Freitag, 26. Juni 2015
Rheinkind, Kapitel 9
Nach den kurzen Herbstferien, die der Junge zu Hause in Ingelheim verbracht hatte, ging es auf Klassenfahrt nach Berlin. Um sieben Uhr morgens trafen sich die Kinder seiner Schulklasse am Ingelheimer Bahnhof. Es war kühl und neblig, als er sein Fahrrad abstellte. Auf dem Bahnsteig waren einige vereinzelt stehende Männer mit Aktentaschen zu sehen. Seine Mitschüler standen alle müde und verlegen neben den großen Erwachsenenkoffern.
Die Klassenlehrerin hieß Frau Ritter und hatte eine hellbraune Kurzhaarfrisur. Heute sah sie der Junge zum ersten Mal in ihrem hellen Trenchcoat. Als zweiter Lehrer fuhr Herr Weyrich mit, ein kleiner drahtiger Sportlehrer mit mächtigem Brustkasten. Sie überprüften die Anwesenheit der Kinder und stellten fest, was der Junge schon wusste. Michael hatte eine Grippe und konnte nicht mitfahren. Vermutlich waren seinen vorsichtigen Eltern Reiseziel und Begleitung nicht geheuer. Immerhin war Julian mit dabei. Er hatte eine große schwarze Sporttasche mit weißen Adidas-Streifen dabei, während der Junge seine Klamotten in einen kleinen hellbraunen Damenkoffer geknüllt hatte.
Mit dem D-Zug fuhren sie in Richtung der aufgehenden Sonne nach Mainz. Dort stiegen sie in einen Intercity um. Diese neuen Züge ersetzten nach und nach den Trans-Europa-Express. Dem Jungen war aufgefallen, das der Mainzer Bahnhof aus demselben Sandstein gebaut war wie die alten Häuser in Ingelheim. Frau Ritter hatte Sechs-Personen-Abteile reservieren lassen und die beiden Jungs setzten sich gleich ans Fenster. Die Mädchen und die Streber suchten sich ihre eigenen Abteile. Am Ende saßen noch die drei Sitzenbleiber und Herr Weyrich in ihrem Abteil.
Gegen elf Uhr erreichten sie die innerdeutsche Grenze in Bebra. Ernste Männer in grauen Uniformen kontrollierten die Ausweise der Reisegruppe.
“Bebra, hier ist Bebra! Werte Reisende, wir begrüßen Sie in der Deutschen Demokratischen Republik! Alle Reisende, die nicht nach Berlin fahren, werden aufgefordert, sofort auszusteigen, da dieser Zug bis Berlin nicht hält! Ich wiederhole...!" Dann rollte ihr Zug als geschlossener „Transitzug“ durch Ostdeutschland. Es hatte angefangen zu regnen und die Landschaft, die sich beim Blick aus dem Abteilfenster bot, wirkte leer und trostlos. Die Schüler besuchten sich gegenseitig in den Abteilen, erzählten von der Grenzanlage, die sie hinter sich gelassen hatten, und waren alsbald in Kartenspiel und Lektüre versunken. Nur in Erfurt hielt der Zug an. Auf dem Bahnsteig war nur ein Polizist zu sehen, sonst niemand.
Gegen ein Uhr wurde es still in den Abteilen. Sie schoben die sechs beweglichen Sitzflächen ihres Intercity-Abteils zusammen, so dass sich eine geschlossene Polsterdecke bildete. Herr Weyrich war im Zugrestaurant und aß zu Mittag. Die Jungs hatten ihre Schuhe ausgezogen und lümmelten sich auf dem bequemen Lager.
Der Zug rollte endlos durch unbekannte Landschaften, die ihn dennoch an seine Heimat erinnerten. Der Junge blickte aus dem Fenster und dachte an die Zeit, als er mit seinem Vater lange Spaziergänge gemacht hatte. Er erinnerte sich an die vielen schönen Gärten, an denen sie vorüber gekommen waren. Mit kleinen Obstbäumen und verwitterten Stühlen und Tischen aus Holz, Gartenhäuschen und Geräteschuppen, mit Butterblumen und Löwenzahn. Er stellte sich oft vor, wie es wäre, einen solchen Garten zu haben. Sie hatten keinen Garten, sondern nur einen Balkon. Er beneidete die Menschen, die man merkwürdigerweise niemals in diesen heiteren und gepflegten Gärten sah, obwohl doch die Sonne schien und die Vögel zwitscherten.
In Griebnitzsee bei Potsdam wiederholte sich die Prozedur der Kontrollen, dann waren sie endlich am Bahnhof Zoo. Berlin!
Als sie in den bestellten Reisebus stiegen, ging gerade die Sonne unter. Sie fuhren eine Weile durch die Stadt, ohne etwas zu erkennen. Häuserreihe an Häuserreihe, Straßen und große Plätze. Breite Verkehrsachsen, auf denen gelbe Doppeldeckerbusse fuhren. Die Jugendherberge lag in der Koloniestraße im Wedding, einem Arbeiterbezirk im Norden der Stadt.
Im Speisesaal gab es Abendbrot: Früchtetee, geschnittenes Graubrot, Wurst und Käse. Dann wurden die Zimmer verteilt. Der Junge kam mit seinem Freund Julian und den drei Neuen in ein Fünfmannzimmer. Dann gab es, zwei Stockwerke über ihnen, noch zwei Mädchenzimmer und auf ihrem Flur zwei Jungenzimmer. Wo die Lehrer schliefen, wussten sie nicht.
Anschließend verzogen sich alle auf ihre Zimmer. Morgen ging das Programm los, Wecken war für sieben Uhr angesetzt. Udo, Stefan und Frank saßen in Unterhosen auf ihren Betten und sahen dem Jungen und Julian beim Auspacken zu.
„Wollt ihr eure Sachen nicht in den Schrank hängen. Da gibt’s bestimmt Bügel“, sagte der dicke Frank.
„Nicht das Mama über Knitterfalten schimpfen muss“, ergänzte ihr Anführer Udo und Stefan lachte mit.
Sie hatten ihre Taschen einfach in die Ecken gepfeffert. Jetzt stand Udo auf und ging zu seinem olivgrünen Rucksack hinüber. Er öffnete eine Seitentasche und holte eine grüne Flasche heraus.
Frank und Stefan grinsten.
„Dann werden wir uns mal einen Schluck genehmigen“, sagte Frank und holte einen Korkenzieher aus der Seitentasche seiner Lederjacke.
Sie reichten die Flasche herum. Dann sahen sie zu dem Jungen und Julian hinüber. „Wollt ihr auch was?“
„Na klar“, grinste Julian. „Ich dachte, ihr würdet nie fragen.“ Lässig ging er hinüber, nahm die Weinflasche und nahm einen großen Schluck. Dann gab er sie dem Jungen.
Der Junge dachte nicht lange nach und trank ebenfalls. Der Wein schmeckte säuerlich und wärmte ihm fast augenblicklich den Magen.
„Was ist, Leute“, sagte Julian, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt. „Hat jemand Lust auf eine Zigarette?“
***
Am nächsten Morgen ging es dem Jungen nicht gut, aber er ließ sich nichts anmerken. Vor der Jugendherberge wartete ein Reisebus, dessen Dieselmotor wie ein alter Fährkahn brummte. Der Himmel war grau und die Jugendlichen trotteten zögernd aus dem Hoftor.
Die Straßen waren unglaublich schmutzig und überall lagen Hundehaufen, manchmal sogar mitten auf dem Bürgersteig. An den Häuserwänden sahen sie Parolen, in schwarzer oder roter Sprühfarbe konnte man „Auch Nixon tut wixen“ oder „Keine Macht für niemand“ lesen. Sie machten sich gegenseitig auf die witzigsten Sprüche aufmerksam. Gelegentlich sah man auch einfach ein Anarcho-A in einem Kreis.
Der Junge saß im Bus neben Julian und beide waren froh, dass sie den Morgen genauso schweigend vertrödeln konnten wie einen gewöhnlichen Schultag. Karin, die ein bisschen aufgedreht wirkte, setzte sich neben Udo. Udos Freunde saßen in der oberen Etage des Doppeldeckerbusses.
Zunächst fuhren sie ins Märkische Viertel, eine Hochhaussiedlung. Alles wirkte trostlos und abschreckend. Das höchste Wohnhaus in Ingelheim hatte sieben Stockwerke, ein Junge aus ihrer Klasse wohnte dort. Aber das hier war gigantisch. Die nächste Station war Lübars, ein winziges Dorf mit Kopfsteinpflaster auf den schmalen Wegen. Dahinter sah man in der Ferne die Grenzanlagen, hier war die Welt oder wenigstens West-Berlin zu Ende. Dann ging es weiter zum Charlottenburger Schloss und zum Olympiastadion. Das alte Stadion wirkte düster und die leeren Tribunen machten den Eindruck, dieser Ort sei längst vergessen worden.
Am Endpunkt der Reise, dem Reichstag, ging es ihnen genauso. Im Gebäude hörten sie sich den Vortrag eines Dozenten vom „Kuratorium unheilbares Deutschland“ an, wie Udo die Organisation nannte. Vom Bau des Parlaments über den Brand 1933 bis zur heutigen Zeit, in der gelegentlich Bonner Politiker Sitzungen abhielten. Die Ostmauer des Gebäudes sei zugleich die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Vor dem Fenster floss die dunkelgraue Spree und am Flussufer waren Gedenkkreuze für Fluchtopfer am Geländer befestigt. Der Dozent sagte, Spione aus der DDR würden die Sitzungen im Reichstagsgebäude mit Richtmikrophonen belauschen.
Nach einer langen Stunde voller Fakten gab es Kaffee und Kuchen, dann spazierten sie mit dem Reiseführer aus dem Bus die Berliner Mauer entlang. Das Brandenburger Tor hinter der Betonwand war überraschend klein. An der Mauer konnten sie viele politische Symbole und Parolen in Schwarz-Weiß vom schwarzen Stern bis zum Hakenkreuz, von „Bildet Banden“ bis zu „Ausländer raus!“ lesen. Es sei eine Mutprobe, hier etwas zu schreiben, sagte der Reiseführer, denn die Mauer gehörte der DDR und es gab versteckte Türen, durch die die Volkspolizisten kamen und Menschen verhaften konnten.
Auf dem Gelände, wo einmal der Potsdamer Platz gewesen war, gab es eine Besucherplattform. Hinter ihnen waren nur Unkraut und die Ruine eines alten Hotels, dahinter der endlose Tiergarten. Hier gab es nichts außer einem Kiosk mit Ansichtskarten, Souvenirs, Süßigkeiten und Getränken. Irgendwo unter der öden Sandfläche des Todesstreifens, die sich zur Linken bis zum Brandenburger Tor hinzog, sollten angeblich die Reste des Führerbunkers verborgen sein. Auf der anderen Seite der Sandfläche war eine weitere Mauer. Mit Ferngläsern konnte man die Männer in den Wachtürmen sehen, die mit ihren Ferngläsern zurück starrten.
Wer einen Fotoapparat besaß, fotografierte eifrig die Maueranlage. Die Jungs gingen zum Kiosk und holten sich was zu trinken. Udo kaufte sich die Tageszeitung, kurz „taz“ genannt, die es seit neuestem hier in Berlin zu kaufen gab, und die eine Alternative zur bürgerlichen Presse sei. Frank kaufte sich ein Stadtmagazin namens „zitty“. Das Heft war voller Kneipen- und Konzerttipps für West-Berlin und es gab auch jede Menge Cartoons. Auch Julian zeigte ihm grinsend seine Neuerwerbung: „Titanic“. Das sei ein ganz neues Satiremagazin und noch witziger als „Mad“. Der Junge kannte diese Zeitungen und Zeitschriften gar nicht, aber er würde später auf ihrem Zimmer ein bisschen darin schmökern.
Der Nachmittag war frei und sie gingen auf den Kurfürstendamm, wo sich die Klasse schnell aus den Augen verlor. Die Mädchen stürmten ins KaDeWe, Udo und seine Freunde wollten unbedingt mit der U-Bahn nach Kreuzberg fahren. Der Junge ging mit Julian über den Platz vor der Gedächtniskirche.
„He, da vorne ist McDonald’s“, rief Julian.
„Dann ziehen wir uns jetzt einen Hamburger rein.“
Kurz darauf standen sie in der Schlange vor der Essensausgabe. Es roch ein wenig nach Bratfett und es war praktisch kein Erwachsener hier.
„Ein BigMäc, große Pommes und eine Cola“, sagte Julian, als er an der Reihe war.
Der Junge wiederholte die Bestellung. Er war noch nie bei McDonald’s gewesen. Die nächste Filiale war in Mainz und dort war er nur mit seiner Mutter unterwegs gewesen.
Sie suchten sich einen Platz am Fenster und stellten ihre Tabletts ab. Die Pommes frites waren dünn und köstlich. Auf dem Hamburger hatte er Ketchup erwartet, aber das mürbe Fleisch schmeckte ihm gut. Sie sahen durch das Fenster auf die Menschenmassen, die sich in den Bahnhof hinein bewegten und wieder heraus kamen. Gelegentlich sah man einen Punk oder einen Mann mit langen Haaren. Aber es war eine Enttäuschung, wenn man die Szene mit den ernsthaften Ermahnungen der Eltern und Lehrer verglich. Die Kinder vom Bahnhof Zoo tranken ihre Cola aus und gingen, ohne etwas von der Drogenszene oder Schwerkriminellen gesehen zu haben.
Um achtzehn Uhr trafen sich alle im „Q-Dorf“, einer Ansammlung von Kneipen in einem lichtlosen Katakombengang, dessen Eingang sich in der Joachimsthaler Straße befand. Hier durften sie unter Aufsicht der Lehrer bis einundzwanzig Uhr Bier trinken und rauchen. Die Mädchen und die Streber tranken aber lieber Limonade oder Ginger Ale. Udo erzählte, sie hätten Döner Kebab in Kreuzberg gegessen. Davon hatte der Junge noch nie gehört. Die klassische Verpflegung der Berliner war schließlich die Currywurst. Döner sei total billig und alle in Kreuzberg würden sich davon ernähren, schwärmte Udo. Die türkischen Gastarbeiter hätten es erfunden, in einem aufgeschnittenen Brot seien Fleisch und Salat mit einer scharfen Soße, das alles würde super schmecken.
Als der Bus sie wieder abholte, glitzerte der Ku’damm in allen Farben. Der Junge schaute aus dem Fenster und begriff, was die große Stadt bedeutete. Hier gab es nicht nur ein Arbeitsleben und den Feierabend, hier gab es ein Nachtleben. Die Leute waren schick angezogen und wirkten aufgedreht und abenteuerlustig. Aber genau jetzt, wo es spannend wurde, mussten sie zurück auf ihre Zimmer.
***
Der dritte Tag der Klassenfahrt stand ganz im Zeichen der Partnerschule in Kreuzberg. Wie eine bedeutungslose Kleinstadt namens Ingelheim und ein alternativer Brennpunkt namens Kreuzberg eine Städtepartnerschaft eingegangen sind, erfuhren sie nicht. Udo vermutete ja, dass Fritz Teufel der Grund sei. Der sei in Ingelheim geboren und hier als Anarchist in den Berliner Untergrund gegangen. Der Junge erinnerte sich, dass jemand im letzten Frühling „Fritz-Teufel-Schule“ über den Eingang des Sebastian-Münster-Gymnasiums gesprüht hatte. Vermutlich steckten auch diesmal Udo und seine Freunde dahinter. Sebastian Münster hieß der Mensch auf dem blauen Hundert-Mark-Schein, hintendrauf war ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Der Inbegriff von Nation und Kapitalismus – und alles viel uncooler als Kreuzberg.
Sie fuhren diesmal mit öffentlichen Verkehrsmitteln. In der U-Bahn hatte der Junge den Eindruck, als wären hier Menschen aus allen fünf Erdteilen versammelt. Zwei Stationen weiter stieg ein langhaariger junger Mann mit Schnurrbart und Gitarre in den Zug und fing tatsächlich an zu spielen.
Als sie auf dem Gneisenaustraße wieder das Tageslicht erblickten, sah er Kreuzberg zum ersten Mal: Die Fassaden der alten Häuser waren dunkel und verrußt. Alles wirkte grau und trist, der Stuck an den Wänden war längst verwittert. Immer wieder sahen sie Häuser, die wie mit dem Messer abgeschnitten wirkten. Man blickte auf riesige leere Backsteinwände. Auf Eckgrundstücken waren Tankstellen, Imbissbuden oder Supermärkte. Nur die Autos waren bunt, die meisten waren rot, gelb und hellblau.
Die Leibniz-Schule lag zwischen Bergmann- und Gneisenaustraße. Sie wurden im Foyer vom Direktor begrüßt. Hinter ihm stand die Partnerklasse: Normalos, Punks, aber auch Griechen und Türken waren in der Klasse. Dann gab es eine gemeinsame Doppelstunde zu deutscher Geschichte, aber sie waren alle viel zu aufgeregt, um etwas mitzubekommen. Nur die Streber versuchten, gegen die Berliner Streber zu punkten.
Nach der Schule lud der Lehrer der anderen Klasse, Herr Wuttke, alle in eine Kneipe ein. Hier an den vernarbten Holztischen am Marheinekeplatz konnten sie endlich miteinander reden.
„Was hört ihr denn so für Musik?“ fragte ein Typ mit Ohrring.
„Politrock und Punk“, antwortete Udo. „Sex Pistols, Dead Kennedys, Scherben und so.“
Der Ohrring nickte anerkennend. Ein anderer Schüler, der kurze blonde Haare, aber eine lange rote Strähne im Nacken hatte, erzählte ihnen, eine japanische Firma hätte ein Gerät erfunden, mit dem man unterwegs Kassetten hören kann, auch auf dem Fahrrad. Das Teil wollte er unbedingt haben. Auf der Internationalen Funkausstellung hätte man das Gerät als Weltneuheit präsentiert.
„Videorekorder sind auch geil“, rief der dicke Frank. „Damit kann man Filmkassetten sehen, wann man will. Man kann mitten in der Nacht fernsehen – oder zum Frühstück. Wahnsinn!“
Ein dunkelhaariger Typ gab zu bedenken: „VHS, Betamax oder Video 2000 von Grundig – was nimmt man? Die Videokassetten der drei Systeme sind unterschiedlich, du kannst eine VHS-Kassette nicht auf dem neuen Video 2000 abspielen.“
Und eine Punkerin mit wasserstoffblonder Irokesenfrisur erzählte, die CompactDisc, eine Silberscheibe, die die gute alte Schallplatte aus Vinyl ersetzen soll, wäre der allerneueste Schrei.
„Woher wisst Ihr das alles?“ fragte der Junge verblüfft.
„Neulich war gerade IFA, Internationalen Funkausstellung in Berlin, verstehste? Am Funkturm haben sie ein nagelneues Kongresszentrum gebaut. Den nennen sie ‚Panzerkreuzer Charlottenburg’, hat eine Milliarde Westmark gekostet. Und direkt daneben sind die Messehallen.“
Und im Sommer hatte er mit Michael noch diskutiert, ob der neue Banjo-Schokoriegel besser schmeckte als Raider, dachte der Junge.
„Kann ich die mal anfassen?“ fragte Julian die Punkerin.
Sie lächelte und nickte.
Julian berührte mit seiner Handfläche ganz vorsichtig die Irokesenfrisur. „Ganz schön hart und borstig“, kommentierte er und alle lachten.
***
Sie mussten erst um 22 Uhr wieder in der Jugendherberge sein und ein paar Schüler aus seiner Klasse hatten beschlossen, mit den Kreuzbergern noch etwas zu unternehmen: Das Fünfmannzimmer und ein paar Mädchen, darunter Karin, dazu ein bunter Haufen von der Leibnizschule.
„Wir fahren erst mal zur Friedrichstraße“ sagte der Ohrring.
„Einkaufen“, ergänzte die Punkerin.
Im Intershop auf den Grenzbahnhöfen wie Friedrichstraße konnte man steuerfrei Schnaps und Zigaretten kaufen, erklärten die Berliner. Es war zwar eigentlich verboten, die Waren in den Westen zu bringen, aber die Masse kümmerte das Verbot nicht. Der U-Bahnhof war nur von West-Berlin aus zugänglich.
„Eigentlich fahren wir ja lieber S-Bahn, weil dort nicht kontrolliert wird.“
„Wieso denn nicht?“ fragte Udo.
„Die S-Bahn gehört der DDR. Die bekommt vom West-Berliner Senat eine Pauschale vom Senat für die S-Bahn-Nutzung im Westteil der Stadt. Also kontrolliert hier niemand“.
Der Einkauf war auf DDR-Gebiet und der Junge hatte ein mulmiges Gefühl. Nicht nur wegen Schnaps und Zigaretten. Aber das Geschäft lief trotz der düsteren Umgebung völlig problemlos ab.
Sie fuhren zurück nach Kreuzberg und stiegen am Kottbusser Tor aus. Die Berliner gingen zielstrebig durch die dunklen Straßen und die Ingelheimer folgten ihnen. Dann standen sie vor einem alten Haus, das völlig mit Buchstaben und Farben beschmiert war, die für den Jungen bei diesen Lichtverhältnissen nicht überschaubar waren. Die Fensterscheiben waren blind und zum Teil zerbrochen.
„Wo sind wir hier?“ fragte ein Mädchen ängstlich.
„Das ist ein besetztes Haus“, stellte der Ohrring sachlich fest.
Und die Punkerin grinste sie an: „Keine Sorge. Hier trauen sich die Bullen nicht rein.“ Dann klopfte sie laut an die hohe Tür.
Ein junger Mann mit Pferdeschwanz öffnete.
„Hallo Uschi.“
„Hallo Manni. Hab ein paar Leute mitgebracht.“
„Kein Problem.“
Kurze Zeit später saßen sie auf dem Boden eines riesigen Zimmers mit hohen Decken. Aus den Boxen hämmerte Rockmusik.
Die Wodkaflasche kreiste und fast alle rauchten.
„Hier werden jetzt überall die Häuser besetzt, weil die Spekulanten die Häuser verkommen lassen, um sie abzureißen. Hier wird es bald aussehen wie im Märkischen Viertel, wenn wir nichts machen“, erzählte ihnen der Ohrring.
„Die Bonzen und Nazis wollen uns hier aus Kreuzberg vertreiben. Ob Türke oder Punk, wir sollen hier alle weg. Aber wir bleiben“, sagte Manni.
„Gibt es hier Nazis?“ fragte Frank in die Runde.
„Jede Menge. Draußen in Spandau ist sogar noch einer von den echten Obernazis eingebuchtet. Der sitzt dort ganz alleine. Rudolf Hess, Stellvertreter des Führers.“
Das Gespräch wurde bald unpolitischer und zerfiel schließlich in kleine alkoholselige Dialoge. Jungs fachsimpelten über Musik, Mädchen über Klamotten und es hatten sich einige gemischte Doppel gefunden. Udo knutschte hemmungslos mit der Punkerin namens Uschi, Frank versuchte es vergeblich bei einer Klassenkameradin und neben dem Jungen tauchte plötzlich Karin auf.
Sie war eine Weile weg gewesen und kreidebleich. Stumm und wütend sah sie Udo und der Punkerin zu.
Dann drehte sie den Kopf zu ihm. Der Junge sah ihr in die Augen, sofern das in diesem verqualmten Schummerlicht überhaupt möglich war. The Clash spielten gerade „London Calling“, als sie sich plötzlich küssten. Ihre Lippen waren ganz weich und warm. Es fühlte sich sehr feucht an und schmeckte ein wenig nach Erbrochenem.
***
Am nächsten Morgen saßen alle müde und mit gesenkten Köpfen im Speisesaal. Es gab Früchtetee und Marmeladenbrote. Frau Ritter und Herr Weyrich waren gerade dabei, ihnen ein paar Instruktionen für den Tag zu geben. Sie würden heute nach Ost-Berlin fahren. Es war verboten, Zeitungen und Zeitschriften aus westlichen Ländern mitzunehmen, außerdem mussten alle ihre Ausweise und fünfundzwanzig D-Mark in bar dabei haben. Außerdem baten sie uns, keinen Ärger zu machen. Bisher konnten sie mit uns zufrieden sein. Um zehn Uhr hatten am vorigen Abend alle in ihren Betten gelegen, allerdings in den unterschiedlichsten Zuständen.
Die Klasse fuhr nach dem Frühstück zum Bahnhof Friedrichstraße. Sie standen in einer langen Schlange und wurden einzeln kontrolliert. Ein Polizist sah sich den Reisepass und die Gesichter an, nach der Passkontrolle kam eine Zollkontrolle und danach musste der Pass noch einmal gezeigt werden. Jeder Schüler bekam ein Visum für die Einreise in die DDR. Schließlich bekam man für seine fünfundzwanzig Mark West noch fünfundzwanzig Mark Ost in die Hand gedrückt, „Zwangsumtausch“ hatte Herr Weyrich diesen Vorgang beim Frühstück genannt. Die Geldscheine waren viel kleiner und die Münzen schienen aus Aluminium gestanzt zu sein. Ein DDR-Pfennig wog weniger als ein Gramm und das Markstück wog noch nicht mal die Hälfte einer D-Mark. Herr Weyrich wusste Bescheid, er klärte uns auch darüber auf, dass man kein Bargeld mit zurück in den Westen nehmen durfte.
Auf der Friedrichstraße trotteten sie alle dicht hinter ihren Lehrern her. Sie liefen den Boulevard Unter den Linden ab und gingen dann zum Alexanderplatz. Unterwegs machten sie nur kurz an der Neuen Wache halt, vor der regungslose Soldaten mit Gewehr und Stahlhelm im kalten Wind standen. Hier war ein Mahnmal gegen den Faschismus. Auf dem Alexanderplatz wehte ein heftiger Wind. Wegen der grauen Regenwolken wurde die Besichtigung des Fernsehturms gestrichen. Stattdessen gingen sie in einen Intershop. Hier konnte man mit Westgeld Westprodukte wie Toblerone und Jacobs-Kaffee kaufen, die es in der DDR nicht gab.
Der Junge kannte das ja schon von ihrem kleinen Ausflug mit den Kreuzbergern, von dem die Lehrer und die Streber natürlich nichts mitbekommen hatten. Er wollte auch gar nichts kaufen. Er war froh, dass es hier keine Werbung gab. Keine Reklame für Ariel von einer stets gutgelaunten Clementine, für den General, Meister Proper oder den Weißen Riesen, der alles andere an Waschkraft noch übertraf, falls das überhaupt noch möglich war. Kein Camel-Abenteurer im Urwald, kein Marlboro-Cowboy in der Prärie, kein Opel und kein Ford. Stattdessen Aufrufe, sich für den Sozialismus und den Frieden einzusetzen. Grobe Zeichnungen von stumpfsinnig blickenden Arbeiterinnen und Arbeitern, die fast im Gleichschritt nach vorne zu stürmen schienen. Geballte Fäuste und rote Fahnen. Werkzeuge statt Konsumgüter. Weder Duplo noch Hanuta, nur Hammer und Sichel. Außerdem war „30 Jahre DDR“ gerade überall ein Thema.
Nach einer sterbenslangweiligen Tour durch das Pergamonmuseum gingen sie zum Mittagessen in ein Restaurant auf der Karl-Liebknecht-Straße. Trotz der vielen freien Tische mussten sie im Eingangsbereich warten, bis sie „platziert“ wurden. Das sei hier so Sitte, hatte uns Frau Ritter erklärt. Durch die Fenster sah man den neuen Palast der Republik, in dem Konzerte stattfanden, aber auch das DDR-Parlament tagte.
Die Schnitzel schmeckten wie im Westen, das Gemüse hieß Sättigungsbeilage und die krummen Preise durften keinesfalls mit Trinkgeld aufgerundet werden, weil es das in der DDR nicht gab. Das fanden sie sympathisch. So blieb für den anschließenden Stadtbummel noch genügend Geld übrig, das man in den Geschäften ausgeben konnte.
Nach dem Essen zog der Junge mit Julian los. Sein Freund wollte sich nach Büchern und Schallplatten umsehen, der Junge wollte von seinem restlichen Geld Notizblöcke und Stifte kaufen. Büromaterial konnte man immer gebrauchen.
Sie näherten sich langsam wieder dem U-Bahnhof Friedrichstraße, ohne bisher noch einen einzigen Ostpfennig ausgegeben zu haben. Jeder hatte noch knapp zehn „Mark der DDR“ in der Hosentasche.
Da sah er es.
Er blieb stehen, während Julian weiterging.
Der Junge sah auf das Fahndungsplakat, das auf einer Litfasssäule angeklebt war. Auf dem Foto war Hermann Sperber. Der Nachbar seiner Großeltern aus Klingelbach.
„Was ist denn los?“ fragte Julian.
Der Junge hörte ihn gar nicht.
Gesucht wegen Mordes.
Sperber wurde wegen eines Mordes gesucht!
Nur hieß der Mann auf dem Fahndungsfoto nicht Hermann Sperber, sondern Ernst Lubowski.
Wie betäubt ließ er sich von seinem Freund in eine Buchhandlung ziehen.
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