Freitag, 26. Juni 2015
Rheinkind, Kapitel 3
Das Haus seiner Großeltern hatte vier Stockwerke. Im Keller waren die Waschküche, die Heizungsanlage und die Hühner. Im Erdgeschoss wohnten die Großeltern und im ersten Stock lebte eine pensionierte Lehrerin zur Miete. Das Dachgeschoss hatte der Vater des Jungen vor langer Zeit als Ferienwohnung ausgebaut. War er alleine bei seinen Großeltern, schlief er im Wohnzimmer auf dem Sofa.
Ein Zimmer des Dachgeschosses war voller Gerümpel. Hier stand noch das alte Kinderbett seiner Mutter und ihres verstorbenen Bruders. Der Schrank war voller alter Zeugnisse, Kinderbilder, gestickter Stofftaschentücher und anderem merkwürdigen Zeug aus uralter Zeit. Auf dem Holztisch vor dem kleinen Fenster saß er manchmal, wenn er allein sein wollte. Hier bastelte er an seinen Modellbaukästen. Meistens waren es Schlachtschiffe aus dem Zweiten Weltkrieg wie die „Bismarck“ oder die „Scharnhorst“, aber manchmal auch Jagdbomber oder Schützenpanzer. Von der gleichen Firma gab es Armeen in Miniaturformat, der Junge hatte die deutsche Infanterie aus beiden Weltkriegen, mal mit Pickelhaube, mal mit Stahlhelm, dazu Russen, Amerikaner, Japaner, Franzosen und Engländer. Hier konnte er sich austoben und jeden Winkel für seine Schlachten nutzen, ohne gleich wieder aufräumen zu müssen wie im Wohnzimmer oder der Küche.
Vor dem Haus war ein Hof mit einer Garage, in der jedoch nie ein Auto stand. Sein Großvater hatte weder einen Wagen noch einen Führerschein. Vielleicht hatte er von besseren Zeiten geträumt, als er sie gebaut hatte.
Gegenüber dem Haus der Großeltern waren Gemüsegärten. Hinter den langen Reihen mit Kohl und Bohnen war ein Hügel, auf dem eine Reihe Häuser stand. Es waren große alte Häuser, von hohen Bäumen in weitläufigen Gärten umgeben. Der Junge hatte sich schon oft gefragt, wer dort wohnte und wie es dort in den Häusern wohl aussah, aber auch seine Großeltern kannten die Besitzer nicht.
Der Junge ging nie weiter als zur Lahnstraße, der Hauptstraße des Dorfes. In der anderen Richtung ging er nur bis zum Bach. Manchmal ging er mit Großvater im Wald spazieren oder mit der Großmutter „in den Flecken“, in die Kleinstadt zum Einkaufen. Sein Großvater war ein stiller großer Mann. Er war immer glatt rasiert und trug die silbernen Haare sehr kurz. Seine großen Ohren standen etwas ab.
Der Junge mochte seinen Großvater, obwohl sie wenig miteinander sprachen. Wenn sie im Wald oder in den Feldern unterwegs waren, erklärte er ihm die verschiedenen Baumarten und Ackerpflanzen. Der Junge lief dem Großvater oft voraus, um zu sehen, wohin der Weg führte. Dann blieb er wieder ein wenig zurück, um etwas genau zu beobachten. Schließlich lief er an der Seite des Großvaters, der ihm ein Eichhörnchen zeigte. Der alte Mann sah viel mehr im Wald als der Junge, der die Tiere oft nicht bemerkte, die sie von Bäumen und aus Gebüschen neugierig anschauten. Er zeigte dem Jungen, wie man sich einen Wanderstock schnitzte und ihn mit dem Messer verzierte. Letzten Frühling hatte er ihm gezeigt, wie man aus einem jungen Weidenzweig eine Flöte machte.
Bei den Großeltern gab es kein Telefon, der Großvater hielt es für überflüssig. Wenn ein Anruf kam, dann bei seiner verwitweten Schwester im Nachbarhaus, die dort mit Sohn und Schwiegertochter wohnte. Alsbald wurde von Fenster zu Fenster herüber gerufen, im Winter machte sich sogar jemand auf dem Weg, um die telefonischen Nachrichten in ihr Haus zu tragen. Es gab überhaupt keinen überflüssigen Firlefanz bei seinen Großeltern. Im Garten war kein Quadratmillimeter ungenutzt: Kartoffeln, Möhren, Erbsen, Bohnen, Erdbeeren, Stachelbeeren, Kräuter, Blumenkohl, Rosenkohl, Salat, Äpfel und Kirschen, dazwischen schmale steinerne Wege. Die Großmutter war jeden Tag im Garten und rupfte Unkraut. Im Sommer sammelten sie zusammen Erdbeeren. Sie zeigte dem Jungen lachend die dicksten Beeren, die er sich sofort in den Mund stopfte. Sie waren jeden Tag im Garten. Morgens gingen sie zuerst zu den drei oder vier Hühnern im Stall. Die Hühner legten nicht jeden Tag ein Ei, aber manchmal fanden sie eins oder zwei. Sonntags gab es ein gekochtes Ei zum Frühstück, ansonsten wurden die Eier zum Kuchenbacken benötigt.
Das Reich seiner Großmutter war aber nicht nur der Garten, sondern auch die Küche. Neben dem Kühlschrank stand ein klobiger Holzschrank, in dem es Schubfächer für Mehl, Salz und Zucker gab, und in dem die Besteckschublade, der Kaffee und die Schokolade waren. Außerdem alle Teller, Töpfe und Tassen, die seine Großeltern besaßen. Mittelpunkt der Küche war der Tisch, drei Stühle und ein Sofa standen um ihn herum. Das Sofa hatte keine Rückenlehne, war uralt und abgewetzt, irgendwann einmal muss es hellgrün gewesen sein. Auf einem Brettchen an der Wand über dem Sofa war das Radio. Sonntags ab fünfzehn Uhr lief hier die „volkstümliche Hitparade“, ein unerträglicher und permanent gleich klingender Jodelmarathon aus Südtirol und anderen ehemals deutschen Gebieten, die in irgendwelchen Kriegen verloren gegangen waren.
Mit dem Dorf seiner Großeltern verband in ein besonderer Geruch: Der Gestank von Kuhmist in allen Stadien der Transformation. Dafür sah man im Gegensatz zur Stadt nachts die Sterne am Himmel. Seine Großeltern pflegten allerdings bereits um acht Uhr abends ins Bett zu gehen. Selbst zur Tagesschau in der ARD waren sie nicht zu bewegen und so blieben ihm und seiner Mutter abends nur ihre Bücher und Träume.
***
Erst hörte man das angestrengte Jammern des Motors, dann bog der Wagen um die Ecke. Der Junge blickte von seinem Tisch auf. Gerade hatte er einen der vorderen Geschütztürme des schweren Kreuzers Prinz Eugen angeklebt, als er sah, dass ein Auto in ihre Straße einbog. Er duckte sich instinktiv und beobachtete das Fahrzeug weiter. Es war ein Ford Capri, dessen Gaspedal immer ungeduldiger getreten wurde, bis der Wagen vor dem Nachbarhaus endgültig und wie eine asthmatische Katze fauchend zum Stillstand kam.
Als es kurze Zeit später an der Haustür klingelte, war der Junge erleichtert. Endlich passierte etwas! Er schaute erwartungsvoll seinen Großvater an, der vom Küchenstuhl aufstand und zur Haustür ging. Er wischte sich verlegen die Hand am Hosenbein ab, bevor er die Tür öffnete.
„Guten Tag. Sperber mein Name. Ich bin ihr neuer Nachbar.“
„Guten Tag“, sagte mein Großvater ausdruckslos und blieb stumm in der Tür stehen.
„Kommen sie doch herein“, rief meine Großmutter und lief eilig zur Tür. Sie wischte sich die vom Spülen nassen Hände an ihrer dunkelblauen Kittelschürze ab und lächelte freundlich.
„Kommen Sie doch“, wiederholte sie und geleitete Herrn Sperber ins Wohnzimmer.
„Sehr gerne“ sagte Herr Sperber und setzte sich auf den angebotenen Platz in der Mitte des Sofas.
Er war ziemlich groß und breitschultrig. Der Junge schätzte ihn auf fünfzig Jahre. Der Mann trug einen hellgrauen Anzug und drehte etwas verlegen seinen Hut in den Händen. Sein Gesicht war breit und seine kleinen blauen Augen standen etwas zu weit auseinander. Als er lächelte, waren große Lücken zwischen seinen eckigen Zähnen zu sehen. Die fleischige Nase passte nicht zu den schmalen Lippen. Seine dunkelblonden glatten Haare hatte er mit Brisk zurück gekämmt.
„Von woher kommen sie denn?“ wollte der Junge wissen.
Seine Großmutter sah ihn vorwurfsvoll an. „Möchten Sie etwas trinken? Ein Glas Wasser vielleicht? Ich kann auch Kaffee kochen.“
Nun blickte der Großvater vorwurfsvoll seine Frau an. Sie wollte doch hier keine Umstände machen, oder etwa doch?
Der Mann lächelte den Jungen an. „Ich bin aus Berlin. Und vielen Dank, aber ich wollte mich nur kurz vorstellen. Hermann Sperber ist mein Name und ich habe das Nachbarhaus von meinen Eltern geerbt.“
„Ach, Sie sind der junge Sperber?“ rief der Großvater und rückte einen Stuhl näher, um sich zu seinem Gast zu setzen.
„Jawollja, der bin ich.“ Herr Sperber nickte freundlich in die Runde. Und als der Großvater ihn fragend ansah, ergänzte er: „Ich bin über zwanzig Jahre zur See gefahren, dann habe ich in West-Berlin gelebt. Und nun will ich hier etwas Neues anfangen.“
„Hier ist es schwer, Arbeit zu finden“, gab der Großvater zu bedenken.
„Das ist kein Problem“, lachte der Mann. „Ich habe ein Auto. In Limburg oder in Koblenz, meinetwegen auch in Wiesbaden oder Frankfurt wird sich schon Arbeit finden. Ich kann noch richtig anpacken, ich bin kerngesund.“
Der neue Nachbar erinnerte den Jungen an seinen Onkel Werner, der manchmal zu Besuch kam. Er brachte jedes Mal eine frische Brise Humor und neue Geschichten ins Haus der Großeltern. Als Versicherungsvertreter kam er viel herum, Frau und Kind hatte er nicht, was ihm damals auf dem Land ein geradezu exzentrisches Image gab. Er lachte und erzählte, er zwinkerte mir zu und hatte Abenteuergeschichten nur für den Jungen im Gepäck. Er freute sich immer über den Besuch und bewunderte diesen Onkel heimlich. So lustig und unabhängig wollte er auch einmal durchs Leben gehen, dachte der Junge immer.
Dann kam seine Mutter nach Hause. Sie war gerade einkaufen gewesen und hatte sicher auch eine Tafel Vollmilchschokolade für ihn gekauft.
„Oh, wir haben Besuch“, sagte sie ehrlich erstaunt, denn es kam nicht oft vor, dass Fremde das Haus betraten.
„Das ist Herr Sperber, unser neuer Nachbar“, sagte die Großmutter freudestrahlend.
„Sehr angenehm, junge Frau, sehr angenehm.“ Herr Sperber war zu diesen Worten tatsächlich aufgestanden und hatte eine Verbeugung angedeutet. Ein Mann von Welt, soviel war sicher.
Seine Mutter errötete etwas. Dann drückte sie der Großmutter die Einkäufe in die Hand. Die Butter musste sicher in den Kühlschrank. Dann löste sie den Knoten von ihrem Kopftuch, das ihre Dauerwelle vor Wind und Regen schützte. Auf dem Dorf trugen alle Frauen Kopftuch.
„Herzlich willkommen! Seit wann wohnen Sie denn schon hier?“, fragte die Mutter freundlich und setzte sich neben den Großvater an den Wohnzimmertisch.
Der Junge stand am Fenster und hörte den Erwachsenen aufmerksam zu.
„Ich werde erst im Sommer hier einziehen. Meine Möbel sind noch in Berlin. Außerdem möchte ich mir das Haus erst einmal anschauen. Wahrscheinlich müssen noch einige Reparaturen erledigt werden.“
Der Mann lächelte seine Mutter jetzt unverhohlen an.
Sie lächelte zurück und sagte: „Dann sehen wir uns ja sicher öfter.“
„Mit dem größten Vergnügen, gnädige Frau, mit dem allergrößten Vergnügen.“
***
Als Herr Sperber wieder gegangen war, aßen der Junge, seine Mutter und die Großeltern zusammen Kuchen. Für jeden gab es ein großes Stück Streuselkuchen. Natürlich war der neue Nachbar das einzige Thema. Es war aufregend: Jemand aus Berlin!
Bei seinen Großeltern hatte der Junge immer allein gespielt. In der Straße, in der sie wohnten, sie hieß Oberdorfstraße, gab es nur noch drei andere Häuser. In keinem dieser Häuser wohnte ein anderes Kind. Und er durfte, als er klein war, nur bis zum Ende der Straße laufen. Dort sei es zu gefährlich für ihn, hatten seine Großeltern gesagt. Sie hatten ihn schon einmal als Kleinkind ohnmächtig und in einer Blutlache liegend auf dem Hof gefunden, weil er mit seinem Dreirad gegen das eiserne Hoftor geknallt war und er sich den Kopf aufgeschlagen hatte. Es musste im Krankenhaus genäht werden und hatte schwere Vorwürfe seitens seiner Mutter zur Folge gehabt. Also spielte er allein im Hof oder im Dachgeschoss, oder er saß in der Küche und malte. Er zeichnete gerne Cowboys und Indianer, aber auch Häuser und manchmal ganze Städte. Aus der Schulbibliothek lieh er sich häufig Bücher aus, die er in den Ferien las: Jules Verne oder Enid Blyton. Manchmal durfte er sich im Vorabendprogramm des Fernsehens Zeichentrickfilme oder amerikanische Serien anschauen.
In Ingelheim hatte er früher viele Freunde gehabt, mit denen er am Nachmittag Fußball oder Verstecken spielte. Einmal hatte er in seinem Zimmer gesessen und gelesen, als er von Ferne seinen Namen hörte. Dann noch einmal. Es waren die anderen Kinder, die im Chor seinen Namen riefen! Er ging ans Fenster und sie forderten ihn auf, hinunter zu kommen. Ein Junge hatte einen Ball unter dem Arm. Er hatte sich natürlich gleich die Schuhe geschnappt und war die Treppe runter gelaufen. An diesen Moment erinnerte er sich heute noch gerne: Alle Freunde rufen gemeinsam seinen Namen, völlig überraschend (und es ist auch später nie wieder passiert), und möchten ihn sofort treffen. Die Selbstverständlichkeit und Vertrautheit dieser Gemeinschaft, dieser Clique aus den umliegenden Mietskasernen … – als er dann mit zehn Jahren aufs Gymnasium gekommen war, begann sich diese Gemeinschaft langsam aufzulösen. Er war der einzige, der auf eine höhere Schule ging, während seine Freunde im Stadtteil blieben und in der Hauptschule landeten.
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