Sonntag, 5. Oktober 2014
1995
Auszüge aus dem Notizbuch:
11. Januar, Berlin. Ich lag schon im Bett und war fast in den Schlaf hinüber gedämmert, als plötzlich ein halb verwester Mann von der Decke neben mir ins Bett fiel. Er lag auf dem Bauch, vorsichtig nahm ich seine Schultern und drehte ihn um. Zu meiner Verwunderung begann der Tote zu sprechen.
21. Februar. Ich fühle mich zu Höherprozentigem berufen.
8. März. „Natürlich ist es der falsche Weg“, sagte der Teufel. „Aber du wirst der Erste sein.“
21. März. Unruhe und Leichtsinn gingen die Straße entlang. „Sieh mal da“, rief plötzlich Unruhe und schon rannte Leichtsinn zwischen die rasenden Autos. Ende.
28. März. Vom Weltall aus betrachtet ist die Erde eindeutig ein psychedelisches Kunstwerk.
29. März. Natürlich ist das ganze Leben nur Theater. Das Langweilige daran ist, daß wir uns alle selbst spielen müssen.
15. April. Wenigstens ist schönes Wetter. Ich ruhe mich in einem Park aus, durch den mein Weg führt. Die warmen Sonnenstrahlen legen sich auf meine geschlossenen Lider wie Kissen, ich strecke die Beine aus und mache es mir auf der Bank bequem. In der Brusttasche ruht der Briefumschlag, den ich überbringen soll. Frau Wortreich, meine Chefin, hat mir zwar genau den Weg erklärt, aber diese Stadt ist groß. Auf dem Umschlag steht nur in selbstbewusst verschnörkelten Buchstaben der Adressat. Aber wie soll ich mich in dieser riesigen Stadt nach einem einzelnen Menschen durchfragen? Vielleicht hätte ich gar nicht in den Park gehen sollen. Man nimmt einen Eingang, ruht eine Weile aus und wenn man gehen will, stehen so viele Ausgänge zur Verfügung und jeder führt woanders hin. Aber soll ich den ganzen Tag und die ganze Nacht mit schmerzenden Knochen durch die Stadt laufen? Wenn ich wenigstens wüsste, was ich transportiere. Ist es überhaupt wichtig? Nie erfahre ich etwas, aber es geht mich ja auch nichts an. Schon das ich hier sitze und den Weg vergessen habe, ist nicht wieder gutzumachen. Auf der Wiese vor mir folgt ein Hund eilig einem fliegenden Stück Holz. Es scheint ihm Spaß zu machen, denn sein Besitzer kann so viel Holz werfen, wie er will, der Hund rennt unaufhörlich, als hätte er immer wieder aufs Neue vergessen, dass er nur wertloses Holz zurück bringt. Was wäre, wenn er genug hätte? Er bekäme trotzdem sein Hundefutter. So ein klarer Herbsthimmel, ich würde mich gerne im Gras ausstrecken, aber dann schliefe ich sicher ein. Wann erwartet man mich, wie spät ist es? Und warum setzt sich niemand auf meine Bank oder die Bank daneben? Dann würde ich sofort gehen, vielleicht sogar nach dem Weg fragen. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wie ich zu diesem Beruf kam. Anfangs haben mir die ausgedehnten Fußmärsche, gerade bei schönem Wetter wie heute, viel Spaß gemacht. Die große Stadt erinnert mich an einen Urwald. Manches Mal stand ich, nachdem ich mich durch das Dickicht eines verwachsenen Wohnviertels gekämpft hatte, vor einer Stadtautobahn, die so unbezwingbar erschien wie ein breiter Fluss. Ich wanderte an seinen Ufern, bis ich einen Weg – eine Brücke, einen Tunnel – fand, auf dem ich ihn überwinden konnte. Der Wald war immer laut und belebt, wie Geschosse flogen Autos und Lastwagen vorüber. Wie ein Waldläufer muss man die vielfältigen Zeichen lesen, die Sonne dient als Kompass. Aber mehr als Laufen kann ich nicht. Niemand bezahlt mich für das Sitzen, obwohl ich auch das gut beherrsche.
28. Mai. Von einer sechswöchigen Brasilienreise habe ich mir einen sogenannten Hautmaulwurf mitgebracht. Eine miese kleine Made, die sich blutige Gänge durch meine Fußsohle gräbt und dabei roten Zeichen auf meiner Haut hinterlässt. Erst ein K, dann ein S, schließlich ein Y. Wer schickt mir diese geheimnisvollen Botschaften? Mein Hausarzt hat ihn inzwischen unschädlich gemacht – oder hat sich dieser wimmelnde Grubenhund auf den Weg in mein Gehirn gemacht? Oder pocht es plötzlich, wie in „Alien“, von innen an meine Brust und bricht, kreischend und Blut spritzend, hervor?
4. Juni. Wir schreiben den Toten auf ihre Grabsteine, was wir uns selbst am meisten wünschen: Ruhe in Frieden (requiescat in pace).
2. Juli. Sehet den Säufer an der Theke: Er brauet nicht, er keltert nicht und der Herrgott macht ihn doch besoffen.
15. August. Nach sieben Weinen musste er lachen.
17. September. Gegenstände ohne praktischen Gebrauchswert, ohne Zweck für diese tatendurstige Welt, nennt man entweder Kunst oder Müll.
18. September. Sind es nicht die Toten, die unsere Welt zusammenhalten, gelebtes Leben also, Konventionen und Traditionen, in denen sich jede Generation neu einrichtet? Städte sollten um Friedhöfe herum gebaut werden.
21. September. Und immer wieder gibt man sich der Illusion hin, etwas zu Ende gebracht zu haben.
14. Oktober. Drogen? Der Sieg des Geistes über den Körper, der Triumph der Selbstschädigung. Drogen? Sie verleihen dem Augenblick eine Bedeutung, die er nicht hat. (The wisest wise guy who ever walked down the streets of planet earth)
22. Oktober. Neulich fuhr ich mit meinem Nachbarn im Aufzug nach oben. Niemand sieht Charles Bukowski ähnlicher als er, er ist ein Trinker und um die Fünfzig (obwohl das bei Trinkern immer schwer zu sagen ist). Er drückte routinemäßig den Fahrstuhlknopf und fragte: „Dritter Stock?“ Ich antwortete: „Immer noch.“ Er lachte breit und lachte noch, als wir auf unserem Stockwerk ankamen. Mit dieser Antwort wusste er uns eins, beide Gefangene unserer winzigen Appartements, beide hoffnungslos, ohne die Möglichkeit einer Veränderung. Wir hatten uns beide durch ein lausiges Leben in dieses letzte Zimmer geschleppt, auf das unvermeidliche Ende wartend soffen wir. Das gemeinsame Lachen hat uns zu Brüdern der Niederlage gemacht. Natürlich mögen wir uns nicht wirklich, wie Dachse oder Hyänen gehen wir uns am liebsten feige aus dem Weg. Jeder hievt mühsam sein bisschen was zu fressen und zu saufen in die düstere, staubige und klebrige Höhle. Wie betäubt sitzen wir, jeder allein mit sich, in unseren Wohnungen und verdämmern die Zeit. Es ist so schwer, den Kopf zu heben. Wäre dieses Lachen nicht gewesen, es hätte ein Tag wie jeder andere sein können.
26. Oktober. Es gibt Lebewesen, die sind so klein, dass sie nur durch die Luftströmung in meine Wohnung getrieben werden und nicht von ihrem eigenen Willen.
16. November. Die vier Elemente des Weltkreises: Bier, Dope, Musik und Fernsehen.
18. November. Der Intuition folgen. Letzte Woche ging ich durch einen Sturm, als Teile einer gläsernen Balkoneinfassung herab fielen und wenige Meter hinter mir auf dem Bürgersteig einschlugen. Wäre ich etwas später aus der U-Bahn gekommen oder hätte an einem Schaufenster noch etwas getrödelt – wer weiß? Das erinnert mich an die Mykonos-Morde im Haus gegenüber vor drei Jahren. Kurz vorher war ich, da ich noch einige Dosen Bier zu benötigen glaubte, an dem Lokal vorbei gegangen. Was wäre, wenn die Mörder ein wenig früher eingetroffen und gerade in diesem Augenblick aus dem Restaurant gestürmt wären? Ein Toter mehr oder weniger, das wäre dem iranischen Geheimdienst egal gewesen. Womöglich hat mir eine rote Ampel oder das dringende Bedürfnis eines Killers nach Blasenerleichterung das Leben gerettet? Viele Möglichkeiten und Fragen, Unmöglichkeit der Antwort.
2. Dezember. Als ich die Tür zum Flur meiner Wohnung öffne, um mir ein frisches Bier aus der Küche zu holen, finde ich alle Mieter des Hauses dort versammelt. Offenbar hat man sich entschlossen, die Tür aufzubrechen, um gegen den allerdings auch recht durchdringenden Lärm meiner Stereoanlage zu protestieren. Tatsächlich tritt nun ein älterer Herr vor und beginnt, eine gemeinsam verfasste Petition gegen mich zu verlesen.
5. Dezember. Analog zu dem Planeten, den er zu bewohnen pflegte, war seine Oberfläche kühler als der brennende Kern.
6. Dezember. Wer hat nun eigentlich in Goethes Faustdichtung die Wette gewonnen, um die sich alles dreht? Eigentlich haben beide am Ende verloren, der Tat- und Machtmensch Faust wie auch der zynische Seelenfänger Mephisto. Faust findet als blind gewordener Greis im Trugbild von Herrschaft und Besitz seinen höchsten Augenblick, Mephisto verfehlt Faustens Seele. Die Ironie besteht darin, dass es mit dieser Art von Weltgestaltung nur Verlierer geben kann. Goethe hatte seinerzeit vermutlich die vergleichsweise moderne und durchkapitalisierte Niederlande im Sinn, in deren Verwandlung von Meeresraum in tributpflichtigen Boden, wie im Reiche Fausts, das Umschlagen von Naturbeherrschung in Naturverachtung recht deutlich wird. So betrachtet ist der „Faust“ nicht nur eine Absage an den eitlen und verblendeten Macht- und Machbarkeitswahn der modernen Wissenschaft (Faust), sondern auch an den wohlfeilen Kulturpessimismus und eine Auswege verleugnende und darum zynisch wirkende Katastrophengläubigkeit (Mephisto). Goethes Ausweg lässt sich in wenigen Schlagworten umschreiben: Liebe, Hingabe, Selbsterkenntnis in Freiheit, Besonnenheit des Handelns und Kunst. Über meine rheinhessische Heimat schrieb Goethe übrigens: „Niemand schämt sich der Weinlust, sie rühmen sich einigermaßen des Trinkens.“
7. Dezember. Das selbstverliebte Glasperlenspiel der Wissenschaft, etwa die Debatte um die Bezeichnung der gegenwärtigen Epoche (Moderne, Spätmoderne oder Postmoderne?), verschwendet so viel schöpferische Energie und produziert doch nur Eitelkeiten.
Underworld – Born Slippy. http://www.youtube.com/watch?v=TlLWFa1b1Bc
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