eines Fußballspiels ging. Aber es gelang mir, kleinere Stücke von ihm, meist Parabeln und Tiergeschichten, zu lesen. Wenn wir alleine in meiner Studentenbude waren, las er auch gerne aus seinen Texten vor.
Ein Jahr später gelang es mir, einen Gedichtband im Selbstverlag zu veröffentlichen, wobei mir der Kontakt der Fachschaft zur Druckerei der Universität wertvolle Dienste leistete. Der „Bad Nauheimer Morgen“ wurde auf mich aufmerksam und es gelang mir, einige Gedichte in der Sonntagsbeilage unterzubringen. Ich begann, Leserbriefe an überregionale Zeitungen zu schreiben und versuchte, mit anderen Schriftstellern in brieflichen Kontakt zu treten, was nur von mäßigem Erfolg war. Ich galt unter den Studierenden der Germanistik nun als arrivierter Schriftsteller und lernte Hedwig kennen, die meine erste feste Freundin wurde. Bonetti war immer noch ein schüchterner Mensch, dem es schwerfiel, zu anderen Menschen in Kontakt zu treten. Aber es ist keinesfalls richtig, dass er den Vergnügungen der Nacht gegenüber nicht aufgeschlossen gewesen wäre. Wir zogen oft bis in die frühen Morgenstunden durch die Gasthäuser, tranken Bier, Schnaps und Wein, oft im Kreise zwielichtiger Gestalten. Wir hörten in seinem WG-Zimmer laute Musik, so dass es bei seinen Nachbarn und Mitbewohnern bald den Spitznamen „Hauptquartier des Lärms“ hatte. Wir diskutierten viel über Literatur. Bonetti mochte, wie ich auch, Flaubert und orientierte sich an dessen präziser Beobachtungsgabe, aber er las auch immer gerne Abenteuer- und Indianergeschichten.
Bonetti wäre wohl auf ewig unentdeckt geblieben, wenn es mir nicht eines Abends vergönnt gewesen wäre, ihn zum Abdruck einer Kurzgeschichte in „Der Schrei“ zu überreden. Schon am nächsten Tag bereute er seinen Entschluss, aber da hatte ich den Text schon eingereicht. Das "Gespräch mit dem Betrunkenen“ war seine erste Veröffentlichung, Bonetti war zu diesem Zeitpunkt vierundzwanzig Jahre alt. In jenem Sommer fuhren wir gemeinsam mit einigen Freunden in den Urlaub. Es sollte natürlich in den Süden gehen und so bestiegen wir eines Morgens den Zug, um nach Frankfurt zu fahren. Die große Stadt machte einen gewaltigen Eindruck auf uns, stundenlang ließen wir uns durch die Metropole am Main treiben. Wir staunten über den ungeheuren Straßenverkehr und mit klopfendem Herzen fuhren wir zum ersten Mal mit der U-Bahn, einem Fortbewegungsmittel, das sich durch dunkle Tunnel unter der Stadt zwängte und uns an völlig anderen Orten wieder in das Menschengewimmel entließ. Bonetti war sehr beeindruckt und hat diese Erlebnisse später in seinem Roman „Labyrinth der Finsternis“ verarbeitet. Eines Nachmittags fuhren wir auch zum Flughafen hinaus. Das Fliegen, jener alte Menschheitstraum, steckte damals ja noch in den Kinderschuhen und die Piloten galten als tollkühne Kerle. Viele Menschen versammelten sich hier, um diesen Pionieren der Schwerkraftüberwindung bei ihren abenteuerlichen Manövern zuzuschauen. Bonetti verfasste darüber einen längeren Text mit dem Titel „Die Aeroplane von Frankfurt“, der bald darauf im „Bad Nauheimer Morgen“ erschien. Der Rest seiner Geschichte ist bekannt.
„Du verteidigst Dein Essen gut, (als ich den Brief früh zum erstenmal las, bekam ich Lust, in Deine so schön belegten Brödchen hineinzubeißen, und sie Dir wegzuessen und dazu womöglich leichten Tee mit Citrone zu trinken, mit dem ich mich in frühem Zeiten so gern durchsäuerte) aber mich, Liebste, erweichst Du nicht. Wenn ich Dir nämlich schon aus übergroßer Liebe, und weil mir solches Reformieren weder schön noch gut noch nützlich scheint, Wurst, Aufschnitt und solche Dinge gern erlaube, das viele Teetrinken gefällt mir, besonders in seiner Regelmäßigkeit, doch nicht. Und Du verteidigst es auch so, wie alle Leute das Gift, an das sie gewöhnt sind“. (Franz Kafka in einem Brief an Felice Bauer vom 24. Januar 1913)
The Veils – The Leavers Dance. http://www.youtube.com/watch?v=616zYey9n18
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