Mittwoch, 30. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 2
Er schloss die Augen und betrachtete das marmorierte Orange seiner Augenlider. Dieses Orange war seine Lieblingsfarbe: mit geschlossenen Augen ins helle Sonnenlicht blicken. Mardo hörte dem Trubel zu, der aus dem Mauerpark zu ihm herauf schallte.
Wieder einmal war am Sonntag die Hölle los. Auf dem Flohmarkt drängte sich ein Menschenwurm an den Ständen vorbei. Studenten und Familien saßen auf der Wiese, tranken Bier und Bionade, hörten den vielen Musikern zu oder machten selbst Musik. Bald würde der verrückte Ire mit seiner Karaoke-Anlage angeradelt kommen und es würde richtig laut. Mardo mochte die entspannte Party-Stimmung, wenn am Wochenende der Park voll mit Leuten aus aller Welt war. Er selbst ging selten hinunter, wenn fünfzigtausend Leute die Wiese bevölkerten. Solche Menschenmassen kannte er von Rockkonzerten, das war nicht seine Welt.
Seine Welt war das Brunnenviertel, nur einen Steinwurf von der In-Meile Kastanienallee und der Szene-Hochburg Oderberger Straße entfernt. Sein Kiez wirkte im Vergleich zum extrem angesagten und luxussanierten Prenzlauer Berg wie Aschenputtel, wie das hässliche Mädchen aus dem Nachbarhaus, das zur Party des Jahres nicht eingeladen wurde. Zwischen beiden Vierteln lag nur die Bernauer Straße, wo früher die Berliner Mauer gestanden hatte. Aber die paar Meter trennten ganze Welten. War irgendwo in der Hauptstadt der Unterschied zwischen zwei Kiezen so krass? Das Brunnenviertel war so leise und normal, es hätte auch eine Trabantenstadt in den Außenbezirken Berlins sein können. Aber die explodierenden Mieten hatten ein paar dieser coolen Prenzlauer Berger in seine Straße hinüber geweht. In der Wohnung eines älteren türkischen Ehepaars zwei Stockwerke unter ihm, das zurück nach Izmir gezogen war, lebte inzwischen ein Bildhauer. Im Haus gegenüber war ein Musiklehrer aus Amberg mit seiner Familie eingezogen. Außerdem gab es einzelne Schulen und Kitas, die bereits fest in der Hand der Bionade-Deutschen aus Wessiland waren.
Wenn in der Brunnenstraße die Spielhallen dichtmachen und der erste Biosupermarkt aufmacht, wird auch hier ein anderer Wind wehen, hatte Mardo noch vor wenigen Monaten gedacht. Jetzt gab es einen, nicht weit von ihrem Lokal entfernt. Aber mit unserem vegetarischen Restaurant setzen wir ja auch auf diesen Trend. Die Brunnenstraße in Richtung Alexanderplatz war schon längst tourismuskompatibel, an der nahen Gedenkstätte Berliner Mauer wurden täglich dutzende Busladungen mit Amerikanern, Spaniern und Chinesen ausgespuckt. Lag es da nicht nahe, ein wenig von diesem nahrhaften Strom der globalen Reise- und Vergnügungsindustrie auf seine Mühle umzulenken?
Julia schlief noch. Gestern hatte sie erst nach Mitternacht das „Seven Heavens“ schließen können. Auch heute Nacht hatte sie schon geschlafen, als Mardo wieder nach Hause in die Graunstraße gekommen war. Aber er hatte im Kühlschrank eine Tupperdose mit der Aufschrift „J-Pack“ gefunden. Dankbar hatte er die Teigtasche am Küchentisch hinunter geschlungen und mit einer Flasche Bier nachgespült. Ein bisschen scharf, aber lecker gewürzt, außen knusprig, innen grün und orange. Ein guter Anfang.
An diesem herrlichen Tag würde er in den Zoologischen Garten gehen. Wie es Mungo Jerry wohl ging?
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