Freitag, 26. Juni 2015

Blogout

“There is a finite number of jokes in the universe.” (David Byrne)
Der Zen-Meister des kontrollierten Wahnsinns verlässt das Biosphärenreservat Schweppenhausen und fährt zu einer Riesenparty nach Hamburg. Danach ist er drei Wochen in Berlin. Zur Lektüre stellt er seinen letzten Roman „Rheinkind“ ins Netz, den er in den ersten Monaten des Jahres 2013 geschrieben hat. Bis zum 19. Juli freut er sich über jede Mail, die sein Postfach nicht erreicht. „Glücklich entkommen, dem Abgrund entronnen“, dichtet er spontan, während er die Leute, äh: die Laute schlägt …
The Guess Who - American Woman. https://www.youtube.com/watch?v=OJTd9y-l6ks

Rheinkind, Prolog

Ein kleiner Junge betritt zögernd die Küche. Die Großmutter steht am Herd, in einer dunkelblauen Kittelschürze, und rührt summend in einem Topf. Die Kartoffeln sind aus dem eigenen Garten. Nachher würde es Suppe mit Würstchen zum Mittagessen geben. Und zum Nachtisch Erdbeeren, die er mit ihr zusammen aus dem Garten geholt hatte.
„Du, Oma“, beginnt er vorsichtig. Er sieht die Runzeln auf ihren nackten Unterarmen ganz deutlich. Ihr Gesicht sieht er nicht. „Ja, mein Schatz?“ fragt sie leise und lächelt dabei.
Er kann es spüren.
„Ich muss dir was sagen.“
Sie dreht ihr Gesicht zu ihm.
„Was denn?“
Er schaut ihr ängstlich in die Augen.
„Ich habe jemanden umgebracht.“

Rheinkind, Kapitel 1

Es war kühl und der Morgen dämmerte grau, als er durch die Waldstraße fuhr. Auf der rechten Seite langgezogene Mietshäuser mit endlosen Reihen gleichförmiger Fenster, auf der linken Seite ein Maschendrahtzaun, hinter dem die Backsteinbauten einer Fabrik durch das gewundene Astwerk der Kiefern zu sehen waren. Seine Nase war kalt und er zog mit einem leisen Grunzen den Rotz ein wenig höher. Auf dem Gepäckträger hatte er den Schulranzen festgeklemmt, erste Stunde Mathe, dann Englisch. Im Gebäude der Werksfeuerwehr brannte schon Licht.
Der Junge bog in die Albertstraße ein, die nach dem Gründervater der Fabrik benannt war. An dieser Straße lagen eine geheimnisvolle Villa, die sich hinter einer hohen Bruchsteinmauer verbarg, und das sechsstöckige Verwaltungsgebäude. In der Villa wohnte der Chef ganz alleine. Es hieß, er würde nachts mit seiner Limousine ausgedehnte Touren machen. Niemand hatte ihn je gesehen. Trotz der frühen Stunde hing ein scharfer Geruch in der Luft. In der Fabrik wurden Chemikalien und andere Sachen hergestellt, das wusste er von seiner Mutter.
Hinter dem Fabrikgelände endete die Straße. Auf einem schmalen Weg ging es ein kurzes Stück abwärts und er musste sein hellgrünes Klapprad bremsen, als er zum Bach hinunter fuhr. Der Weg bog an der Uferböschung nach rechts ab und führte unter der Hauptstraße hindurch. Auf der anderen Seite lag wenige hundert Meter entfernt das Gymnasium, das er seit fast vier Jahren besuchte. Das alte Schulgebäude lag mitten in einem Viertel mit sandfarbenen Einfamilienhäusern. Er hatte das Gefühl, als würde er diese Strecke noch eine Million Mal in seinem Leben fahren, ohne dass sich irgendetwas ändern würde.
Nachdem er sein Fahrrad abgeschlossen hatte, stieg er die Stufen zum Eingang hinauf. Sein Klassenzimmer lag im dritten Stock und es war noch dunkel, als er es betrat. Er war der Erste. Aber das war überhaupt kein Problem, denn so konnte er in Ruhe die Hausaufgaben machen, für die er gestern keine Lust gehabt hatte. Seine Mutter kontrollierte seine Hefte sowieso nicht. Die musste arbeiten. Er machte das Licht im Klassenzimmer an und sah zu, wie nach und nach alle Neonröhren sirrend ihren Dienst aufnahmen. Dann setzte er sich auf seinen Platz und packte seine Hefte und Stifte aus. Ein hell erleuchteter Raum in der Dämmerung, alles rundherum dunkel und menschenleer. In wenigen Minuten würde es vorbei sein.
***
„Dafür gebe ich dir eine Fünf-Pfennig-Marke aus dem Kaiserreich, Germania-Serie.“
„Die Fünf-Pfennig-Marken hat doch jeder. Ich will mindestens zwei Sondermarken.“ Der Junge hielt einen leuchtend gelben Tennisball in die Höhe. Michael wollte ihn, das sah er an seinem Blick.
„Ich kann ja auch mal Andy oder Olli fragen. Vielleicht haben die ja Interesse.“ Der Junge bluffte ein bisschen, Michael Schäfer war einer seiner wenigen Freunde und er hatte eine Super-Briefmarkensammlung. Er bekam immer von seiner ganzen Familie Marken geschenkt, kein Briefumschlag war vor ihm sicher. Marken aus anderen Ländern. Der Junge hatte sich auch mal ein Päckchen gestempelte Briefmarken für zwei Mark gekauft. Nach der letzten Zählung besaß er 1263 Briefmarken aus 47 Ländern.
„Also gut“, sagte Michael und streckte die Hand aus. „Ich habe ein paar schöne Sachen für dich.“
Er holte ein kleines Tütchen aus Pergamentpapier aus seinem Ranzen und zeigte es dem Jungen.
Er gab ihm den Ball und nahm die Tüte. Vorsichtig schüttete er ihren Inhalt auf seine Handfläche. Eine ungestempelte Zehn-Milliarden-Mark-Briefmarke aus der Inflationszeit, eine braune Drei-Pfennig-Marke mit Adolf Hitler und eine grüne Zwanzig-Pfennig-Marke der Deutschen Bundespost Berlin. Dazu eine spanische Marke zu einer Pesete mit dem Bild eines Schlosses, die ihm wahrscheinlich sein Vater aus dem Büro mitgebracht hatte.
Für den Jungen war das ein guter Tausch. Er wohnte schließlich neben der Tennisanlage, in der sich die Angestellten der Fabrik in ihrer Freizeit trafen. Da flog immer mal ein Ball über den Zaun. Tennisbälle hatte er genug. Und mit diesen Geschäften konnte er seine Briefmarkensammlung ständig erweitern. Gewöhnliche Dauermarken, wie sie im Alltag verwendet wurden, hatte er viele: Da gab es die Technik-Serie, die von Fünf Pfennig (Nachrichtensatellit) über den Frankfurter Flughafen bei zwei Mark dreißig bis zum Radioteleskop (5 DM) reichte, es gab Burgen und Schlösser und eine alte Serie zum Thema Unfallverhütung. Aber es waren die Sondermarken, möglichst alte Sondermarken, die ihn wirklich interessierten. Seit 1976 hatte er alle Sondermarken ungestempelt, darunter herrliche Stücke wie den Blocksatz „Jugendstil in Deutschland“ oder das Gemälde von Lovis Corinth auf einer Fünfzig-Pfennig-Marke aus dem vergangenen Jahr. Seine neuesten Erwerbungen auf dem Postamt waren Marken zum internationalen Jahr des Kindes 1979 und zur ersten Direktwahl des europäischen Parlaments.
Einmal hatte er vier Blocksätze Weihnachtsmarken auf einmal gekauft, zweimal Bundespost und Bundespost Berlin, gestempelt und ungestempelt. Der Schalterbeamte in der Post hatte ihm anerkennend zugenickt und die Blocksätze ganz sorgfältig abgestempelt. Datum vom Erstausgabetag, das war wichtig. Seine älteste Marke war aus einer Serie, die ab dem Jahr 1889 ausgegeben wurde, eine gestempelte Fünfzig-Pfennig-Marke der Reichspost; dazu ein halbes Dutzend Fünf-Pfennig-Marken derselben Serie, auf den Poststempeln sind Jahreszahlen wie „98“ und „99“ zu erkennen.
***
Herr Kaschuba, der Mathematiklehrer, betrat das Klassenzimmer.
Alle Kinder rannten augenblicklich an ihre Plätze.
Dann das morgendliche Ritual.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Herr Kaschuba“, kam es mehr oder weniger gemeinsam zurück.
Herr Kaschuba trug ein Jackett mit aufgenähten Ellbogenschonern und eine braune Cordhose. Er blätterte in seinem roten Lehrerkalender.
„Wenn nehmen wir denn heute dran? Wer rechnet die Hausaufgabe an der Tafel vor?“
Gespanntes Warten. Welcher Name würde fallen?
„Schröder“.
Ein dickes Kind in einem geringelten Pullover ging stumm nach vorne.
***
Nach der fünften Stunde, kurz nach zwölf Uhr mittags, hatten sie es geschafft. Der Junge fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause. Michael begleitete ihn, er hatte den gleichen Heimweg. Er war seit der fünften Klasse sein Freund. Ein eher unsportlicher Typ, mit dem man in den Pausen Schach spielen oder über Briefmarken reden konnte. Aschblonde Haare, blasse Haut, hellblaue Hemden. Sein ganzer Stolz war ein Vierfarbkugelschreiber mit einer schwarzen, einer roten, einer grünen und einer blauen Mine.
Vor dem Haus des Jungen verabschiedeten sie sich, Michael fuhr noch ein Stück weiter. Sicher würde er mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern zu Mittag essen. Sie wohnten in einem kleinen Reihenhaus an der Rheinstraße.
Der Junge stellte sein Fahrrad vor der Haustür ab und zog seinen Brustbeutel unter dem dunkelblauen Sweatshirt hervor. Dann nahm er den Schlüssel aus dem Beutel und schloss die Tür auf.
Er wohnte mit seiner Mutter im zweiten Stock eines Mietshauses mit insgesamt sechs Parteien. Sie arbeitete als Putzfrau in der Fabrik und würde erst um 15 Uhr wieder zu Hause sein. Um sechs Uhr fing sie jeden Morgen an. Er stand erst um halb sieben auf, fand aber immer einen gedeckten Frühstückstisch vor. Heute würde er sich nur ein Brot zu Mittag machen. Er stellte den Ranzen an der Garderobe ab und ging in die Küche. Zwei Scheiben Graubrot, schön mit Butter bestrichen, und dazu den guten Bierschinken von Tengelmann. Vier Scheiben übereinander, einmal in der Mitte durchgeschnitten – fertig ist die Klappstulle. Die Hausaufgaben würde er später erledigen.
Nach dem Essen ging er hinunter und stieg wieder auf sein Rad. In ein paar Tagen würde es Frühling werden und die Sonne bemühte sich aufrichtig, ihre bescheidenen Kräfte zu entfalten. Er fuhr die Rheinstraße entlang und erreichte nach knapp fünfhundert Metern den Autobahntunnel. Als er noch klein gewesen war, hatte es den gewaltigen Damm der Autobahn noch nicht gegeben, der nun seine Heimatstadt in zwei Hälften teilte. Eigentlich zerfiel die Kleinstadt, in der er geboren wurde, bei näherem Hinsehen in diverse Einzelteile: das alte Ingelheim, geteilt in Ober- und Niederingelheim, das Fabrikgelände, das angrenzende Arbeiterviertel und das alte Fischerdorf Frei-Weinheim jenseits der Autobahn. Was für ein schöner Name: Frei, Wein, Heim. Das klang nach einem Ort, den man sehen musste. An den Ufern des Rheins gelegen und von einer Magie, die im offiziellen Verwaltungsbegriff „Ingelheim-Nord“ längst verloren gegangen war. Die Mietskasernenorgie, die man nach dem Krieg neben die Fabrik gebaut hatte, bekam gleich zu Beginn den Namen „Ingelheim-West“.
Also fuhr der Junge auf der schnurgeraden Hauptstraße zwischen West und Nord ans Rheinufer. Vorbei an ockerfarbenen Bruchsteinhäusern und einer stillgelegten Fabrik, in der früher einmal Farben hergestellt wurden. Angeblich war der Boden mit Gift verseucht und niemand durfte auf das Gelände. Rechts des kleinen Fährhafens waren große Wiesen. Er nahm den Uferweg und hielt nach einigen hundert Metern an. Er holte die eingepackte Stulle und eine Colaflasche aus seiner Jeansjacke und setzte sich ganz nah ans Ufer. Während er aß, hörte er das träge Schmatzen der Wellen und das Rauschen des Windes in den Pappeln.
Ein Schubverband kämpfte sich in Zeitlupe gegen den Strom in Richtung Mainz. Der Fluss war an dieser Stelle fast einen Kilometer breit. Im letzten Sommer hatte er manchmal stundenlang hier am Ufer gesessen und sich Namen und Nationalität der Schiffe in selbstgemachten Listen notiert. Die meisten kamen aus Deutschland oder Holland. Mit dem Fernglas hatte er die flachen schwarzen Kähne beobachtet und es schon aufregend gefunden, wenn ein Mitglied der Besatzung auf Deck erschien und sich an einem Tau zu schaffen machte. Damals wollte er Kapitän werden.
Vor über hundert Jahren war der Rhein noch wild und mächtig gewesen. An manchen Stellen des Oberrheins war der Fluss kilometerbreit, bei Hochwasser sogar mehrere Kilometer. Die Menschen lebten vom Fischfang und der Landwirtschaft auf dem fruchtbaren Boden der Auenlandschaft, die regelmäßig im Frühjahr überschwemmt und frisch gedüngt wurde. Die dichten Urwälder am Rheinufer waren von Lianengirlanden geschmückt, undurchdringliches Dickicht machte den Weg beschwerlich, stille Altrheinarme voller Schnaken und Wasserlinsen, kristallklare Quellen, Graureiher, Kröten und Libellen verbargen sich in diesem Dschungel. Damals bestimmte der Fluss das Leben, er ernährte die Menschen und vernichtete sie durch Flutwellen und Malaria. Malaria - die tödliche Krankheit, die bis in die fünfziger Jahre noch von den Stechmücken übertragen wurde, die in den Sümpfen im schwül-heißen Klima des Rheintals prächtig gediehen. Damals schliefen die Menschen in Frei-Weinheim noch mit Moskitonetzen wie die Leute am Amazonas.
Das Leben fand damals auf dem Wasser statt, dachte der Junge. Erst später wurden Brücken über den Rhein gebaut. Bei Mainz ragten noch die Fundamente der längst zerstörten Römerbrücke aus dem Wasser, an den Steinpfeilern wurden früher die Schiffsmühlen festgemacht. Karl der Große war noch zu Lebzeiten mit einer Holzbrücke gescheitert, dann war über tausend Jahre Ruhe, bis die Preußen kamen. Erst bauten sie eine Brücke in Mainz, dann eine Brücke in Bingen. Ingelheim lag genau dazwischen. Im zweiten Weltkrieg wurden beide Brücken von der deutschen Wehrmacht in die Luft gesprengt, um die Amerikaner aufzuhalten. Im Krieg war keine einzige Bombe auf seine Heimatstadt gefallen und kein Schuss abgegeben worden. Überhaupt war dieser unbedeutende Flecken Erde erst ein Jahr vor dem Krieg zur Stadt erklärt worden. Die Amerikaner rollten im Frühling 1945 einfach von Westen her in den Ort hinein und rollten auf der anderen Seite wieder hinaus. So erzählten es jedenfalls die Leute, aber sie redeten nicht sehr oft über dieses Thema. In Mainz und Bingen hatte die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegen. Heute war auf der nagelneuen Autobahn hinter ihm mehr los als auf dem alten Strom.
Der Junge hatte längst fertig gegessen und schaute stumm über das Wasser. Er blinzelte so lange in die Sonne, bis er alle Regenbogenfarben in seinen Augenwinkeln sehen konnte. Er hatte heute nichts mehr vor und das Fernsehprogramm begann erst in ein paar Stunden. Aus der Ferne hörte er eine Trillerpfeife und Kinderstimmen. Auf dem Sportplatz trainierte eine Fußballmannschaft des VfL Frei-Weinheim. Hinter dem Sportplatz war der Damm, der die kleinen geduckten Häuschen des Ortes vor den Überschwemmungen des großen Flusses schützen sollte.

Rheinkind, Kapitel 2

„Freust du dich schon?“
Seine Mutter lächelte ihn an.
Der Junge hatte den Mund voller Nutella und Brot. Er nickte zufrieden.
Der erste Tag der Osterferien. Heute würden sie zu den Großeltern fahren. Das war eine Fahrt von über einer Stunde.
Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen lag ein kleines Städtchen, dessen Blütezeit bereits vor fünfhundert Jahren vorüber gegangen war. Dieses Städtchen trug den Namen Katzenelnbogen und es beherbergte auch den Weiler Klingelbach, an dessen Ortsrand die Großeltern ein kleines Haus bewohnten. Der Großvater, von Beruf zunächst Arbeiter im örtlichen Steinbruch und später Maurer, hatte es nach dem Krieg gebaut und hier verbrachte der Junge oft die Ferien.
Er trank Mich mit Bananengeschmack, die Dose mit dem hellen Pulver stand immer auf dem Frühstückstisch.
Seine Mutter aß ein Brot mit Erdebeermarmelade und trank Kaffee. Ihre Hände waren noch von der Arbeitswoche gerötet.
Heute hatten sie endlich Zeit, in Ruhe am Frühstückstisch zu sitzen und zu reden. Keine Schule, keine Arbeit. Zehn Tage, bis zum Ostermontag, würden sie bei Oma und Opa auf dem Land sein.
„Hast du alles eingepackt?“ Sie sah ihn mit ihren sanften braunen Augen an. Seine Mutter war nicht groß und keine auffällige Erscheinung. Sie hatte eine brünette Dauerwelle, eine hübsche Nase und kleine ebenmäßige Zähne.
„Na, klar!“ Der Junge grinste. Die Zahnbürste würde seine Mutter schon mitnehmen, er hatte nur das wichtigste in seiner Reisetasche: Comics, Klamotten und leere Briefumschläge, von denen er in den Ferien in einer Schüssel mit lauwarmem Wasser die Briefmarken ablösen wollte.
„Kann ich mein Fahrrad mitnehmen?“ fragte er seine Mutter.
Sie schüttelte nur den Kopf und runzelte die Stirn. „Du weißt doch, dass der Wagen auch ohne Fahrrad voll genug ist. Außerdem ist die Durchgangsstraße viel zu gefährlich. Manche fahren mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit ins Dorf hinein.“
Der Junge rollte mit den Augen und stöhnte theatralisch. „Mama, ich werde dieses Jahr fünfzehn!“
Seine Mutter lachte. „Du wirst erst Ende des Jahres fünfzehn und im Auto ist einfach kein Platz.“
Der Junge schmierte sich noch eine Scheibe Brot. Nutella, keine Butter. Seine Mutter hatte es aufgegeben, solche Eigenheiten zu kommentieren.
***
Eine Stunde später saßen sie in dem alten Renault-Kastenwagen, dessen rote Farbe schon Patina angesetzt hatte. Auch das Bodenblech war an manchen Stellen bereits etwas brüchig. Als seine Eltern noch zusammen waren, hatte sein Vater den Wagen gekauft. Die Scheidung war jetzt fünf Jahre her.
Das Haus, in dem der Junge mit seiner Mutter lebte, stand auf der Ecke Rheinstraße und Untere Muhl. Damals bekam die Familie eine Wohnung im zweiten Stock, weil der Vater des Jungen bei der Firma gearbeitet hatte. „Die Firma“, wie die Menschen in Ingelheim das Unternehmen im Stadtzentrum nannten, stellte Chemikalien her, hauptsächlich Milch- und Zitronensäure. Milchsäure brauchte man zur Herstellung von Limonade, die Zitronensäure wurde an Bonbonfabriken in Aachen verkauft. Die Milchsäureproduktion verpestete an manchen Tagen die Luft der ganzen Stadt mit ihrem üblen Fäkalgestank. Die Firma hatte auch die ganze Siedlung für ihre Mitarbeiter gebaut, kurz vor seiner Geburt. Er war am 27.12.1964 geboren und das Haus, in dem er wohnte, war im gleichen Jahr erbaut worden.
Auf der anderen Straßenseite war ein kleines Einkaufszentrum um ein Hochhaus drapiert. Aufgrund des Hauptmieters nannten es die Leute „das Tengelmann-Haus“. Neben dem Supermarkt gab es eine chemische Reinigung, ein jugoslawisches Restaurant und einen Kiosk, der alles hatte, was der Junge wirklich brauchte: Comics, Spielfiguren, Modellbausätze und Süßigkeiten ab zwei Pfennig aufwärts. Hinter dem Tresen standen der alte Herr Bender und seine Frau. Er trug meistens sehr dunkle Rollkragenpullover und hatte einen kalten Zigarrenstumpen im Mundwinkel. Herr Bender lachte nie, vermutlich um den Halt des Zigarrenstumpens nicht zu gefährden. Seine Frau trug meistens eine rosa Kittelschürze und war immer sehr freundlich.
Nur wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt war die Autobahnauffahrt. Er konnte sich noch dunkel an die Zeit erinnern, als die Autobahn gebaut worden war. Vorher gab es an dieser Stelle eine Kreuzung zwischen der Rheinstraße und der alten Bundesstraße. Früher waren sie mit der Fähre auf die andere Rheinseite und dann über die Landstraße zu den Großeltern gefahren.
Vom Fahrdamm der Autobahn aus konnte der Junge nach rechts über das ganze Werksgelände der Firma schauen: Auf Bürogebäude und rauchende Schornsteine, auf kleine Kiefernwäldchen und eine verfallene Tankstelle, die an der alten Bundesstraße gelegen hatte. Nirgendwo auf den Gebäuden des Werksgeländes war ein Firmenzeichen zu sehen. Auf der linken Seite sah er die gleichmäßigen Reihen der Spargelfelder, wie langgezogene Grabhügel. Rechts kamen hinter der Firma Felder mit Sauerkirschen und dann ein Baggersee, der früher einmal eine Kiesgrube gewesen war.
Zehn Minuten später standen sie auf der Schiersteiner Brücke. Der Verkehr wurde durch eine endlose Panzerkolonne der amerikanischen Streitkräfte aufgehalten, die unterwegs zurück in ihre Kasernen nach Wiesbaden waren. Auf den Lkws, die den Tanks folgten, saßen die GIs auf langen Pritschen, eine Plane in Tarnfarbe über sich. Der Junge blickte vom Beifahrersitz in den Lastwagen und machte das Victory-Zeichen. Ein Amerikaner sah es und erwiderte das Zeichen, der Junge grinste zufrieden. Er wusste gar nicht, wieso alle das machten, aber Amerika war einfach cool. Hamburger, Coca-Cola und Jerry Lewis. Es gab sehr viele Manöver im Rhein-Main-Gebiet und der halbe Frankfurter Flughafen wurde von der U.S. Air Force genutzt.
Tief unter ihnen floss die riesige graue Masse des Rheins. Unter der Brücke war eine große Insel, auf der ein Bauernhof stand. Die Felder waren noch braun und leer, vielleicht wurde hier Futtergetreide angebaut.
Endlich hatten sie den Stau und die Autobahn hinter sich. Auf der anderen Rheinseite fuhren sie durch die Hügel des Rheingaus in den Taunus. Vorbei an Martinsthal, Schlangenbad mit seinen Kurhotels, Kemel und Laufenselden. Vorbei an kleinen Metzgereien und Bäckereien, an Läden und Dorflokalen. Dörfer mit schmalen Bürgersteigen, auf denen kein Mensch zu sehen war.
Als sie in den Hof der Großeltern einbogen, standen die beiden schon in der Tür. Hier auf dem Dorf blieb keine Bewegung lange verborgen.
Der Junge ging die Stufen zur Haustür hinauf und gab seinen Großeltern die Hand.
„Seid ihr gut durchgekommen?“ fragte die Großmutter wie immer.
„Ihr wolltet doch schon früher hier sein“, brummte der Großvater in leicht vorwurfsvollem Ton.
„Da waren ganz viele Amis unterwegs. Und total viele Panzer“, erzählte der Junge begeistert. Er hatte zwar nur wenige Modellpanzer in seinem Kinderzimmer, denn er interessierte sich mehr für Schlachtschiffe und Flugzeugträger, aber die riesigen Stahlmonster hatten ihn beeindruckt.
„Ach, die Amis …“. Großvater winkte mürrisch ab und seine Miene verfinsterte sich. Er war 1945 bei Kriegsende noch zum sogenannten „Volkssturm“ eingezogen worden. Nach drei Tagen im Krieg, vor dem die echten Soldaten längst abgehauen waren, wurde er am Rheinufer von amerikanischen Soldaten gefangen genommen und war für über ein Jahr in französischer Kriegsgefangenschaft gelandet. Aber darüber sprach er nicht gerne.
Als wir später um den Küchentisch saßen, erzählte die Mutter des Jungen von der Arbeit. Neuigkeiten im Kollegenkreis und aus der Stadt. Die Großeltern waren sehr stolz, dass ihre Tochter in einem hochangesehenen Unternehmen in der Stadt arbeitete. Sein Großvater hatte ihm erzählt, dass Lobelin-„Ingelheim“, ein Mittel gegen Atemlähmung, während des Krieges zur Grundausstattung der Notfallkoffer in allen deutschen Luftschutzkellern gehört hatte.
Vom Schweinebraten und den Kartoffeln war nichts übriggeblieben. Der Großvater duldete keine Essensreste auf dem Teller und es drohten seine berüchtigten Erzählungen zur Gefangenenverpflegung der Nachkriegszeit im Falle einer leichtfertigen Zuwiderhandlung. Zum Nachtisch gab es eingemachte Erdbeeren aus Omas Garten, dick mit Zucker bestreut. Dann zogen sich die Erwachsenen zum Rauchen ins Wohnzimmer zurück und der Junge konnte endlich aus dem Haus rennen. Die Gespräche seiner Mutter mit den Großeltern waren in seinen Augen quälende Rituale. Er selbst erzählte nicht gerne von der Schule. Da gab es nichts zu erzählen.
***
Der Junge saß auf dem schwarzen knorrigen Ast eines alten Kirschbaums und sah auf die Straße hinunter. Der Baum war längst verblüht und das grüne Blättermeer schützte ihn vor Blicken. Auf der anderen Straßenseite waren Gemüsebeete angelegt, die irgendwelchen Leuten im Dorf gehörten. Rechts von ihnen war das Haus seiner Großeltern. Ein sandfarbener Bau, den sein Großvater nach dem Weltkrieg in monatelanger Kleinarbeit hochgezogen hatte. Bis zu seiner Pensionierung hatte der Großvater als Maurer gearbeitet, jetzt saß er am liebsten schweigend in seinem Sessel in der Wohnküche. Hinter dem schlichten Bau gab es noch ein anderes Haus, das seit vergangenem Jahr leer stand. Von dort gab es noch einen schmalen Steg über einen winzigen Bach, der zu einer anderen Straße des Dorfes und zum Waldrand führte, aber Autos kamen nur bis zu diesem Haus. Da seine Großeltern kein Auto besaßen, wurde die Straße auch kaum benutzt und gehörte zu seinem Revier, wenn er am Wochenende oder in den Ferien hier im Dorf war.
Er drehte den Kopf nach links. Am anderen Ende der Straße, die auf die Hauptstraße des Dorfes führte, stand das Haus von Verwandten. Der Großvater hatte zehn Geschwister gehabt, dieses Haus war das Stammhaus der Familie gewesen. Hier wohnten seine Großtante und deren Sohn nebst Ehefrau. Sie hatten einen Sohn, aber er war viel größer als der Junge und längst in die Stadt gezogen. Gegenüber war ein großer Bauernhof. Der Junge kannte die Leute nicht. Das waren alle vier Gebäude in dieser Straße. Auf der Hauptstraße ging es nach links ins Dorf hinunter, wo es einen Supermarkt, einen Bäcker, einen Metzger und ein Gasthaus gab. Nach rechts ging es aus dem Dorf hinaus, die Straße führte durch den Wald ins Nachbardorf. Ebertshausen war ein winziger Flecken mit etwa hundert Einwohnern, manchmal besuchten sie seinen Großonkel Ferdinand dort.
Von der Hauptstraße hörte er ein Geräusch. Ein Wagen! Der rote Ford Capri bog tatsächlich in ihre kleine Straße ein und rollte vorsichtig vorüber, als sei er sich nicht sicher, überhaupt in der richtigen Straße zu sein. Das Nummernschild konnte der Junge nicht erkennen, auch den Fahrer nicht. Langsam rollte das Auto am Kirschbaum vorbei, in dem sich der Junge verbarg. Am Ende der Straße hielt der Wagen. Nichts passierte. Er konnte nicht sehen, ob jemand ausstieg. Eine Weile lang passierte nichts. Eine Windböe rauschte in den Bäumen. Schließlich, als er schon den Plan gefasst hatte hinunterzuklettern und nachzusehen, kam der Ford Capri ebenso langsam zurück, wie er vor einigen Minuten vorüber gefahren war. An der Hauptstraße blinkte es vorschriftsmäßig, bog nach rechts ab und verschwand aus seinem Blickfeld.

Rheinkind, Kapitel 3

Das Haus seiner Großeltern hatte vier Stockwerke. Im Keller waren die Waschküche, die Heizungsanlage und die Hühner. Im Erdgeschoss wohnten die Großeltern und im ersten Stock lebte eine pensionierte Lehrerin zur Miete. Das Dachgeschoss hatte der Vater des Jungen vor langer Zeit als Ferienwohnung ausgebaut. War er alleine bei seinen Großeltern, schlief er im Wohnzimmer auf dem Sofa.
Ein Zimmer des Dachgeschosses war voller Gerümpel. Hier stand noch das alte Kinderbett seiner Mutter und ihres verstorbenen Bruders. Der Schrank war voller alter Zeugnisse, Kinderbilder, gestickter Stofftaschentücher und anderem merkwürdigen Zeug aus uralter Zeit. Auf dem Holztisch vor dem kleinen Fenster saß er manchmal, wenn er allein sein wollte. Hier bastelte er an seinen Modellbaukästen. Meistens waren es Schlachtschiffe aus dem Zweiten Weltkrieg wie die „Bismarck“ oder die „Scharnhorst“, aber manchmal auch Jagdbomber oder Schützenpanzer. Von der gleichen Firma gab es Armeen in Miniaturformat, der Junge hatte die deutsche Infanterie aus beiden Weltkriegen, mal mit Pickelhaube, mal mit Stahlhelm, dazu Russen, Amerikaner, Japaner, Franzosen und Engländer. Hier konnte er sich austoben und jeden Winkel für seine Schlachten nutzen, ohne gleich wieder aufräumen zu müssen wie im Wohnzimmer oder der Küche. Vor dem Haus war ein Hof mit einer Garage, in der jedoch nie ein Auto stand. Sein Großvater hatte weder einen Wagen noch einen Führerschein. Vielleicht hatte er von besseren Zeiten geträumt, als er sie gebaut hatte.
Gegenüber dem Haus der Großeltern waren Gemüsegärten. Hinter den langen Reihen mit Kohl und Bohnen war ein Hügel, auf dem eine Reihe Häuser stand. Es waren große alte Häuser, von hohen Bäumen in weitläufigen Gärten umgeben. Der Junge hatte sich schon oft gefragt, wer dort wohnte und wie es dort in den Häusern wohl aussah, aber auch seine Großeltern kannten die Besitzer nicht.
Der Junge ging nie weiter als zur Lahnstraße, der Hauptstraße des Dorfes. In der anderen Richtung ging er nur bis zum Bach. Manchmal ging er mit Großvater im Wald spazieren oder mit der Großmutter „in den Flecken“, in die Kleinstadt zum Einkaufen. Sein Großvater war ein stiller großer Mann. Er war immer glatt rasiert und trug die silbernen Haare sehr kurz. Seine großen Ohren standen etwas ab.
Der Junge mochte seinen Großvater, obwohl sie wenig miteinander sprachen. Wenn sie im Wald oder in den Feldern unterwegs waren, erklärte er ihm die verschiedenen Baumarten und Ackerpflanzen. Der Junge lief dem Großvater oft voraus, um zu sehen, wohin der Weg führte. Dann blieb er wieder ein wenig zurück, um etwas genau zu beobachten. Schließlich lief er an der Seite des Großvaters, der ihm ein Eichhörnchen zeigte. Der alte Mann sah viel mehr im Wald als der Junge, der die Tiere oft nicht bemerkte, die sie von Bäumen und aus Gebüschen neugierig anschauten. Er zeigte dem Jungen, wie man sich einen Wanderstock schnitzte und ihn mit dem Messer verzierte. Letzten Frühling hatte er ihm gezeigt, wie man aus einem jungen Weidenzweig eine Flöte machte.
Bei den Großeltern gab es kein Telefon, der Großvater hielt es für überflüssig. Wenn ein Anruf kam, dann bei seiner verwitweten Schwester im Nachbarhaus, die dort mit Sohn und Schwiegertochter wohnte. Alsbald wurde von Fenster zu Fenster herüber gerufen, im Winter machte sich sogar jemand auf dem Weg, um die telefonischen Nachrichten in ihr Haus zu tragen. Es gab überhaupt keinen überflüssigen Firlefanz bei seinen Großeltern. Im Garten war kein Quadratmillimeter ungenutzt: Kartoffeln, Möhren, Erbsen, Bohnen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Kräuter, Blumenkohl, Rosenkohl, Salat, Äpfel und Kirschen, dazwischen schmale steinerne Wege. Die Großmutter war jeden Tag im Garten und rupfte Unkraut. Im Sommer sammelten sie zusammen Erdbeeren. Sie zeigte dem Jungen lachend die dicksten Beeren, die er sich sofort in den Mund stopfte. Sie waren jeden Tag im Garten. Morgens gingen sie zuerst zu den drei oder vier Hühnern im Stall. Die Hühner legten nicht jeden Tag ein Ei, aber manchmal fanden sie eins oder zwei. Sonntags gab es ein gekochtes Ei zum Frühstück, ansonsten wurden die Eier zum Kuchenbacken benötigt.
Das Reich seiner Großmutter war aber nicht nur der Garten, sondern auch die Küche. Neben dem Kühlschrank stand ein klobiger Holzschrank, in dem es Schubfächer für Mehl, Salz und Zucker gab, und in dem die Besteckschublade, der Kaffee und die Schokolade waren. Außerdem alle Teller, Töpfe und Tassen, die seine Großeltern besaßen. Mittelpunkt der Küche war der Tisch, drei Stühle und ein Sofa standen um ihn herum. Das Sofa hatte keine Rückenlehne, war uralt und abgewetzt, irgendwann einmal muss es hellgrün gewesen sein. Auf einem Brettchen an der Wand über dem Sofa war das Radio. Sonntags ab fünfzehn Uhr lief hier die „volkstümliche Hitparade“, ein unerträglicher und permanent gleich klingender Jodelmarathon aus Südtirol und anderen ehemals deutschen Gebieten, die in irgendwelchen Kriegen verloren gegangen waren.
Mit dem Dorf seiner Großeltern verband in ein besonderer Geruch: Der Gestank von Kuhmist in allen Stadien der Transformation. Dafür sah man im Gegensatz zur Stadt nachts die Sterne am Himmel. Seine Großeltern pflegten allerdings bereits um acht Uhr abends ins Bett zu gehen. Selbst zur Tagesschau in der ARD waren sie nicht zu bewegen und so blieben ihm und seiner Mutter abends nur ihre Bücher und Träume.
***
Erst hörte man das angestrengte Jammern des Motors, dann bog der Wagen um die Ecke. Der Junge blickte von seinem Tisch auf. Gerade hatte er einen der vorderen Geschütztürme des schweren Kreuzers Prinz Eugen angeklebt, als er sah, dass ein Auto in ihre Straße einbog. Er duckte sich instinktiv und beobachtete das Fahrzeug weiter. Es war ein Ford Capri, dessen Gaspedal immer ungeduldiger getreten wurde, bis der Wagen vor dem Nachbarhaus endgültig und wie eine asthmatische Katze fauchend zum Stillstand kam.
Als es kurze Zeit später an der Haustür klingelte, war der Junge erleichtert. Endlich passierte etwas! Er schaute erwartungsvoll seinen Großvater an, der vom Küchenstuhl aufstand und zur Haustür ging. Er wischte sich verlegen die Hand am Hosenbein ab, bevor er die Tür öffnete.
„Guten Tag. Sperber mein Name. Ich bin ihr neuer Nachbar.“
„Guten Tag“, sagte mein Großvater ausdruckslos und blieb stumm in der Tür stehen.
„Kommen sie doch herein“, rief meine Großmutter und lief eilig zur Tür. Sie wischte sich die vom Spülen nassen Hände an ihrer dunkelblauen Kittelschürze ab und lächelte freundlich.
„Kommen Sie doch“, wiederholte sie und geleitete Herrn Sperber ins Wohnzimmer.
„Sehr gerne“ sagte Herr Sperber und setzte sich auf den angebotenen Platz in der Mitte des Sofas.
Er war ziemlich groß und breitschultrig. Der Junge schätzte ihn auf fünfzig Jahre. Der Mann trug einen hellgrauen Anzug und drehte etwas verlegen seinen Hut in den Händen. Sein Gesicht war breit und seine kleinen blauen Augen standen etwas zu weit auseinander. Als er lächelte, waren große Lücken zwischen seinen eckigen Zähnen zu sehen. Die fleischige Nase passte nicht zu den schmalen Lippen. Seine dunkelblonden glatten Haare hatte er mit Brisk zurück gekämmt.
„Von woher kommen sie denn?“ wollte der Junge wissen.
Seine Großmutter sah ihn vorwurfsvoll an. „Möchten Sie etwas trinken? Ein Glas Wasser vielleicht? Ich kann auch Kaffee kochen.“ Nun blickte der Großvater vorwurfsvoll seine Frau an. Sie wollte doch hier keine Umstände machen, oder etwa doch?
Der Mann lächelte den Jungen an. „Ich bin aus Berlin. Und vielen Dank, aber ich wollte mich nur kurz vorstellen. Hermann Sperber ist mein Name und ich habe das Nachbarhaus von meinen Eltern geerbt.“
„Ach, Sie sind der junge Sperber?“ rief der Großvater und rückte einen Stuhl näher, um sich zu seinem Gast zu setzen.
„Jawollja, der bin ich.“ Herr Sperber nickte freundlich in die Runde. Und als der Großvater ihn fragend ansah, ergänzte er: „Ich bin über zwanzig Jahre zur See gefahren, dann habe ich in West-Berlin gelebt. Und nun will ich hier etwas Neues anfangen.“
„Hier ist es schwer, Arbeit zu finden“, gab der Großvater zu bedenken.
„Das ist kein Problem“, lachte der Mann. „Ich habe ein Auto. In Limburg oder in Koblenz, meinetwegen auch in Wiesbaden oder Frankfurt wird sich schon Arbeit finden. Ich kann noch richtig anpacken, ich bin kerngesund.“
Der neue Nachbar erinnerte den Jungen an seinen Onkel Werner, der manchmal zu Besuch kam. Er brachte jedes Mal eine frische Brise Humor und neue Geschichten ins Haus der Großeltern. Als Versicherungsvertreter kam er viel herum, Frau und Kind hatte er nicht, was ihm damals auf dem Land ein geradezu exzentrisches Image gab. Er lachte und erzählte, er zwinkerte mir zu und hatte Abenteuergeschichten nur für den Jungen im Gepäck. Er freute sich immer über den Besuch und bewunderte diesen Onkel heimlich. So lustig und unabhängig wollte er auch einmal durchs Leben gehen, dachte der Junge immer.
Dann kam seine Mutter nach Hause. Sie war gerade einkaufen gewesen und hatte sicher auch eine Tafel Vollmilchschokolade für ihn gekauft.
„Oh, wir haben Besuch“, sagte sie ehrlich erstaunt, denn es kam nicht oft vor, dass Fremde das Haus betraten.
„Das ist Herr Sperber, unser neuer Nachbar“, sagte die Großmutter freudestrahlend.
„Sehr angenehm, junge Frau, sehr angenehm.“ Herr Sperber war zu diesen Worten tatsächlich aufgestanden und hatte eine Verbeugung angedeutet. Ein Mann von Welt, soviel war sicher.
Seine Mutter errötete etwas. Dann drückte sie der Großmutter die Einkäufe in die Hand. Die Butter musste sicher in den Kühlschrank. Dann löste sie den Knoten von ihrem Kopftuch, das ihre Dauerwelle vor Wind und Regen schützte. Auf dem Dorf trugen alle Frauen Kopftuch.
„Herzlich willkommen! Seit wann wohnen Sie denn schon hier?“, fragte die Mutter freundlich und setzte sich neben den Großvater an den Wohnzimmertisch.
Der Junge stand am Fenster und hörte den Erwachsenen aufmerksam zu.
„Ich werde erst im Sommer hier einziehen. Meine Möbel sind noch in Berlin. Außerdem möchte ich mir das Haus erst einmal anschauen. Wahrscheinlich müssen noch einige Reparaturen erledigt werden.“
Der Mann lächelte seine Mutter jetzt unverhohlen an.
Sie lächelte zurück und sagte: „Dann sehen wir uns ja sicher öfter.“
„Mit dem größten Vergnügen, gnädige Frau, mit dem allergrößten Vergnügen.“
***
Als Herr Sperber wieder gegangen war, aßen der Junge, seine Mutter und die Großeltern zusammen Kuchen. Für jeden gab es ein großes Stück Streuselkuchen. Natürlich war der neue Nachbar das einzige Thema. Es war aufregend: Jemand aus Berlin!
Bei seinen Großeltern hatte der Junge immer allein gespielt. In der Straße, in der sie wohnten, sie hieß Oberdorfstraße, gab es nur noch drei andere Häuser. In keinem dieser Häuser wohnte ein anderes Kind. Und er durfte, als er klein war, nur bis zum Ende der Straße laufen. Dort sei es zu gefährlich für ihn, hatten seine Großeltern gesagt. Sie hatten ihn schon einmal als Kleinkind ohnmächtig und in einer Blutlache liegend auf dem Hof gefunden, weil er mit seinem Dreirad gegen das eiserne Hoftor geknallt war und er sich den Kopf aufgeschlagen hatte. Es musste im Krankenhaus genäht werden und hatte schwere Vorwürfe seitens seiner Mutter zur Folge gehabt. Also spielte er allein im Hof oder im Dachgeschoss, oder er saß in der Küche und malte. Er zeichnete gerne Cowboys und Indianer, aber auch Häuser und manchmal ganze Städte. Aus der Schulbibliothek lieh er sich häufig Bücher aus, die er in den Ferien las: Jules Verne oder Enid Blyton. Manchmal durfte er sich im Vorabendprogramm des Fernsehens Zeichentrickfilme oder amerikanische Serien anschauen.
In Ingelheim hatte er früher viele Freunde gehabt, mit denen er am Nachmittag Fußball oder Verstecken spielte. Einmal hatte er in seinem Zimmer gesessen und gelesen, als er von Ferne seinen Namen hörte. Dann noch einmal. Es waren die anderen Kinder, die im Chor seinen Namen riefen! Er ging ans Fenster und sie forderten ihn auf, hinunter zu kommen. Ein Junge hatte einen Ball unter dem Arm. Er hatte sich natürlich gleich die Schuhe geschnappt und war die Treppe runter gelaufen. An diesen Moment erinnerte er sich heute noch gerne: Alle Freunde rufen gemeinsam seinen Namen, völlig überraschend (und es ist auch später nie wieder passiert), und möchten ihn sofort treffen. Die Selbstverständlichkeit und Vertrautheit dieser Gemeinschaft, dieser Clique aus den umliegenden Mietskasernen … – als er dann mit zehn Jahren aufs Gymnasium gekommen war, begann sich diese Gemeinschaft langsam aufzulösen. Er war der einzige, der auf eine höhere Schule ging, während seine Freunde im Stadtteil blieben und in der Hauptschule landeten.

Rheinkind, Kapitel 4

Am ersten Juniwochenende war es über dreißig Grad heiß. Im Radio hatten sie gesagt, es sei das heißeste Pfingstfest seit fünfzig Jahren. Ein Jahr zuvor hatte er noch mit seiner Mutter bei einem Pfingstausflug zum Germania-Denkmal auf der anderen Rheinseite gemacht. Unter der dicken und furchteinflößend hässlichen Statue hatten sie eine halbe Stunde im Nieselregen gebibbert, anschließend Kuchen in einem Rüdesheimer Café gegessen und waren schnell wieder nach Hause gefahren. Damals waren es noch nicht einmal zehn Grad gewesen, heute war der Junge in kurzen Hosen und T-Shirt unterwegs.
Er war mit Julian Weitzel verabredet, der in einem alten Elektrizitätswerk hinter dem Uffhubtor lebte. Es war ein altes Stadttor in Ober-Ingelheim, nicht weit vom mittelalterlichen Burggelände entfernt. Julian kannte er schon seit der fünften Klasse. Er ging nicht gerne zur Schule, aber sein Vater war Beamter in der Stadtverwaltung und wollte unbedingt, dass seine Kinder aufs Gymnasium gingen. Julian bekam wegen seiner unaufgeforderten Kommentare im Unterricht regelmäßig Einträge ins Klassenbuch, die er in den Pausen mit höhnischer Stimme vorlas, wenn gerade kein Lehrer im Klassenzimmer war. Er spielte in der D-Jugend der Fußballmannschaft der „Spielvereinigung Ingelheim“, die im Stadion zwischen Schwimmbad und Baggersee trainierte.
Julian wartete schon vor der Tür. „Komm lass uns gleich abhauen“, rief er dem Jungen zu.
„Was ist denn los?“ fragte der Junge, der vom Anstieg nach Ober-Ingelheim noch etwas aus der Puste war.
„Da gibt’s ein altes Haus in der Stiegelgasse. Das steht leer.“
Der Junge kannte die Straße nicht. Er konnte sich die ganzen Straßennamen nie genau merken, dafür prägte er sich Abzweigungen und Häuser ein. Er folgte seinem Freund, der bereits durch das Tor zur Hauptstraße schoss.
Das Tor und auch die anschließenden Mauern waren aus blassgelbem Bruchstein wie viele der Ingelheimer Häuser. Sein Vater hatte ihm erklärt, es handle sich um Flonheimer Stein, ein Sandstein aus einem rheinhessischen Steinbruch.
Auch das Haus in der Stiegelgasse war aus dem hellen Stein gebaut, der im Sonnenlicht dieses Nachmittags fast zu leuchten schien.
Julian stellte sein Rad ab und fuhr sich mit der Hand durch die schwarze Mähne. „Los, hier ist es.“
Er schien ungeduldig. Der Junge fragte sich, wie sie überhaupt ins Haus gelangen wollten, während er sein Fahrrad abschloss. Weder Türen noch Fenster waren geöffnet.
Aber Julian hatte schon im Nachbarhaus geklingelt.
Ein großer untersetzter Mann mit Hosenträgern öffnete die Tür.
„Hallo, Onkel Gerhard. Können wir im Garten spielen?“
Dann war er einfach an dem Mann vorbei geflitzt und der Junge folgte nur zögernd. Der Mann lächelte und winkte ihn herbei.
Der Garten war nicht groß und völlig zugewachsen. Der Rasen war voller Moos und die Steinplatten des kleinen Weges waren schief und an manchen Stellen sogar gebrochen. Der Onkel war ihnen nicht gefolgt und Julian lockte ihn mit dem Zeigefinger näher.
„Hier, schau mal“. Er strahlte den Jungen mit seinen großen blauen Augen an. „Hinter diesem Gebüsch kommen wir auf die Mauer und von da auf’s Dach von dem Anbau drüben. Hab’ ich alles schon ausbaldowert.“
Schnell waren sie über die kleine Mauer auf das Nachbargrundstück geklettert. Der schmale Anbau war noch nicht einmal mannshoch und mit Teerpappe gedeckt. Auf der anderen Seite war ein großer Komposthaufen, der aber schon seit Jahren bewachsen war und aus dem junge Weiden sprossen.
Als sie auf der Wiese vor dem Haus standen, hatte der Junge doch ein bisschen Angst. Wenn das rauskommt, sind wir dran wegen Einbruchs, dachte er. „Bist du sicher, dass da keiner drin ist?“
„Na, logisch.“ Julian lachte. „Die alte Frau ist vor zwei Wochen gestorben. Das Haus ist leer und ihr Sohn hat schon alles rausgeholt, was er haben wollte.“
Sie waren zum Hintereingang gelaufen und die Tür zur Küche war tatsächlich offen. Es roch muffig und immer noch nach altem Mensch. Die Schranktüren waren geöffnet und es waren weder Vorräte noch Geschirr zu sehen. Der Kühlschrank, der hier gestanden haben musste, hatte eine helle Stelle auf dem Holzfußboden hinterlassen.
„Komm weiter“. Julian war ungeduldig und neugierig wie immer.
Der Dielenboden knarrte. Im Wohnzimmer standen eine abgewetzte hellbraune Couch mit Cordbezug und einige Sessel, die offenbar nicht zueinander gehörten. Der Lärm, den sie auf der Holztreppe zum ersten Stock verursachten, war dem Jungen unheimlich. Jeder hätte sich in diesem Lärm anschleichen oder sie einschließen können.
Im Schlafzimmerschrank der alten Frau fanden sie einen Haufen alter Briefe und Unterlagen. Die Briefe waren in Sütterlin geschrieben, einer alten deutschen Schrift, die keiner mehr benutzte. Der Junge ging weiter, während Julian sich noch kichernd durch alte Strickjacken wühlte. Im nächsten Zimmer standen ein kleiner, dunkel gebeizter Schreibtisch und ein Bücherschrank. Er sah sich die Bücher an. Viele waren in altdeutscher Druckschrift, die er nicht lesen konnte. „Hundert Jahre Einsamkeit“ von einem gewissen Gabriel Garcia Marquez schien neueren Datums zu sein und hatte einen ungewöhnlichen Titel. Es war 1975 in Berlin erschienen, beim „Verlag Volk und Welt“. Also in der „DDR“, die in der Bild-Zeitung, die sein Großvater gelegentlich las, immer in Anführungszeichen gesetzt wurde. Wahrscheinlich war das Buch in einem Päckchen „von drüben“ gewesen. Die Leute aus dem Westen schickten Kaffee und Strumpfhosen in den Osten und die Leute aus dem Osten schickten Bücher und Schallplatten in den Westen. Auf der Vorderseite war neben dem Titel nur eine rote Blume zusehen, sonst nichts.
Der Junge steckte das Buch in die hintere Tasche seiner Hose. Dann nahm er einen dicken Lederband aus dem Regal. Ein paar Ansichtskarten purzelten aus dem Buch.
„Was hast du da?“ Julian stand plötzlich in der Tür.
„Alte Postkarten“, antwortete der Junge und lächelte. „Sieh dir mal die Briefmarken an.“
Julian strahlte. Sie teilten die alten Karten aus der Kaiserzeit. Fast alles die üblichen grünen Fünf-Pfennig-Marken der Germania-Serie. Aber zusammen mit den schönen alten Karten könnte man sie an einen Flohmarkthändler verkaufen. Von dem Buch erzählte der Junge nichts. Er würde es vielleicht in den Ferien lesen oder verkaufen.
***
Eine Stunde später war der Junge auf dem Weg nach Hause. Die schwüle Hitze machte alle müde und träge. Er rollte mit seinem Fahrrad über den Marktplatz, wenigstens ging es die Bahnhofstraße bergab und der Fahrtwind würde sein Gesicht kühlen. Vor einem kleinen Geschäft stand Susi. Susanne Schweikhard saß in der Schule links neben ihm. Letzte Woche hatte sie ihm ein paar Briefmarken mitgebracht, es war sogar eine Marke aus Neuseeland dabei gewesen. Eigentlich war sie ganz nett, aber sie hatte eine operierte Hasenscharte.
„Hallo“.
„Hallo“, antwortete er mechanisch und hielt an.
„Heute ist Folkfestival.“
„Ich weiß“, antwortete er, obwohl es gelogen war. Er wusste gar nicht, um was es ging. Jedes Jahr trafen sich hier an Pfingsten junge Leute mit langen Haaren und Batik-Hemden, um Musik zu hören. Er musste sich nur umsehen: Buntebemalte VW-Busse und Renault-Kastenwagen, jede Menge Käfer und Kadetts, dazu ein knallroter Fiat 500 mit seinen Babyreifen.
„Ich wollte gerade hingehen. Kommst du mit?“
„Na klar.“ Kneifen wollte er auf keinen Fall. Ihm fiel auf, dass sie ein paar rote Strähnen in ihrem blonden Haar hatte. Eigentlich war es eher orange.
Er schloss sein Rad ab und folgte ihr über die Kreuzung.
Auf der anderen Seite war ein kleiner Pfad, der hinter der alten Burgmauer vorbei auf das Festgelände führte. Überall waren Oberschüler und Studenten, lachende Frauen und Leute mit Trommeln und Gitarren. Die Männer hatten Vollbärte oder wenigstens Schnurrbärte und manche trugen ihr Haar schulterlang, die Frauen trugen bunte Kleider und Cloggs. Auf dem Rasenstück zwischen Mauer und Weg hatten die Besucher Zelte aufgeschlagen, vor denen sie im Schneidersitz saßen und selbstgedrehte Zigaretten rauchten. Die ganze Szene wirkte auf ihn, als hätten sich mittelalterliche Gaukler, Sänger und Artisten hier an einem Hof versammelt.
Je weiter sie in das Getümmel vordrangen, desto unsicherer wurde der Junge. Er kannte keinen Menschen, aber Susanne teilte den Menschenstrom mit einer Sicherheit, als hätte sie ihr ganzes Leben in einer lärmenden Menge von Riesen verbracht. Es mussten tausende von Leuten sein. Alle schienen gleichzeitig zu sprechen, zu lachen und zu singen.
Dann hielt Susanne plötzlich an.
„Hallo Trixie“, begrüßte sie ein anderes Mädchen. „Das ist ein Schulfreund“, sagte sie und deutete auf den Jungen. „Und das ist meine Schwester.“
Trixie lächelte dem Jungen freundlich zu. Sie war mindestens 16 und trug eine lila Latzhose, die sie auf dem Schulhof noch nie getragen hatte.
„Ich hol uns mal was zu trinken“, sagte Susanne und war blitzschnell verschwunden.
Der Junge stand verlegen herum und sah zu Boden. Er fühlte sich völlig verloren und fragte sich, was er auf diesem Festival überhaupt machte. Minuten des Schweigens vergingen. Dann krächzte es unmittelbar neben ihnen. Die Leute drehten sich erschrocken um.
„Test. Test. Eins-zwei. Eins-zwei.“
Ein Musiker stellte die Anlage ein und klopfte auch gelegentlich bedeutsam gegen das Mikrophon.
Der Junge nutzte die Gelegenheit und schlich sich davon.
Er war erleichtert, als er wieder auf seinem Fahrrad saß und in die Pedale treten konnte.

Rheinkind, Kapitel 5

Letzter Schultag vor den Sommerferien. In der dritten Stunde würde es von der Klassenlehrerin, Frau Seydlitz, die Zeugnisse geben. Sie war Englischlehrerin und stammte eigentlich aus Großbritannien, hatte aber einen Deutschen geheiratet und seinen Nachnamen angenommen. So etwas war nicht ungewöhnlich. Die Großmutter seines Freundes Julian hatte einen französischen Besatzungsoffizier geheiratet, der in den Nachkriegszeit die Lieferungen der Firma kontrollierte, die ein Viertel ihrer Produktion an Frankreich abgeben musste. Und in der Firma arbeitete sogar ein Inder, wie seine Mutter ihm berichtet hatte.
Sie war längst an ihrem Arbeitsplatz, in der leeren Wohnung war es ganz ruhig. Selbst das Ticken der Küchenuhr war im Badezimmer nicht mehr zu hören. Der Junge konnte sich Zeit lassen und blickte sich um. An den vanillepuddinggelben Kacheln klebten einzelne Pril-Blumen, die man von der Plastikflasche abziehen konnte. Am Kühlschrank in der Küche klebten auch noch welche. Auf der Waschmaschine lag das Sammelsurium seiner Mutter: Bürsten, Haarklammern, Lippenstift, Haarspray, Cremes für Hände und Gesicht, Sonnenmilch und tausend andere Sachen. Auch ein paar Plastikbecher mit verschließbarem Deckel. Seine Mutter nahm an „humanpharmakologischen Versuchsreihen“ teil, wie das offiziell hieß, um Geld nebenher zu verdienen. Dabei wurden neue Medikamente an Menschen getestet. Der Junge musste ihr regelmäßig einen dieser Becher für die geforderten Urinproben füllen. Bis zur Abgabe stand der Becher dann im Kühlschrank. Das fand er ekelhaft, wollte aber nichts sagen.
Seit seine Mutter alleine war, trank sie. Nach der Scheidung seiner Eltern hatte sie gelegentlich auf Kontaktanzeigen geantwortet, aber die Beziehungen hatten nie lange gedauert. Abends saß sie allein im Wohnzimmer und immer häufiger hörte er, wie eine Flasche Wein entkorkt wurde. Manchmal kam sie später noch in sein Zimmer und war sichtlich angetrunken. Er beobachtete, wie seine Mutter durch das Trinken erst glücklich und dann wieder unglücklich wurde, und zwar viel unglücklicher als in nüchternem Zustand, so als würde sie erst volltrunken das ganze Ausmaß ihres Unglücks erkennen.
Das heiße Badewasser war eingelaufen und der Junge stieg vorsichtig hinein. Er sah an seinem Körper hinab. Die Beine waren schon immer mit dunklen Haaren bedeckt gewesen. Richtig schwarz, die Haare auf seinem Kopf waren so braun wie seine Augen. Nur die tausendfach aufgeschürften Knie lugten wie zwei Glatzen aus dem Badewasser, als er sich setzte. Auch zwischen seinen Beinen wuchsen längst Haare. Er musste an die Bemerkung von Oliver Hassemer denken, der neulich in der Schule einen blöden Witz über den Flaum unter seiner Nase gemacht hatte. Ob auf seiner Brust irgendwann einmal Haare wachsen würden? Er wusste nicht, ob sein Vater oder einer seiner Großväter eine behaarte Brust hatten. Der Junge konnte sich an die Menschen in seiner Familie immer nur in voller Bekleidung erinnern. Ob er jemals so groß wie sein Vater werden würde? Als er sich zuletzt in den Osternferien gemessen hatte, war er nur Ein Meter neunundfünfzig groß gewesen.
Rechts leuchtete eine Operationsnarbe auf seinem Bauch. Er musste daran denken, wie er vor drei Jahren im Krankenhaus von Katzenelnbogen gelegen hatte. Sie hatten ihn im unerträglich heißen Sommer 1976 wirklich „der alte Mann“ genannt. Er war am Blinddarm operiert worden, mühsam und gebeugt schlich er wochenlang durch die Flure des Krankenhauses, das stumme Gespenst der Stationen. Wegen Überfüllung der Kinderstation hatte er zwei Wochen lang in einem Zimmer mit drei erwachsenen Männern gelegen. Die Großeltern waren jeden Tag vorbei gekommen und hatten ihm Fachinger Heilwasser gekauft, die Mutter hatte nur zweimal am Wochenende kommen können.
***
Nach der Schule standen die Kinder noch in Gruppen auf dem Schulhof und sprachen in der gleißenden Julisonne über ihre Zeugnisse. Der Junge hatte die achte Klasse geschafft, er hatte fast nur Dreier und Vierer, eine Zwei in Sport, eine Fünf in Chemie. Aber es war ihm egal, er bekam sowieso kein Geld für die Noten. Julian und Michael bekamen für eine Eins zwei D-Mark, für eine Zwei eine D-Mark, manche Kinder kassierten bei ihren Großeltern gleich noch einmal. Die Jugendlichen aus der Oberstufe prahlten lautstark mit ihren schlechten Noten und überboten sich in ihrer Verachtung für bestimmte Lehrer. Die älteren Schüler sprachen auch über die politischen Ereignisse. Vor einigen Tagen hatte die RAF, eine terroristische Gruppe, einen Bombenanschlag auf den amerikanischen Oberbefehlshaber der NATO verübt. Einige Jungs mit Parka und langen Haaren fanden lobende Worte für die Terroristen, die dem „US-Imperialismus“ den Kampf angesagt hätten, und blickten sich triumphierend um.
Der Junge erinnerte sich an die Terrorwelle im Herbst vor zwei Jahren. Als die Leiche eines Entführungsopfers gefunden wurde, war er gerade bei seiner anderen Oma in Diez gewesen. Die Nachricht hatte damals alle Erwachsenen erschüttert. Sie machten Gesichter, als hätten sie einen nahen Verwandten verloren. Die geplante Ausstrahlung eines Heinz-Rühmann-Films, auf den er sich gefreut hatte, wurde abgesagt. In den Postämtern hingen Plakate mit vielen Schwarz-Weiß-Porträts, von denen einige mit einem dicken schwarzen Stift durchgestrichen waren. Er hatte das Gefühl gehabt, als sei eine großangelegte Jagd auf eine verwegene Räuberbande im Gang gewesen. Klammheimlich hatte er damals den Räubern die Daumen gedrückt, aber niemandem etwas davon gesagt.
Die Maulhelden im Parka mochte der Junge nicht. Das ganze Gerede von der Politik war doch nur eine neue Form von Balz- und Imponiergehabe, dachte er. Genau wie die langen Haare und die Musik. Er verließ den Schulhof und ging zu seinem Rad. Mit dem Ranzen auf dem Gepäckträger fuhr er zum nahen Bahnhof. Links vor dem Säulenportal des Gebäudes stand eine Imbissbude in Form eines Fliegenpilzes. Hier belohnte sich der Junge für sein Zeugnis mit Pommes frites, die er mit einem gelben Plastikgäbelchen aus einer spitzen Papiertüte herausfischte. Oben hatte man immer ganz viel Mayo und unten ganz viel Salz. Seine Mutter hatte ihm extra drei Mark zum Essen mitgegeben, die Mark für die Cola sparte er sich. Er würde zu Hause Wasser trinken und sich nächste Woche lieber das neue MAD-Heft im Laden der Benders kaufen.
***
Als er vor der Bude stand und gerade versuchte, die harten braunen Brösel aus der letzten Ecke der Tüte zu bekommen, stand plötzlich Jan vor ihm. Jan, ein alter Freund aus seiner Grundschulzeit. Er erinnerte sich an frühere Zeiten, in denen er mit seinen alten Freunden durch die Felder gestreift, heimlich Feuer gelegt und Fußball gespielt hatte.
„Der Zirkus ist da“, rief ihm Jan freudestrahlend zu.
„Echt?“ fragte der Junge überflüssigerweise. Er warf die Papiertüte in den Mülleimer und stieg auf sein Rad.
Sie fuhren, so schnell sie konnten, an den Gleisen entlang, durch die Unterführung und durch das Werksgelände der Firma. In Ingelheim-West gab es an der Veit-Stoß-Straße ein großes Mietshaus mit fünf Stockwerken, das jeder nur „das blaue Haus“ nannte. In diesem Haus wohnte Jan mit seiner Familie. Der Vater war schrecklich, er schrie seine Kinder oft an und schlug sie. Nördlich der großen Wohnanlage waren Wiesen und Felder bis zur Autobahn. Und genau hier, an der Matthias-Grünewald-Straße, war jeden Sommer ein Wanderzirkus.
Als sie endlich ankamen, waren schon einige andere Kinder da. Sie standen neugierig um die drei Holzwagen herum, die einen Kreis um ein Stück Wiese bildeten. Der Zirkus war nicht groß. Eigentlich war es nur eine einzige Familie, wie es schien. Die Erwachsenen saßen auf Holzkisten an der Feuerstelle und sprachen in einer unbekannten Sprache miteinander. Ein Mädchen balancierte mit einer Stange auf einem Seil, dass nur eine Handbreit über dem Boden zwischen zwei Pfosten aufgespannt war. Ein anderes Mädchen saß auf einem großen weißen Pferd, das von einem Jungen in zu kurzen Hosen im Kreis geführt wurde. In einem der Wagen waren ein paar Rhesusaffen mit Halsbändern angekettet. Ein barfüßiges Kind fütterte sie gerade mit Obst und Brot.
Der Junge und sein alter Freund traten näher. Hier fühlte er sich immer wohl. Nur schade, dass er morgen schon wieder zu seinen Großeltern fahren musste. Aber seine Mutter konnte nicht für die ganzen Sommerferien Urlaub beantragen, er wusste es und widersprach auch nicht. Früher hatte er sich jeden Nachmittag beim Zirkus herumgetrieben, wenn er in der Stadt war. Und er war immer traurig, wenn der Wanderzirkus eines Tages verschwunden war. Affen, Pferde und ein paar Kunststücke – die Aufführungen waren langweilig, aber die vertrödelte Zeit nach der Schule war herrlich gewesen. Und die Erwachsenen waren auf unerklärliche Weise freundlich zu den Kindern und nahmen sich für alles Zeit, so als ob sie Millionäre wären.
Einmal hatte eine alte Frau dem Jungen sogar aus der Hand gelesen. Sie hatte ihn angelächelt, ein Gesicht voller Falten und Zahnlücken, und dann gesagt, seine Lebenslinie sei sehr lang und stark, er hätte eine starke Gesundheit und einen festen Willen. Die Kopflinie weise auf Klugheit und Phantasie hin. Allerdings sei die Herzlinie unterbrochen und die Schicksalslinie nur kurz, was auf wenig Erfolg in Liebe und Beruf hindeute. Aber am Ende seines Lebens würde sich alles zum Guten gewendet haben. Der Junge hatte es nicht vergessen.
Als er den Zirkuskindern zusah, die sich die Affen auf die Schultern setzten, erinnerte er sich auch an das angeblich zahme Kaninchen, das er auf dieser Wiese vor ein paar Jahren gefangen und mit nach Hause gebracht hatte. Seine Mutter war entsetzt gewesen. Das Tier hatte tatsächlich eine Krankheit namens Myxomatose gehabt und war kurz darauf verstorben. Seither waren Haustiere kein Thema mehr gewesen.
***
Um achtzehn Uhr, zur Abendbrotzeit, stieg der Junge vom Rad und trug es in den Fahrradkeller des Hauses. Mutter würde sicher schon mit dem Essen auf ihn warten. Er hatte sich mit Jan für die Sommerferienzeit verabredet, wenn er wieder aus Klingelbach zurück sein würde. Sie wollten telefonieren, aber der Junge war sich nicht sicher, ob Jan anrufen oder ob Jans Vater ihn ans Telefon holen würde. Jan durfte nicht alleine telefonieren und der strenge Vater hatte dem Jungen einmal zwanzig Pfennig abgeknöpft, weil er mit seiner Mutter telefonieren wollte.
Als er die Treppe hinauf ging, kam ihm Petra entgegen. Sie trug den Müll hinunter und grüßte ihn freundlich. Immer wenn der Junge sie sah, bekam er ein schlechtes Gewissen. Es war zwar schon fünf Jahre her und Petra war damals noch ganz klein gewesen. Sicher erinnerte sie sich schon längst nicht mehr an den Vorfall, den sie lächelte ihn immer mit großen Augen an, wenn sie ihn traf. Er hoffte zumindest, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte. Er selbst dachte fast jede Woche einmal daran, wie er die kleine Petra auf der Wiese vor ihrem Mietshaus gesehen hatte. Sie saß auf ihrem Dreirad und biss gerade in eine Rosinenschnecke, als er mit seinem Fußball unterm Arm in die Wohnanlage kam. Er erinnerte sich, wie neidisch er auf das kleine Mädchen mit ihrer Süßigkeit war. Er hätte auch gerne etwas Süßes gegessen, aber seine Mutter kam erst später nach Hause. Etwa zehn Meter von dem ahnungslosen Mädchen, das ganz alleine auf der Wiese seine Rosinenschnecke aß, legte er seinen Fußball auf den Rasen. Ob er wohl mit einem gezielt gezirkelten Schuss das Mädchen treffen konnte?
Bevor er noch länger darüber nachgedacht hatte, flog der Ball schon in ihre Richtung. Er sprang ein paar Mal auf und traf den Lenker des Dreirads. Durch die plötzliche Erschütterung fiel dem Kind die Rosinenschnecke aus der Hand und landete im Dreck des Fußwegs. Die Kleine brauchte eine Weile, um ihr Unglück zu begreifen, und weinte dann jämmerlich. Der Junge hatte es gleich begriffen und sich umgedreht. Er war schon weit weg, als endlich die Mutter der kleinen Petra aus dem Haus kam, um ihr Kind zu trösten. Sicher hatte die Kleine die böse Geschichte vergessen, aber ihm brannte die Scham im Gesicht, wenn er daran zurück dachte. Er hatte nie jemandem von der Sache erzählt, aber mit seinen Erinnerungen büßte er diesen Fehler tausendfach.
„Wo bist du denn gewesen?“ Seine Mutter riss ihn aus allen Gedanken. Sie hatte ihn wohl die Treppe heraufkommen gehört und die Wohnungstür geöffnet.
„Der Zirkus ist in der Stadt“, antwortete der Junge.
„Ach, der Zirkus“, sagte seine Mutter ärgerlich. „Du bist doch viel zu alt für solche Sachen. Hast du denn schon gepackt? Du bist für drei Wochen weg!“
„Das habe ich doch in nullkommanix erledigt. Kann ich nachher noch Fernsehen gucken?“
„Ich glaube, du spinnst. Diese Zirkusleute setzen dir doch nur dumme Ideen in den Kopf. Setz dich erst mal und iss was!“
Der Junge zog die Schuhe aus und setzte sich an den Esstisch. Er schmierte sich zwei Schreiben Brot und belegte sie mit Bierschinken. Seine Mutter hantierte derweil stumm in der Küche und im Badezimmer, wo noch Wäsche zum Trocknen hing.
Nach dem Abendbrot ging er in sein Zimmer und setzte sich auf seinen Lesesessel. Der Junge sah sich in seinem Zimmer um. An den Wänden die Poster von James Dean und King Kong aus der „Bravo“, dazu diverse Rockbands, die aber häufig wechselten. An einem Nagel baumelten auch die ungenutzten Boxhandschuhe eines Bekannten seiner Mutter, der ein paar Monate zu Besuch gekommen war. Über seinem Bett standen in einem Holzregal lange Reihen mit Kinderbüchern und neueren Erwerbungen. Jules Verne und andere Science Fiction, Drei Fragezeichen und Enid Blyton. In einer Ecke saßen seine Lieblingsteddys, mit denen er natürlich nicht mehr spielte, aber dennoch gelegentlich für einen inneren Dialog nutzte, wenn es ihm nicht gut ging. Sie verstanden den Wahnsinn der Erwachsenenwelt noch am besten.
Auf seinem Schreibtisch, unter einem Stapel Comichefte und Kritzeleien verborgen, sah er sein Briefmarkenalbum. Da er heute sowieso nicht „Mit Schirm, Charme und Melone“ sehen durfte, konnte er sich wenigstens die schönen Marken anschauen. Manche Marken waren aus fernen Ländern wie Argentinien oder Südafrika, dann stellte er sich vor, wie es in diesen Ländern aussehen mochte. Oder welche Abenteuer man erleben konnte. Manche Marken waren aus uralter Zeit, als es noch Kaiser und Kalifen gegeben hat. Sein Urgroßvater väterlicherseits war als Kolonialoffizier in Afrika gewesen, genauer gesagt in Kamerun. Auf bräunlichen alten Fotos sah man ihn mit einem Tropenhelm inmitten von farbigen Menschen stehen. Im Wohnzimmer hing das Fell einer Gazelle, die der Urgroßvater selbst erlegt hatte. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass vor dem Familiensitz, der längst in Schutt und Asche gefallen war, zwei gewaltige Elefantenschädel das Portal flankiert hätten, und dass am Wochenende die afrikanische Sammlung für neugierige Besucher geöffnet gewesen sei. Vor dem Krieg war ja kaum ein Mensch aus seinem Land heraus gekommen und so hatte der Urgroßvater, der später an den Folgen der Malaria gestorben war, immer viel zu berichten gehabt.
Seine Mutter stand mit einem Stapel Unterwäsche in seiner Zimmertür.
„Hast du immer noch nicht mit dem Packen angefangen? Jetzt wird’s aber Zeit!“
Sie legte den Wäschestapel auf den Stuhl am Schreibtisch und öffnete seinen Kleiderschrank.
Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und zog den alten braunen Kunstlederkoffer herunter, der auf dem Schrank lag. Sie legte ihn geöffnet auf das Bett und machte eine ironische Geste der Aufforderung. „Und zwar heute noch, Monsieur!“
„Ja, Mutter“, sagte der Junge resigniert. Du hast gewonnen, du hast wie immer Recht, dachte er. Aber du solltest dich fragen, was du gewonnen hast.

Rheinkind, Kapitel 6

Die Sonne schien und der Junge ging hinaus auf den Hof. Eine Weile schoss er einen alten Gummiball gegen die Garage. Wenn er aus Versehen die Holztür des Hühnerverschlags traf, gab es aufgeregtes Gegacker aus dem Dunkel. Dann schlenderte er hinaus auf die Straße. Wie immer war nichts los. Seine Großmutter bügelte und legte Wäsche zusammen, sein Großvater war wie jeden Nachmittag in der Dorfkneipe auf der Hauptstraße. Meistens ging er um drei Uhr, nach seiner Mittagsruhe auf dem Sofa, ins Gasthaus und kam gegen fünf Uhr wieder zurück. Oft saß er dann auf seinem Sessel und murmelte vor sich hin. Irgendetwas schien ihn aufgeregt zu haben, manchmal war es Politik und er schimpfte auf einen Politiker oder eine Partei.
Er ging die Straße in Richtung Bach entlang, als er den neuen Nachbarn im Garten sah. Der Junge sah den Mann in seinem fein gerippten weißen Unterhemd nur von hinten, aber er erkannte ihn an seiner Statur und seinen glatt zurück gekämmten Haaren.
„Guten Tag, Herr Sperber.“
Der Mann drehte sich hastig um und lächelte dann. „Ach, du bist es, Junge. Hast du Schulferien?“
„Ja, ich bin drei Wochen hier. Den Rest bin ich bei meiner Mutter zu Hause.“
Interessiert trat der Mann näher. „Wann kommt dich denn deine Mutter besuchen?“
„Immer am Wochenende. Übermorgen kommt sie wieder und bleibt bis Sonntagabend.“
„Na, dann komme ich vielleicht am Sonntag mal bei euch vorbei.“
Der Junge freute sich. Endlich würde es etwas Abwechslung in den Ferien geben! „Das fände ich super“, sagte er ganz ehrlich.
Der Mann lachte. „Dann können mir deine Großeltern sicher auch noch ein paar Tipps geben, wie man mit diesem harten Boden hier fertig wird.“
Der Junge sah auf das lange Werkzeug in den Händen des Mannes. „Was ist das eigentlich, was sie da haben?“
„Och, das ist eine Sense. Die habe ich im Schuppen hinter dem Haus gefunden. Damit macht man Heu. Ich versuche, den Rasen hier ein bisschen zu stutzen.“
„Wir haben so etwas gar nicht“, sagte der Junge.
„Ihr habt ja auch keinen Rasen. Bei euch wachsen nur nützliche Sachen, deine Großeltern sind sehr vernünftige Leute.“
Der Junge kratzte sich verlegen am Kopf. Ihn beschämte der Garten immer ein wenig, denn Leute mit Geld hatten Gartenarbeit nicht nötig. Manche hatten nicht nur einen großen Garten mit eigenem Swimming-Pool, sondern sogar einen Gärtner. Aber vielleicht kannte sich der Mann ja auch gar nicht mit solchen Dingen aus. „Hatten Sie in Berlin auch einen Garten?“
Der Mann stutzte und sah den Jungen einen Augenblick genau an. „Nein. Warum fragst du?“
„Na, weil sie sich mit Gartenarbeit nicht so richtig auskennen.“
Der Mann lachte laut. „Bist ein kluger Bursche. Gehst ja auch auf’s Gymnasium, hat dein Großvater erzählt. Nee, nee. Mit Muttererde habe ich nichts zu tun. Bin früher zur See gefahren, weißt du.“
„Sie waren Matrose?“
Der Mann zeigte nur auf seinen Oberarm. „Siehst du diese Tätowierung? Das ist ein Stinktier. Habe ich mir in Montevideo stechen lassen.“
„Wo liegt das?“
„Das ist in Südamerika. Ich habe die ganze Welt gesehen. Yokohama, San Francisco, Kapstadt.“
Der Junge staunte ihn nur an und konnte nichts mehr sagen. Der neue Nachbar hatte was zu erzählen. Er wäre am liebsten über den Gartenzaun geklettert.
Der Mann bemerkte die strahlenden Augen des Jungen und sagte: „Ich komme am Sonntag mal vorbei, dann können wir ja ein bisschen plaudern. Dann kann ich euch von der großen weiten Welt erzählen.“
„Das wäre echt total klasse“, rief der Junge und rannte aufgeregt nach Hause. Endlich wäre mehr los als Abenteuerromane und alte Spielfilme im Fernsehen.
***
Es war Sonntagnachmittag und der Junge saß an seinem Platz am Fenster. Er spielte mit seinen Soldaten auf dem Tisch. Deutsche gegen Russen. Die Russen hatten sich hinter einem Stapel alter Taschenbücher verschanzt und die Deutschen warfen ein paar Handgranaten, bevor sie zum Sturmangriff übergingen. Seine Lieblingsfigur war der Kommandant der deutschen Infanterie aus dem Zweiten Weltkrieg. Er dachte an seinen toten Großvater, der 1943 in Russland als Stabsfeldwebel gefallen war. „Gefallen“ – ein komisches Wort. Aber als er seine Mutter danach gefragt hatte, konnte sie es ihm auch nicht erklären. Sie hatte ihn aber gebeten, niemand anderem solche Fragen zu stellen. Auf den alten Bildern, die seine Mutter im Wohnungsflur aufgehängt hatte, trug der Großvater auch so eine Schirmmütze und eine graue Uniform wie die Spielfigur. Die Figur hatte eine Pistole in der Hand und zielte gerade nach vorne. Sie trug ein Fernglas, eine Trinkflasche und eine kleine Umhängetasche, dazu weite Reiterhosen und hohe Stiefel. Die Figur war 5,5 Zentimeter hoch, der Maßstab 1:32. Das entsprach 1,76 Meter in der Wirklichkeit. Wie groß wohl sein Großvater einmal gewesen war? Niemand von seiner Familie hatte je sein Grab gesehen, falls es ein solches überhaupt gab.
Endlich sah er Herrn Sperber, der gerade von der Straße in den offenen Hof spazierte. Er stand von seinem Platz auf und ging zur Treppe. Da klingelte es auch schon an der Haustür. Vorsichtig schlich er die Stufen hinunter und belauschte das Begrüßungsritual der Erwachsenen. Er wartete noch ein Weilchen, bis sich die Stimmen in Richtung Wohnzimmer verzogen hatten. Dann kam er langsam herunter.
Auf dem Wohnzimmertisch lag eine weiße Tischdecke und auf dieser Decke standen ein leuchtend roter Erdbeerkuchen und ein leuchtend gelber Käsekuchen. Die kleinen Kuchenteller hatten einen gewellten Rand und ein Blumenmuster. Als der Junge das Zimmer betrat, saßen die Männer schon am Tisch. Herr Sperber trug ein weißes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen, aber ohne Schlips. Auch der Großvater und sein jüngerer Bruder Ferdinand trugen saubere Sonntagshemden, hatten sich aber keinen Schlips umgebunden. Einen Schlips trugen die Männer im Dorf eigentlich nur bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen.
Sein Großonkel Ferdinand war höchstens ein Meter sechzig groß und seine Frau war noch kleiner als er. Auf einem Ohr war er taub, er war als Flakhelfer im Krieg gewesen, und hatte außerdem drei Fingerkuppen seiner rechten Hand verloren. Er war sanft und freundlich, nie hatte der Junge ihn böse oder wütend erlebt.
Seine Mutter stand mit Ferdinands Frau am Fenster und sie plauderten. Die Frauen lasen reihum die Illustrierten meiner Großmutter, die neben der Tageszeitung des Großvaters einen eigenen Papierstapel in der Küche bildeten: Frau im Spiegel, Neue Post und Tina. Die weite Welt des Adels und der Prominenz, dazu Rezepte und Schnittmuster für die Hausfrau.
Die Großmutter kam mit der Kaffeekanne herein. Sie trug ein dunkelbraunes gemustertes Kleid und ausnahmsweise keine Kittelschürze. Das lange hellgraue Haar hatte sie wie immer zu einem strengen Dutt zusammengerollt. Außer ihrem schlichten Ehering trug sie keinen Schmuck und sie roch wie immer nach Kernseife.
Sie schenkte zuerst Herrn Sperber Kaffee in seine blütenweiße Tasse, dann dem Großvater und dann allen anderen, die sich inzwischen an den Tisch gesetzt hatten. Erst dann setzte sie sich selbst an den feierlich gedeckten Tisch und ermunterte die anderen, doch den Kuchen zu probieren.
Der Junge durfte schon Kaffee trinken wie die Erwachsenen, allerdings nicht mehr als eine Tasse. Er aß ein Stück von Großmutters selbstgemachtem Erdbeerkuchen und dann ein Stück vom Käsekuchen, den sie gestern beim Bäcker gekauft hatte. Die Erwachsenen unterhielten sich, aber er hörte nicht zu. Erst als Herr Sperber Geschichten aus seiner alten Berliner Heimat erzählte, wurde er wieder aufmerksam. Der neue Nachbar hatte bei AEG-Telefunken gearbeitet, einem riesigen Unternehmen mit weit über hunderttausend Mitarbeitern. Dort wurde vom Fernseher bis zum Kraftwerk alles gebaut, was der Junge von der Technik-Dauermarkenserie kannte.
„Geht alles den Bach runter, was für eine Schande. Sogar das Telefunken-Hochhaus in der Nähe vom Bahnhof Zoo mussten sie verkaufen. Die AEG ist doch Berliner Urgestein. Aber die Konzernleitung ist völlig unfähig, die machen jedes Jahr Verluste. Und ständig werden Leute entlassen und die ganze Industrie will doch sowieso in den Westen, Berlin-Zulage hin oder her.“
Der Großvater kannte die Berlin-Zulage nicht und fragte nach. Die Mutter wollte mehr vom Bahnhof Zoo wissen. Herr Sperber lächelte meine Mutter an und genoss die Aufmerksamkeit der Runde.
„Berlin-Zulage ist eine steuerfreie Zitterprämie für die Leute, die in West-Berlin arbeiten. Und die Industrie kriegt immer fette Subventionen, damit sie der alten Reichshauptstadt nicht den Rücken kehrt.“ Dann sah er meine Mutter direkt an. „Und am Bahnhof Zoo sind die ganzen Drogensüchtigen und andere Leute, das darf man vor ihrem Kind gar nicht laut aussprechen. Ich kann verstehen, dass sie sich Sorgen machen.“ Seine Stimme wurde am Ende etwas leiser, so als wolle er kondolieren.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ war im vergangenen Jahr als Serie im „Stern“ und danach als Buch erschienen. Jeder, der ein Kind von vierzehn Jahren oder älter hatte, war zutiefst besorgt, der eigene Nachwuchs könne heroinabhängig und kriminell werden, um schließlich als namenloses Opfer in der Drogenstatistik zu landen.
„Mein Junge fährt nämlich im nächsten Schuljahr auf Klassenfahrt nach Berlin“, sagte seine Mutter. „Und man hört ja so viel in letzter Zeit.“
„Nach Berlin?“ fragte Herr Sperber laut. „Menschenskind, das ist doch eine tolle Reise. Dann siehst du mal den Ku’damm.“
In den letzten Wochen vor den Ferien war die Klassenfahrt besprochen worden. Der Lehrer hatte gesagt, es gäbe von staatlicher Seite Zuschüsse zu den Reisekosten, wenn man an ein paar Weiterbildungsveranstaltungen teilnehmen würde. Das hatte der Junge nicht verstanden, aber es war aufregend genug, ohne Eltern in eine große Stadt zu fahren. Eine ganze Woche lang!
„Aber ist es denn nicht gefährlich?“ fragte seine Mutter zweifelnd.
„Ach was. Tagsüber haben die Kinder doch Programm, da sind sie mit ihren Lehrern unterwegs. Und nachts liegen die in ihren Betten, wo sie hingehören. Das Berliner Nachtleben wird wohl ohne dich stattfinden müssen.“
Dann lachte er den Jungen an und nahm sich noch ein Stück Erdbeerkuchen.
***
Am nächsten Tag durfte der Junge Herrn Sperber in seinem Haus besuchen. Seine Mutter war am Abend zuvor wieder nach Ingelheim zurückgefahren, hatte ihm aber lächelnd erlaubt, den Nachbarn zu treffen. Womöglich hatte der lustige Mann aus Berlin bei ihr einen sympathischen Eindruck hinterlassen. Schließlich war sie schon lange geschieden und auch Herr Sperber hatte nichts von einer Ehefrau oder Partnerin erzählt. Jedenfalls trug er keinen Ring, was auch der Großmutter im Anschluss an das Kaffeekränzchen noch eine Bemerkung wert gewesen war.
Als er die Stufen zur Eingangstür hinaufging, freute er sich, seinen Großeltern für eine Weile entkommen zu sein. Ihr Alltag bestand aus unzähligen winzigen Meinungsverschiedenheiten, die sich gelegentlich aufschaukelten. Die Großmutter hörte dann gar nicht mehr auf zu lamentieren und der Großvater schwieg mürrisch in seinem Sessel, bis er schließlich für eine Stunde oder zwei ins Gasthaus ging. Aber immerhin hatte er hier in den Ferien Zeit zu lesen. Er hatte das Buch aus dem alten Haus angefangen, es spielte weit weg in Südamerika und alle Leute waren ganz anders als in seinem Leben. Vielleicht würde er auch eine Geschichte schreiben, natürlich kein ganzes Buch, aber immerhin eine Geschichte voller exotischer Orte und Abenteuer.
Hermann Sperber öffnete die Tür. Diesmal trug er eine Jeans und ein weißes T-Shirt. Statt polierter Lederhalbschuhe hatte er Filzpantoffeln an den Füßen.
„Hereinspaziert, hereinspaziert“, rief er fröhlich. Mit einer einladenden Geste deutete er in Richtung Wohnzimmer.
Der neue Nachbar hatte sich bereits mit Sofa, Sessel und Schrank wohnlich eingerichtet. Im Zentrum des Wohnzimmerschranks sah der Junge einen nagelneuen Farbfernseher. Und auf dem Couchtisch lag eine Fernbedienung. Seine Großeltern hatten noch ein altmodisches Schwarz-Weiß-Gerät aus Holzimitat, bei dem man jedes Mal aufstehen musste, wenn man zwischen den Sendern wechseln wollte.
„Das ist ja super“, staunte der Junge, als er ein chinesisches Rollbild an der Wand entdeckte. Es zeigte einige blasse Hügel im Nebel und eine Brücke, die gerade ein Mann mit einem Bündel auf dem Rücken überquerte.
„Gefällt es dir? Das habe ich in Hongkong gekauft. Da bin ich mal gewesen.“
„Echt?“ Mehr viel dem Jungen nicht ein. Das ganze Wohnzimmer wimmelte von bunten Federn, winzigen Sombreros und gerahmten Fotografien.
„Früher habe ich als Steward auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet. Über zehn Jahre lang. Das sieht man was von der Welt.“
Der Junge setzte sich auf das Sofa, der Mann auf den Sessel.
Dann fuhr er fort: „Im Hafen von Hongkong habe ich mal eine Suppe mit Stäbchen gegessen, da haben die Chinesen aber gestaunt.“
„Wie geht das denn?“ fragte der Junge neugierig.
„Man muss nur zuschauen, wie es die Asiaten machen. Das Gemüse und das Fleisch fischt man mit den Essstäbchen heraus, die Brühe schlürft man. Und man darf dabei so viel Lärm machen wie man will. Die Kellner haben ganz große Augen gemacht, als ich Suppe bestellt habe und mir vom Tresen ein paar Stäbchen genommen habe.“
„Wo waren Sie denn noch?“
„Ich war zum Beispiel in San Francisco. Das ist in Amerika.“
„Ich weiß.“
„Ja, deine Mutter sagt, du wärst ein kluger Junge.“ Und als der Junge nicht antwortete, sagte er: „In San Francisco gibt es auch ein Chinesenviertel, selbst in Yokohama in Japan gibt es so ein Viertel. Hast du schon mal chinesisch gegessen?“
„Nein. Wie schmeckt das denn?“
„Da musst du aufpassen. Die Chinesen essen alles: Hunde, Quallen, Insekten. Aber es gibt viele leckere Gerichte mit Huhn und Reis.“
„Was haben Sie denn auf dem Schiff den ganzen Tag gearbeitet?“ wollte der Junge wissen.
Die Miene des Mannes verdüsterte sich. Er blickte nach unten, als er weiter sprach: „Ich war für die Passagiere der ersten Klasse zuständig, lauter feine Leute, weißt du. Millionäre und Millionärswitwen. Ein Steward kümmert sich um das Wohl der Gäste an Bord. Und den feinen Damen bin ich immer gerne zu Diensten gewesen.“
Der Junge bemerkte den Sarkasmus nicht und fragte: „Ist das so was wie Kellner?“
Sperber lachte kurz auf. „Da hast du vollkommen Recht. Ein Kellner, ein Diener …“
Der Mann hatte zu schwitzen begonnen und der Junge roch es.
„Was macht denn dein Vater eigentlich?“ Herr Sperber wechselte das Thema.
„Der ist gerade in Indien. Der ist nämlich Bauingenieur.“
„Das ist ja toll“, sagte der Nachbar. „Vermisst du denn deinen Vater nicht?“
„Doch“, antwortete der Junge. Mehr wollte er nicht sagen. Ein Weltreisender wie Herr Sperber beeindruckte ihn, aber er sprach nicht gerne über seinen Vater. Er war schon lange weg, aber er schrieb regelmäßig und sicher würde er ihn wieder sehen, wenn der Auftrag im Norden Indiens ausgeführt worden war.
„Mensch, und du passt ganz alleine auf deine Mutter auf?“ Herr Sperber hatte sich neugierig nach vorne gebeugt und wartete auf die Antwort.
„Die kann auf sich alleine aufpassen.“

Rheinkind, Kapitel 7

An einem heißen Tag Ende Juli war es soweit: Seine Mutter holte ihn wieder ab. Endlich ging es wieder nach Hause. Am Ende hatte er sogar die Illustrierten seiner Großmutter gelesen. Das Buch von Marquez hatte er ausgelesen und er hatte sogar selbst eine Geschichte geschrieben, die er nach den Sommerferien der Schülerzeitungsredaktion anbieten wollte. In der Geschichte ging es um einen Jungen, der zufällig ein paar Schmugglern auf die Schliche kommt und sie verfolgt. Er fliegt heimlich im Frachtraum eines Flugzeugs in ein fremdes Land, wird von den Ganoven gefangen genommen, kann sich aber selbst befreien und die Polizei alarmieren. Und das alles auf einer einzigen DIN A 4-Seite!
Die Einsamkeit des Lesens und Schreibens gefiel ihm. Der Junge hatte ein klares Bild von seiner Zukunft: Einmal hatte er von der Straße aus einen älteren Mann gesehen, der in einer hell erleuchteten Bibliothek stand. So wollte er auch einmal in seiner Bibliothek stehen, wenn er groß war. Wie man in dieses Leben hinein kam, wie man zu so einem großen Haus und so vielen Büchern kommen konnte, wusste der Junge nicht. Zwischen ihm und seiner fernen Zukunft eröffnete sich ein unbekanntes Land, dessen Ausdehnung er von seinem Standpunkt aus nicht einschätzen konnte. Einige seiner Vorstellungen hatte er auf kleine Zettel geschrieben und ihn Pappröhren gesteckt. Diese Röhren, es waren alte Toilettenpapierrollen, klebte er mit Farbband zu und schrieb ein Datum darauf. Die meisten sollten am 1. Januar 2000 geöffnet werden. So lange wollte er sie in seinem Schrank aufbewahren. Er stellte sich vor, dass jeder seinen eigenen Roboterdiener hat, der sich um alles kümmert, und dass man sich hauptsächlich fliegend fortbewegen würde.
Als dann der Renault-Kastenwagen in den Hof einbog, war seine Enttäuschung groß: Die Großmutter väterlicherseits, Oma Charlotte, saß auf dem Beifahrersitz. Sie hatte dunkelbraun gefärbtes und hoch toupiertes Haar, um den Hals trug sie eine Goldkette.
Sie blieb im Wagen sitzen, während die Mutter kurz ausstieg, um dem Jungen beim Einladen seines Koffers zu helfen. Die Großeltern standen an der Haustür und winkten zum Abschied.
Der Junge setzte sich auf die Rückbank und begrüßte seine andere Großmutter.
„Guten Tag, mein Junge. Geht es dir gut?“
„Ja.“
„War es denn schön?“
„Ja.“
„Nun erzähl doch mal deiner Oma, was du alles erlebt hast.“
„Wir haben einen neuen Nachbarn, Herr Sperber. Der hat die ganze Welt gesehen, der ist auf einem Schiff über alle Meere gefahren.“ Der Junge lächelte beim Erzählen.
„Wer weiß, was er einem kleinen Jungen wie dir alles erzählt hat“, sagte sie mit tadelndem Tonfall und blickte seine Mutter von der Seite an.
Die Mutter sagte, ohne den Blick von der Landstraße zu nehmen: „Herr Sperber ist aus Berlin, er richtet sich gerade in seinem neuen Haus ein.“
„Berlin, das kennt man“, sagte die Großmutter. „Watt denn, Seife eene Mark? Nee, lieber wasch ick ma’ nich“, äffte sie den Berliner Tonfall nach.
Sie hatte in Berlin ihren Mann kennengelernt, der später in Russland gefallen war, wie sie es ausdrückte. Damals hatte sie in einem kleinen Süßwarenladen gearbeitet, geboren war sie in einem winzigen Marktflecken namens Bublitz in Hinterpommern. Als Offizierswitwe musste sie nicht arbeiten und lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Diez an der Lahn, mit Blick auf das dortige Gefängnis. Ihr Bruder arbeitete in Bonn in einem Ministerium der Bundesregierung – ob als Pförtner oder Staatssekretär hatte sie nie erwähnt. Ihre Schwester hatte einen Gerichtspräsidenten in Frankfurt geheiratet und dann gab es noch die Zwillinge in der DDR, denen sie immer Päckchen mit Kaffee und Schokolade schicken musste. Einer war Musiker in einem Orchester und spielte sieben Instrumente, der andere war ein Taugenichts, der sich als Korbmacher und Tagelöhner durchschlug. Sie sprach gerne von ihrer Familie. Aus ihren beiden Söhnen war schließlich, trotz der schwierigen Zeiten, etwas geworden. Einer arbeitete als Rechtsanwalt in Hamburg, und einer als Bauingenieur für eine renommierte Firma in aller Welt. Sie hatte drei Enkelkinder: Den Jungen und seine beiden Cousinen in Hamburg. Und während sie sprach, verbreitete sich der Geruch ihres Parfums im ganzen Wagen: Tosca.
***
Sein Schulfreund Michael war noch mit seiner Familie in Italien, wahrscheinlich würde er genauso blass zurückkommen, wie er vor zwei Wochen hingefahren war. Julian Weitzel war aber schon aus Spanien zurück, sicher voller Sommersprossen und großer Pläne für die Ferienzeit.
„Wie wäre es, wenn wir ein paar Tage am Rhein zelten?“
„Au ja!“
Eine Superidee. Die Mütter der beiden Jungs telefonierten noch kurz, dann packte der Junge seine Tasche. Diesmal würde er nur Dinge mitnehmen, die man wirklich brauchen konnte. Ein Taschenmesser zum Beispiel, ein Feuerzeug und ein Stück Schnur.
Am nächsten Morgen trafen sie sich am Rhein. Der Fluss und der Himmel lagen grau im Dunst, an den Hafenanlagen war noch nichts los. Kein Kran bewegte sich, kein Kies wurde verladen, nichts.
Julian war braun gebrannt, seine Zähne leuchteten geradezu im Gesicht, als er sprach: „Wir können an der DLRG-Station auf der Wiese übernachten. Dort gibt es auch eine Feuerstelle, die wir benutzen können.“
Auf seinem Gepäckträger hatte er das kleine Zwei-Mann-Zelt zusammen gerollt, in den Satteltaschen waren ein paar Klamotten und Konserven.
Sie fuhren zusammen am Rhein entlang. Wie immer genoss der Junge den Augenblick. Das gewaltige Rauschen, wenn ein Windstoß in die Bäume fuhr, das leise Gemurmel eines unsichtbaren Bächleins zwischen Grasbüscheln, das Summen und Brummen der Insektenwelt auf den Wiesen. Der Auwald bestand aus Weiden, Schwarzerlen und Pappeln, die das Ufer säumten. Eichen und Ulmen standen dahinter, manche Bäume waren hunderte von Jahren alt. Vor einigen Jahren hatte das rätselhafte Ulmensterben begonnen, nun fuhren sie durch ganze Alleen toter Baumriesen. Es hieß, ein Pilz, der aus Asien eingeschleppt worden sei, würde die uralten Bäume absterben lassen. Aber darunter konnte der Junge sich nicht viel vorstellen.
Als sie an der DLRG-Station angekommen waren, fanden sie das Blockhaus verschlossen vor. An Wochentagen war selten jemand hier unten am Rhein und den beiden Jungen war es nur Recht. Sie legten die Räder ins Gras und begannen, das kleine Zelt aufzubauen. Ein wenig Feuerholz war unter dem Vordach der Hütte aufgestapelt, Julian hatte einen zerbeulten Aluminiumtopf dabei, in dem sie sich Dosen-Ravioli warm machen würden. Für den ersten Tag hatten sie einen Stapel von Wurstbroten, die von der Großmutter sorgfältig geschmiert und einzeln in Klarsichtfolie verpackt waren.
Gegen Mittag begann es zu regnen. Die beiden Jungs saßen in ihrem Zelt und hörten die Tropfen gegen die Segeltuchbahnen trommeln.
„Was macht eigentlich dein Vater?“ fragte ihn Julian unvermittelt in das Schweigen hinein.
„Der ist immer noch in Indien, aber gegen Jahresende soll das Kraftwerk fertig sein. Er hat mir einen Brief geschrieben.“
Tatsächlich hatte er einen zweiseitigen Brief von seinem Vater erhalten, mit einer riesigen bunten indischen Briefmarke darauf. Er hatte viel zu tun, aber es ging ihm gut. Er vermisste seinen Sohn und vor dem Einschlafen hatte der Junge ein paar Minuten weinen müssen. Er wusste gar nicht, ob er glücklich oder traurig gewesen war. Aber natürlich würde er seinem Freund niemals ein solches Geheimnis anvertrauen. Bei nächster Gelegenheit würden seine heimlichen Gedanken Gegenstand von Hohn und Spott sein.
„Weißt du noch, wie unsere Väter die Station gebaut haben?“ fragte Julian.
Jetzt hatten sie ein schönes Thema für den verregneten Nachmittag. Eines Tages hatten die Männer, die ehrenamtlich für die Sicherheit der Schwimmer und Segler auf dem Rhein sorgten, den Beschluss gefasst, man müsse ein Vereinsheim haben. Schließlich mussten die Rettungsboote im Winter untergebracht werden und ein eigener Versammlungsraum wäre ja bei schlechtem Wetter auch sehr nützlich. Das Problem war, dass der Bau von Gebäuden am Rheinufer nicht genehmigt werden durfte. Aber Verbote waren Zwangsmittel der Obrigkeit und mit der Obrigkeit hatten es die Rheinhessen nicht so. Das ist das Erbe der Geschichte: Die Rheinhessen wurden immer von anderen geknechtet und durften sich nie selbst regieren. Also verhielten sie sich zu Regierungen grundsätzlich wie die Gallier zu den Römern. Erst in einem repressiven Milieu fühlte sich der Rheinhesse wirklich wohl, weil es seine Leidenschaft zur Rebellion entfachte.
Was machten also Männer wie ihre Väter 1975? Sie gossen in aller Heimlichkeit ein Betonfundament und deckten es mit Ästen ab. In einer sogenannten Nacht- und Nebelaktion wurde am darauf folgenden Wochenende eine Rettungsstation an den Rhein gebaut. Die Behörden kamen erst Jahre später dahinter. Und auch hier gab es eine typisch rheinhessische Lösung: Der Bürgermeister akzeptierte die Blockhütte stillschweigend, zum Ausgleich musste die DLRG zwei Mal die Woche Aufsicht im örtlichen Freibad führen, um so der Stadtverwaltung Personalkosten zu sparen. So waren alle zufrieden und die Station war auf keiner Landkarte verzeichnet.
Zur Abendbrotzeit, es war noch heller Tag, kam ein VW Jetta den Uferweg entlang. Julian erkannte den Wagen seiner Mutter.
Sie stieg aus und begrüßte die Jungs.
„Na, welche Abenteuer habt ihr denn schon erlebt?“
„Och, es hat ja geregnet. Aber morgen wird es bestimmt besser werden.“ Julian war ein unverbesserlicher Optimist. Der Himmel war auch nach dem Regen grau geblieben.
„Seht mal, was ich euch mitgebracht habe“, sagte die Mutter und öffnete die Beifahrertür.
Sie holte einen viereckigen flachen Pappkarton aus dem Wagen. Auf dem Deckel sah man ein grinsendes Pferd auf einer Lokomotive, darüber die Aufschrift „Pony Express“.
„Was ist das?“ fragte der Junge.
„Das ist Pizza“, rief Julian laut und öffnete den Karton.
Die Pizza war mit Salami, Schinken und Pilzen belegt. Sie war noch warm und schmeckte köstlich. Während die Jungs gierig die Pizza in sich hinein schlangen, erzählte die Mutter, dass es seit neuestem am Ingelheimer Bahnhof eine Gaststätte gäbe, die ihre Pizza auch außer Haus verkaufte.
Als sie zwei Stunden später im Zelt lagen, konnte der Junge lange Zeit nicht einschlafen. Er wusste, dass niemand von seiner Familie ihn hier besuchen würde. Er wollte es auch gar nicht, aber trotzdem fehlten ihm seine Eltern. Die Mutter von Julian war mit dieser köstlichen Pizza zu ihnen gefahren. Er hatte erst ein einziges Mal Pizza in seinem Leben gegessen, es war letztes Jahr am Mainzer Bahnhof gewesen, als sie Wandertag hatten. Er hatte keine gute Erinnerung an den Tag. Seine Klasse hatte den Mainzer Dom besucht und der Junge hatte seine Schulkameraden mit Weihwasser bespritzt. Er wusste selbst nicht warum, aber manchmal machte er mit Oliver oder Julian einfach Blödsinn. Die Lehrerin, sie unterrichtete katholische Religion und Sport, gab ihm eine Ohrfeige und damit war für alle der Spaß vorbei. Er war sich schmutzig und einsam vorgekommen, als die Klasse mit der Regionalbahn wieder zurück nach Ingelheim fuhr. Aber am nächsten Tag war die Demütigung schon fast vergessen, denn die anderen Kinder sahen für einen Tag in ihm den Rebellen, den man heimlich bewunderte.
***
Am nächsten Tag war es warm, aber der Nieselregen hörte praktisch nie auf. An Feuer machen war nicht zu denken. Sie öffneten eine Büchse Corned Beef zum Frühstück und aßen dazu Brot. Danach erkundeten sie die Auwälder rund um die Station. Sie bahnten sich mühsam einen Weg durch Gestrüpp, Lianen und Matschpfützen. Die Mücken sirrten in ihren Ohren wie Tinnitus. Etwas mehr als hundert Meter hinter der Hütte endete der Wald. Hier war der Damm und auf der anderen Seite des Damms waren die Obst- und Spargelfelder der Ingelheimer Bauern. Nicht weit entfernt waren der Baggersee und die Autobahn.
Der Junge erinnerte sich, wie er früher mit seinen alten Freunden durch diese Felder gefahren war. Am Baggersee waren die älteren Jugendlichen, sie hatten lange Haare und badeten sogar nackt. Er hätte gerne gewusst, über was für geheimnisvolle Dinge sie miteinander sprachen. Wenn er sie aus der Ferne sah, träumte er von ihrem Leben.
Stattdessen stopften sie sich mit Mirabellen voll. Den ganzen Nachmittag waren seine Freunde und er durch die Gegend gefahren. Sie hatten immer irgendwelche wichtigen Ziele, die aber eigentlich lächerlich waren. In Wirklichkeit krabbelten sie auf Schutthügeln herum, schmissen Ziegelsteine aus verwaisten Rohbauten, krochen durch Gebüsch, flüsterten, stahlen wertloses Zeug, streiften durch die ganze verlassene Welt, die man als Erwachsener nicht mehr kennt: versteckte Wiesen, Bahndämme, Ruinen, Baustellen, Industriebrachen. Wertlose menschenleere Flächen, angefüllt mit gefährlichen Räuberbanden und außerirdischen Bedrohungen, vergrabenen Schätzen und verwunschenen Höhlen.
Julian und der Junge gingen zurück zu ihrem Zelt. Der Regen war etwas stärker geworden, aber das störte sie nicht. Sie saßen unter einem Baum am Rheinufer und sahen den Schiffen zu. An Schwimmen war leider am Rhein nicht zu denken, das Wasser war viel zu schmutzig. Wenn am Wochenende die Erwachsenen an der Station waren, konnte man wenigstens mit den Rettungsbooten raus fahren.
„Wenn wir jetzt ein Boot im Wasser hätten, könnten wir rüber auf die Rheinauen fahren“, sagte Julian. Er klang etwas niedergeschlagen.
Sie hatten sich beide das Zelten am großen Fluss aufregender vorgestellt. Mehr wie bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und die Geheimnisse der Auwälder, das Nibelungengold, das sich dort verbergen könnte – das Auenland im „Herr der Ringe“, den er im Winter gelesen hatte, barg wesentlich mehr Geheimnisse als das schmale Band eines mückenverseuchten Galeriewalds.
„Ich bin schon einmal dort gewesen“, sagte der Junge. „Und ich habe sogar da drüben übernachtet.“
„Das ist nicht wahr“, Julian war ehrlich erstaunt.
„Doch. Das war vor ein paar Jahren mit meinem Vater“, begann der Junge zu erzählen. „Eines der Boote hatte einen Jet-Antrieb. Es kann also nicht mit einer Schraube auf einem Felsen oder auf Grund aufsetzen, man kann mit diesem Boot auf den Strand düsen wie im Film. Aber es gibt dort auch Tiere. Wildschweine zum Beispiel.“
„Echt?“
Die Inseln, hier Auen genannt, waren unbewohnt, aber nicht unbelebt. Im Dickicht der Auwälder verbargen sich viele Vögel, Nagetiere und sogar Rehe und Wildschweine. Am Strand lag viel Treibholz, Kieselsteine und gelegentlich auch Müll. Man konnte Graugänse, Milane und Fischreiher beobachten, seit einigen Jahren war die Insel ein Naturschutzgebiet. Das Betreten war eigentlich verboten.
„Die Insel da drüben heißt Mariannenaue. Es ist die größte Rheininsel und ungefähr vier Kilometer lang. Da gibt es viel Platz zum Zelten. Mein Vater und ich hatten auch so ein kleines Wigwam wie wir. Nachdem wir es aufgebaut hatten, sind wir auf Erkundungstour gegangen, immer einen Stock in der Hand. Was ist, wenn man fremde Fußspuren entdecken würde? Aber wir haben niemanden entdeckt. Nach unserer Rückkehr plünderten wir die Kühltasche: Limonade und Wurstbrote. Gegen Abend sitze ich auf einem Ast, der über dem Strand ins Wasser ragt, und lehne am Baumstamm. Ich lese einen meiner heißgeliebten Doc-Savage-Groschenromane, diesmal geht es um eine unterirdische Stadt in der Arktis, wo finstere Mächte die Weltherrschaft planen.“
Julian lachte. „Das kann ich mir gut vorstellen. War bestimmt total super. In der Nacht seid ihr die einzigen Menschen auf dieser Insel mitten im Rhein gewesen. Weit weg von jeder Stadt.“
„Ja, die Aueninseln sind total vergessen. Da findet dich niemand, wenn du mal abhauen willst.“
„Da kannst du auch gleich mit dem Wanderzirkus abhauen“, sagte Julian. Es war als Witz gedacht, aber er kratzte sich nachdenklich am Kopf. Was wäre, wenn man wirklich abhauen würde? Aber wohin? Würde man nicht über kurz oder lang am Bahnhof Zoo landen?
„Aber wie willst du hinkommen?“ fragte der Junge. „Schwimmen kannst du vergessen. Die Strömung und dann der Dreck. Meine Mutter hat es mir verboten, zum Schwimmen müssen wir ins Hallenbad.“
Julian schwieg eine Weile. „Ob früher mal jemand auf der Insel gelebt hat?“
„Es gibt dort einen leerstehenden Gutshof“, antwortete der Junge. „Und mein Vater hat mir erzählt, dass hier der Sohn und Nachfolger Karls des Großen gestorben ist. Wer weiß, was man auf dieser Insel alles finden kann.“
Und mit diesen aufregenden Gedanken verschwendeten sie einen ganzen verregneten Nachmittag.
Gegen Abend kam wieder die Mutter von Julian vorbei.
„Wollt ihr denn nicht nach Hause kommen?“ fragte sie besorgt. „In den nächsten Tagen soll es weiter regnen, haben sie in der Tagesschau gesagt.“
Die Jungs sahen sich an. Die Aussicht auf warme Mahlzeiten, Fernsehen und gemütliche Betten lockte, am Himmel hingen dunkelgraue Wolken.
Fünfzehn Minuten später hatten sie ihre Habseligkeiten in den Wagen gepackt und die Räder in den Kofferraum gelegt. Die Heckklappe ließ sich nicht ganz schließen. Die Mutter befestigte ein Seil zwischen Kofferraumdeckel und Stoßstange. Es schepperte munter, wenn sie durch ein Schlagloch auf dem Uferweg fuhren, aber kurze Zeit später stand der Junge wieder vor seinem Haus. Er freute sich, wieder in seine Höhle zurück zu kommen, in sein eigenes Reich, das ihn niemals enttäuschen konnte.
Frau Weitzel hatte ihn an der Rheinstraße herausgelassen, um direkt weiter nach Ober-Ingelheim fahren zu können. Als der Junge die Straße zu seinem Haus überquerte, sah er einen Haufen Kinder, die in einem Stapel Kisten neben der Telefonzelle herumwühlten.
Heute ist Sperrmüll, dachte der Junge. Die Leute stellten ihren Müll schon abends auf die Straße. Er durfte abends nicht mehr hinaus, um im Müll nach den besten Sachen zu suchen. Seine Mutter fand das unmöglich. Aber die Kinder von anderen Familien im Viertel durften abends hinaus, manchmal waren sogar die Väter mit dabei.
Er überquerte die Straße und näherte sich neugierig den Kindern, die ganz aufgeregt waren. Ein Kind lief mit einem Stapel Micky Maus-Hefte davon, ein anderes hatte kleine Holzhäuser im Arm.
Was war denn hier nur los?
Ein Mädchen kam ihm glücklich lächelnd entgegen. Sie hatte eine Aldi-Tüte in der Hand, aus der ein Teddy herauslugte.
War das nicht Heinrich?
Ein Junge zog einen Holzturm und ein Tor aus dem Sperrmüll.
Das war sein Western-Fort! Und seine Stofftiere! Seine Comics und seine anderen alten Spielsachen!
Hastig griff er sich die Mad-Hefte und eine hellbraune Mappe mit seinen Kinderzeichnungen.
Was war hier los?
Die plündernde Horde zog lachend weiter und er stand allein mit seinen Habseligkeiten auf dem Bürgersteig. Der Sperrmüllhaufen lag zerfleddert neben der Telefonzelle. Sicher würden sich die Männer von der Stadtreinigung wieder bei der Hausverwaltung beschweren, weil der Müll nicht ordnungsgemäß in Kisten verpackt oder mit einer Kordel zusammengebunden worden war.
Völlig verwirrt ging er zur Haustür und klingelte.
Seine Mutter stand in der Wohnungstür, als er die Treppe hinauf kam.
„Was hast du mit meinen Sachen gemacht?“ fragte der Junge wütend.
„Komm erst mal rein“, antwortete seine Mutter müde.
Sie ließ ihn eintreten.
Hinter der Tür wartete schon die Großmutter aus Diez.
„Dein Zimmer war ein richtiger Schweinestall. Ich habe es komplett aufgeräumt. Jetzt findest du wieder alles, was du suchst. Ich frage mich, wie du in einem solchen Chaos überhaupt leben konntest?“
„Aber es ist mein Chaos und mein Zimmer. Du hättest mich wenigstens fragen können, bevor du angefangen hast.“ Seine Augen glühten vor Zorn.
„Nicht in diesem Ton, junger Mann! So etwas Undankbares. Da gibt man sich so viel Mühe.“ Ihr Gesicht war zu einer Maske der Arroganz gefroren, als sie auf ihn hinab sah. So musste das Gesicht Gottes aussehen, der über den Menschen zu Gericht sitzt. Sicher hatte sie stundenlang vor dem Spiegel geübt, so hochnäsig und oberlehrerhaft über den Brillenrand zu schauen und dabei irgendwie tödlich beleidigt zu wirken. Vermutlich hatte sie die Brille überhaupt nur gekauft, um auf diese Weise über ihren Rand blicken zu können. Das Gesicht seiner Großmutter sagte ihm: Dein Unrecht ist so groß, das jedes Wort überflüssig ist. Du bist nichts und kannst froh sein, unter meiner Sonne zu leben.
„Du hast mit diesen ganzen alten Sachen doch sowieso nicht mehr gespielt. Was willst du denn noch mit dem Zeug? Und dann schleppst du die Hälfte von diesem schmutzigen und wertlosen Plunder zurück in die Wohnung, die deine Mutter und ich in den letzten Tagen tadellos von jeglichem Stäubchen befreit haben.“
Mit dem Western-Fort habe ich neulich erst gespielt. Die Häuser brauche ich zum Krieg spielen“, sagte der Junge trotzig.
„Bist du da sicher?“
Und schon war er wieder im rhetorischen Bermudadreieck seiner Großmutter gefangen. Es bestand aus den Elementen „Bist du da sicher?“, „Woher weißt du das denn?“ und „Du hast doch überhaupt keine Ahnung.“ Damit konnte sie jeden verunsichern und ihm schließlich ihren Willen aufzwingen.
„Du bist sicher müde. Ich habe dir noch ein Brot gemacht“, sagte seine Mutter beschwichtigend.
„Und dann Zähneputzen und ab in die Furzmulde!“ ergänzte seine Großmutter streng. „Du bist jetzt schon vierzehn. Da kannst du in den nächsten Ferien ruhig ein paar Wochen in irgendeinem Laden in der Stadt aushelfen. Auch bei der Weinlese kann man Geld verdienen. Dein Sparbuch wird sich freuen.“
Als er schließlich in seinem Bett lag, konnte er vor Wut nicht einschlafen. Natürlich spielte er nicht mehr mit diesen Sachen, aber es war sein persönlicher Besitz. Es war seine Entscheidung, was mit diesen Dingen geschehen würde.
Aber seine Mutter war zu schwach, um ihn zu unterstützen. Am Samstag, nach dem Mittagessen, würde sie die Großmutter an den Zug bringen. Danach hatte sie zwei Wochen Urlaub. Und sie würde sich bestimmt das ganze Wochenende betrinken. Falls das Trinken gegen solche Menschen wie ihre Ex-Schwiegermutter half, musste er Verständnis für seine Mutter haben.
Er hatte sein Zimmer gar nicht mehr wieder erkannt. Es wirkte kahl und klinisch rein. Auf seinem Schreibtisch lagen alle Stifte akkurat auf der rechten Seite der Schreibunterlage, parallel und nach Größe angeordnet. Die deprimierende Nüchternheit einer Ordnung, die auf reiner, gnadenloser und unwiderlegbarer Vernunft beruhte. Wenigstens hatte sie die Zeitkapseln mit den Botschaften für das Jahr 2000 nicht entdeckt. Er hatte sie in seinem Schulranzen versteckt. Es wunderte ihn im Nachhinein, dass seine Großmutter nicht auch den Ranzen kontrolliert und neu sortiert hatte.