Freitag, 26. Juni 2015
Rheinkind, Kapitel 7
An einem heißen Tag Ende Juli war es soweit: Seine Mutter holte ihn wieder ab. Endlich ging es wieder nach Hause. Am Ende hatte er sogar die Illustrierten seiner Großmutter gelesen. Das Buch von Marquez hatte er ausgelesen und er hatte sogar selbst eine Geschichte geschrieben, die er nach den Sommerferien der Schülerzeitungsredaktion anbieten wollte. In der Geschichte ging es um einen Jungen, der zufällig ein paar Schmugglern auf die Schliche kommt und sie verfolgt. Er fliegt heimlich im Frachtraum eines Flugzeugs in ein fremdes Land, wird von den Ganoven gefangen genommen, kann sich aber selbst befreien und die Polizei alarmieren. Und das alles auf einer einzigen DIN A 4-Seite!
Die Einsamkeit des Lesens und Schreibens gefiel ihm. Der Junge hatte ein klares Bild von seiner Zukunft: Einmal hatte er von der Straße aus einen älteren Mann gesehen, der in einer hell erleuchteten Bibliothek stand. So wollte er auch einmal in seiner Bibliothek stehen, wenn er groß war. Wie man in dieses Leben hinein kam, wie man zu so einem großen Haus und so vielen Büchern kommen konnte, wusste der Junge nicht. Zwischen ihm und seiner fernen Zukunft eröffnete sich ein unbekanntes Land, dessen Ausdehnung er von seinem Standpunkt aus nicht einschätzen konnte. Einige seiner Vorstellungen hatte er auf kleine Zettel geschrieben und ihn Pappröhren gesteckt. Diese Röhren, es waren alte Toilettenpapierrollen, klebte er mit Farbband zu und schrieb ein Datum darauf. Die meisten sollten am 1. Januar 2000 geöffnet werden. So lange wollte er sie in seinem Schrank aufbewahren. Er stellte sich vor, dass jeder seinen eigenen Roboterdiener hat, der sich um alles kümmert, und dass man sich hauptsächlich fliegend fortbewegen würde.
Als dann der Renault-Kastenwagen in den Hof einbog, war seine Enttäuschung groß: Die Großmutter väterlicherseits, Oma Charlotte, saß auf dem Beifahrersitz. Sie hatte dunkelbraun gefärbtes und hoch toupiertes Haar, um den Hals trug sie eine Goldkette.
Sie blieb im Wagen sitzen, während die Mutter kurz ausstieg, um dem Jungen beim Einladen seines Koffers zu helfen. Die Großeltern standen an der Haustür und winkten zum Abschied.
Der Junge setzte sich auf die Rückbank und begrüßte seine andere Großmutter.
„Guten Tag, mein Junge. Geht es dir gut?“
„Ja.“
„War es denn schön?“
„Ja.“
„Nun erzähl doch mal deiner Oma, was du alles erlebt hast.“
„Wir haben einen neuen Nachbarn, Herr Sperber. Der hat die ganze Welt gesehen, der ist auf einem Schiff über alle Meere gefahren.“ Der Junge lächelte beim Erzählen.
„Wer weiß, was er einem kleinen Jungen wie dir alles erzählt hat“, sagte sie mit tadelndem Tonfall und blickte seine Mutter von der Seite an.
Die Mutter sagte, ohne den Blick von der Landstraße zu nehmen: „Herr Sperber ist aus Berlin, er richtet sich gerade in seinem neuen Haus ein.“
„Berlin, das kennt man“, sagte die Großmutter. „Watt denn, Seife eene Mark? Nee, lieber wasch ick ma’ nich“, äffte sie den Berliner Tonfall nach.
Sie hatte in Berlin ihren Mann kennengelernt, der später in Russland gefallen war, wie sie es ausdrückte. Damals hatte sie in einem kleinen Süßwarenladen gearbeitet, geboren war sie in einem winzigen Marktflecken namens Bublitz in Hinterpommern. Als Offizierswitwe musste sie nicht arbeiten und lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Diez an der Lahn, mit Blick auf das dortige Gefängnis. Ihr Bruder arbeitete in Bonn in einem Ministerium der Bundesregierung – ob als Pförtner oder Staatssekretär hatte sie nie erwähnt. Ihre Schwester hatte einen Gerichtspräsidenten in Frankfurt geheiratet und dann gab es noch die Zwillinge in der DDR, denen sie immer Päckchen mit Kaffee und Schokolade schicken musste. Einer war Musiker in einem Orchester und spielte sieben Instrumente, der andere war ein Taugenichts, der sich als Korbmacher und Tagelöhner durchschlug. Sie sprach gerne von ihrer Familie. Aus ihren beiden Söhnen war schließlich, trotz der schwierigen Zeiten, etwas geworden. Einer arbeitete als Rechtsanwalt in Hamburg, und einer als Bauingenieur für eine renommierte Firma in aller Welt. Sie hatte drei Enkelkinder: Den Jungen und seine beiden Cousinen in Hamburg. Und während sie sprach, verbreitete sich der Geruch ihres Parfums im ganzen Wagen: Tosca.
***
Sein Schulfreund Michael war noch mit seiner Familie in Italien, wahrscheinlich würde er genauso blass zurückkommen, wie er vor zwei Wochen hingefahren war. Julian Weitzel war aber schon aus Spanien zurück, sicher voller Sommersprossen und großer Pläne für die Ferienzeit.
„Wie wäre es, wenn wir ein paar Tage am Rhein zelten?“
„Au ja!“
Eine Superidee. Die Mütter der beiden Jungs telefonierten noch kurz, dann packte der Junge seine Tasche. Diesmal würde er nur Dinge mitnehmen, die man wirklich brauchen konnte. Ein Taschenmesser zum Beispiel, ein Feuerzeug und ein Stück Schnur.
Am nächsten Morgen trafen sie sich am Rhein. Der Fluss und der Himmel lagen grau im Dunst, an den Hafenanlagen war noch nichts los. Kein Kran bewegte sich, kein Kies wurde verladen, nichts.
Julian war braun gebrannt, seine Zähne leuchteten geradezu im Gesicht, als er sprach: „Wir können an der DLRG-Station auf der Wiese übernachten. Dort gibt es auch eine Feuerstelle, die wir benutzen können.“
Auf seinem Gepäckträger hatte er das kleine Zwei-Mann-Zelt zusammen gerollt, in den Satteltaschen waren ein paar Klamotten und Konserven.
Sie fuhren zusammen am Rhein entlang. Wie immer genoss der Junge den Augenblick. Das gewaltige Rauschen, wenn ein Windstoß in die Bäume fuhr, das leise Gemurmel eines unsichtbaren Bächleins zwischen Grasbüscheln, das Summen und Brummen der Insektenwelt auf den Wiesen. Der Auwald bestand aus Weiden, Schwarzerlen und Pappeln, die das Ufer säumten. Eichen und Ulmen standen dahinter, manche Bäume waren hunderte von Jahren alt. Vor einigen Jahren hatte das rätselhafte Ulmensterben begonnen, nun fuhren sie durch ganze Alleen toter Baumriesen. Es hieß, ein Pilz, der aus Asien eingeschleppt worden sei, würde die uralten Bäume absterben lassen. Aber darunter konnte der Junge sich nicht viel vorstellen.
Als sie an der DLRG-Station angekommen waren, fanden sie das Blockhaus verschlossen vor. An Wochentagen war selten jemand hier unten am Rhein und den beiden Jungen war es nur Recht. Sie legten die Räder ins Gras und begannen, das kleine Zelt aufzubauen. Ein wenig Feuerholz war unter dem Vordach der Hütte aufgestapelt, Julian hatte einen zerbeulten Aluminiumtopf dabei, in dem sie sich Dosen-Ravioli warm machen würden. Für den ersten Tag hatten sie einen Stapel von Wurstbroten, die von der Großmutter sorgfältig geschmiert und einzeln in Klarsichtfolie verpackt waren.
Gegen Mittag begann es zu regnen. Die beiden Jungs saßen in ihrem Zelt und hörten die Tropfen gegen die Segeltuchbahnen trommeln.
„Was macht eigentlich dein Vater?“ fragte ihn Julian unvermittelt in das Schweigen hinein.
„Der ist immer noch in Indien, aber gegen Jahresende soll das Kraftwerk fertig sein. Er hat mir einen Brief geschrieben.“ Tatsächlich hatte er einen zweiseitigen Brief von seinem Vater erhalten, mit einer riesigen bunten indischen Briefmarke darauf. Er hatte viel zu tun, aber es ging ihm gut. Er vermisste seinen Sohn und vor dem Einschlafen hatte der Junge ein paar Minuten weinen müssen. Er wusste gar nicht, ob er glücklich oder traurig gewesen war. Aber natürlich würde er seinem Freund niemals ein solches Geheimnis anvertrauen. Bei nächster Gelegenheit würden seine heimlichen Gedanken Gegenstand von Hohn und Spott sein.
„Weißt du noch, wie unsere Väter die Station gebaut haben?“ fragte Julian.
Jetzt hatten sie ein schönes Thema für den verregneten Nachmittag. Eines Tages hatten die Männer, die ehrenamtlich für die Sicherheit der Schwimmer und Segler auf dem Rhein sorgten, den Beschluss gefasst, man müsse ein Vereinsheim haben. Schließlich mussten die Rettungsboote im Winter untergebracht werden und ein eigener Versammlungsraum wäre ja bei schlechtem Wetter auch sehr nützlich. Das Problem war, dass der Bau von Gebäuden am Rheinufer nicht genehmigt werden durfte. Aber Verbote waren Zwangsmittel der Obrigkeit und mit der Obrigkeit hatten es die Rheinhessen nicht so. Das ist das Erbe der Geschichte: Die Rheinhessen wurden immer von anderen geknechtet und durften sich nie selbst regieren. Also verhielten sie sich zu Regierungen grundsätzlich wie die Gallier zu den Römern. Erst in einem repressiven Milieu fühlte sich der Rheinhesse wirklich wohl, weil es seine Leidenschaft zur Rebellion entfachte.
Was machten also Männer wie ihre Väter 1975? Sie gossen in aller Heimlichkeit ein Betonfundament und deckten es mit Ästen ab. In einer sogenannten Nacht- und Nebelaktion wurde am darauf folgenden Wochenende eine Rettungsstation an den Rhein gebaut. Die Behörden kamen erst Jahre später dahinter. Und auch hier gab es eine typisch rheinhessische Lösung: Der Bürgermeister akzeptierte die Blockhütte stillschweigend, zum Ausgleich musste die DLRG zwei Mal die Woche Aufsicht im örtlichen Freibad führen, um so der Stadtverwaltung Personalkosten zu sparen. So waren alle zufrieden und die Station war auf keiner Landkarte verzeichnet.
Zur Abendbrotzeit, es war noch heller Tag, kam ein VW Jetta den Uferweg entlang. Julian erkannte den Wagen seiner Mutter.
Sie stieg aus und begrüßte die Jungs.
„Na, welche Abenteuer habt ihr denn schon erlebt?“
„Och, es hat ja geregnet. Aber morgen wird es bestimmt besser werden.“ Julian war ein unverbesserlicher Optimist. Der Himmel war auch nach dem Regen grau geblieben.
„Seht mal, was ich euch mitgebracht habe“, sagte die Mutter und öffnete die Beifahrertür.
Sie holte einen viereckigen flachen Pappkarton aus dem Wagen. Auf dem Deckel sah man ein grinsendes Pferd auf einer Lokomotive, darüber die Aufschrift „Pony Express“.
„Was ist das?“ fragte der Junge.
„Das ist Pizza“, rief Julian laut und öffnete den Karton.
Die Pizza war mit Salami, Schinken und Pilzen belegt. Sie war noch warm und schmeckte köstlich. Während die Jungs gierig die Pizza in sich hinein schlangen, erzählte die Mutter, dass es seit neuestem am Ingelheimer Bahnhof eine Gaststätte gäbe, die ihre Pizza auch außer Haus verkaufte.
Als sie zwei Stunden später im Zelt lagen, konnte der Junge lange Zeit nicht einschlafen. Er wusste, dass niemand von seiner Familie ihn hier besuchen würde. Er wollte es auch gar nicht, aber trotzdem fehlten ihm seine Eltern. Die Mutter von Julian war mit dieser köstlichen Pizza zu ihnen gefahren. Er hatte erst ein einziges Mal Pizza in seinem Leben gegessen, es war letztes Jahr am Mainzer Bahnhof gewesen, als sie Wandertag hatten. Er hatte keine gute Erinnerung an den Tag. Seine Klasse hatte den Mainzer Dom besucht und der Junge hatte seine Schulkameraden mit Weihwasser bespritzt. Er wusste selbst nicht warum, aber manchmal machte er mit Oliver oder Julian einfach Blödsinn. Die Lehrerin, sie unterrichtete katholische Religion und Sport, gab ihm eine Ohrfeige und damit war für alle der Spaß vorbei. Er war sich schmutzig und einsam vorgekommen, als die Klasse mit der Regionalbahn wieder zurück nach Ingelheim fuhr. Aber am nächsten Tag war die Demütigung schon fast vergessen, denn die anderen Kinder sahen für einen Tag in ihm den Rebellen, den man heimlich bewunderte.
***
Am nächsten Tag war es warm, aber der Nieselregen hörte praktisch nie auf. An Feuer machen war nicht zu denken. Sie öffneten eine Büchse Corned Beef zum Frühstück und aßen dazu Brot. Danach erkundeten sie die Auwälder rund um die Station. Sie bahnten sich mühsam einen Weg durch Gestrüpp, Lianen und Matschpfützen. Die Mücken sirrten in ihren Ohren wie Tinnitus. Etwas mehr als hundert Meter hinter der Hütte endete der Wald. Hier war der Damm und auf der anderen Seite des Damms waren die Obst- und Spargelfelder der Ingelheimer Bauern. Nicht weit entfernt waren der Baggersee und die Autobahn.
Der Junge erinnerte sich, wie er früher mit seinen alten Freunden durch diese Felder gefahren war. Am Baggersee waren die älteren Jugendlichen, sie hatten lange Haare und badeten sogar nackt. Er hätte gerne gewusst, über was für geheimnisvolle Dinge sie miteinander sprachen. Wenn er sie aus der Ferne sah, träumte er von ihrem Leben.
Stattdessen stopften sie sich mit Mirabellen voll. Den ganzen Nachmittag waren seine Freunde und er durch die Gegend gefahren. Sie hatten immer irgendwelche wichtigen Ziele, die aber eigentlich lächerlich waren. In Wirklichkeit krabbelten sie auf Schutthügeln herum, schmissen Ziegelsteine aus verwaisten Rohbauten, krochen durch Gebüsch, flüsterten, stahlen wertloses Zeug, streiften durch die ganze verlassene Welt, die man als Erwachsener nicht mehr kennt: versteckte Wiesen, Bahndämme, Ruinen, Baustellen, Industriebrachen. Wertlose menschenleere Flächen, angefüllt mit gefährlichen Räuberbanden und außerirdischen Bedrohungen, vergrabenen Schätzen und verwunschenen Höhlen.
Julian und der Junge gingen zurück zu ihrem Zelt. Der Regen war etwas stärker geworden, aber das störte sie nicht. Sie saßen unter einem Baum am Rheinufer und sahen den Schiffen zu. An Schwimmen war leider am Rhein nicht zu denken, das Wasser war viel zu schmutzig. Wenn am Wochenende die Erwachsenen an der Station waren, konnte man wenigstens mit den Rettungsbooten raus fahren.
„Wenn wir jetzt ein Boot im Wasser hätten, könnten wir rüber auf die Rheinauen fahren“, sagte Julian. Er klang etwas niedergeschlagen.
Sie hatten sich beide das Zelten am großen Fluss aufregender vorgestellt. Mehr wie bei Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Und die Geheimnisse der Auwälder, das Nibelungengold, das sich dort verbergen könnte – das Auenland im „Herr der Ringe“, den er im Winter gelesen hatte, barg wesentlich mehr Geheimnisse als das schmale Band eines mückenverseuchten Galeriewalds.
„Ich bin schon einmal dort gewesen“, sagte der Junge. „Und ich habe sogar da drüben übernachtet.“
„Das ist nicht wahr“, Julian war ehrlich erstaunt.
„Doch. Das war vor ein paar Jahren mit meinem Vater“, begann der Junge zu erzählen. „Eines der Boote hatte einen Jet-Antrieb. Es kann also nicht mit einer Schraube auf einem Felsen oder auf Grund aufsetzen, man kann mit diesem Boot auf den Strand düsen wie im Film. Aber es gibt dort auch Tiere. Wildschweine zum Beispiel.“
„Echt?“
Die Inseln, hier Auen genannt, waren unbewohnt, aber nicht unbelebt. Im Dickicht der Auwälder verbargen sich viele Vögel, Nagetiere und sogar Rehe und Wildschweine. Am Strand lag viel Treibholz, Kieselsteine und gelegentlich auch Müll. Man konnte Graugänse, Milane und Fischreiher beobachten, seit einigen Jahren war die Insel ein Naturschutzgebiet. Das Betreten war eigentlich verboten.
„Die Insel da drüben heißt Mariannenaue. Es ist die größte Rheininsel und ungefähr vier Kilometer lang. Da gibt es viel Platz zum Zelten. Mein Vater und ich hatten auch so ein kleines Wigwam wie wir. Nachdem wir es aufgebaut hatten, sind wir auf Erkundungstour gegangen, immer einen Stock in der Hand. Was ist, wenn man fremde Fußspuren entdecken würde? Aber wir haben niemanden entdeckt. Nach unserer Rückkehr plünderten wir die Kühltasche: Limonade und Wurstbrote. Gegen Abend sitze ich auf einem Ast, der über dem Strand ins Wasser ragt, und lehne am Baumstamm. Ich lese einen meiner heißgeliebten Doc-Savage-Groschenromane, diesmal geht es um eine unterirdische Stadt in der Arktis, wo finstere Mächte die Weltherrschaft planen.“
Julian lachte. „Das kann ich mir gut vorstellen. War bestimmt total super. In der Nacht seid ihr die einzigen Menschen auf dieser Insel mitten im Rhein gewesen. Weit weg von jeder Stadt.“
„Ja, die Aueninseln sind total vergessen. Da findet dich niemand, wenn du mal abhauen willst.“
„Da kannst du auch gleich mit dem Wanderzirkus abhauen“, sagte Julian. Es war als Witz gedacht, aber er kratzte sich nachdenklich am Kopf. Was wäre, wenn man wirklich abhauen würde? Aber wohin? Würde man nicht über kurz oder lang am Bahnhof Zoo landen?
„Aber wie willst du hinkommen?“ fragte der Junge. „Schwimmen kannst du vergessen. Die Strömung und dann der Dreck. Meine Mutter hat es mir verboten, zum Schwimmen müssen wir ins Hallenbad.“
Julian schwieg eine Weile. „Ob früher mal jemand auf der Insel gelebt hat?“
„Es gibt dort einen leerstehenden Gutshof“, antwortete der Junge. „Und mein Vater hat mir erzählt, dass hier der Sohn und Nachfolger Karls des Großen gestorben ist. Wer weiß, was man auf dieser Insel alles finden kann.“
Und mit diesen aufregenden Gedanken verschwendeten sie einen ganzen verregneten Nachmittag.
Gegen Abend kam wieder die Mutter von Julian vorbei.
„Wollt ihr denn nicht nach Hause kommen?“ fragte sie besorgt. „In den nächsten Tagen soll es weiter regnen, haben sie in der Tagesschau gesagt.“
Die Jungs sahen sich an. Die Aussicht auf warme Mahlzeiten, Fernsehen und gemütliche Betten lockte, am Himmel hingen dunkelgraue Wolken.
Fünfzehn Minuten später hatten sie ihre Habseligkeiten in den Wagen gepackt und die Räder in den Kofferraum gelegt. Die Heckklappe ließ sich nicht ganz schließen. Die Mutter befestigte ein Seil zwischen Kofferraumdeckel und Stoßstange. Es schepperte munter, wenn sie durch ein Schlagloch auf dem Uferweg fuhren, aber kurze Zeit später stand der Junge wieder vor seinem Haus. Er freute sich, wieder in seine Höhle zurück zu kommen, in sein eigenes Reich, das ihn niemals enttäuschen konnte.
Frau Weitzel hatte ihn an der Rheinstraße herausgelassen, um direkt weiter nach Ober-Ingelheim fahren zu können. Als der Junge die Straße zu seinem Haus überquerte, sah er einen Haufen Kinder, die in einem Stapel Kisten neben der Telefonzelle herumwühlten.
Heute ist Sperrmüll, dachte der Junge. Die Leute stellten ihren Müll schon abends auf die Straße. Er durfte abends nicht mehr hinaus, um im Müll nach den besten Sachen zu suchen. Seine Mutter fand das unmöglich. Aber die Kinder von anderen Familien im Viertel durften abends hinaus, manchmal waren sogar die Väter mit dabei.
Er überquerte die Straße und näherte sich neugierig den Kindern, die ganz aufgeregt waren. Ein Kind lief mit einem Stapel Micky Maus-Hefte davon, ein anderes hatte kleine Holzhäuser im Arm.
Was war denn hier nur los?
Ein Mädchen kam ihm glücklich lächelnd entgegen. Sie hatte eine Aldi-Tüte in der Hand, aus der ein Teddy herauslugte.
War das nicht Heinrich?
Ein Junge zog einen Holzturm und ein Tor aus dem Sperrmüll.
Das war sein Western-Fort! Und seine Stofftiere! Seine Comics und seine anderen alten Spielsachen!
Hastig griff er sich die Mad-Hefte und eine hellbraune Mappe mit seinen Kinderzeichnungen.
Was war hier los?
Die plündernde Horde zog lachend weiter und er stand allein mit seinen Habseligkeiten auf dem Bürgersteig. Der Sperrmüllhaufen lag zerfleddert neben der Telefonzelle. Sicher würden sich die Männer von der Stadtreinigung wieder bei der Hausverwaltung beschweren, weil der Müll nicht ordnungsgemäß in Kisten verpackt oder mit einer Kordel zusammengebunden worden war.
Völlig verwirrt ging er zur Haustür und klingelte.
Seine Mutter stand in der Wohnungstür, als er die Treppe hinauf kam.
„Was hast du mit meinen Sachen gemacht?“ fragte der Junge wütend.
„Komm erst mal rein“, antwortete seine Mutter müde.
Sie ließ ihn eintreten.
Hinter der Tür wartete schon die Großmutter aus Diez.
„Dein Zimmer war ein richtiger Schweinestall. Ich habe es komplett aufgeräumt. Jetzt findest du wieder alles, was du suchst. Ich frage mich, wie du in einem solchen Chaos überhaupt leben konntest?“
„Aber es ist mein Chaos und mein Zimmer. Du hättest mich wenigstens fragen können, bevor du angefangen hast.“ Seine Augen glühten vor Zorn.
„Nicht in diesem Ton, junger Mann! So etwas Undankbares. Da gibt man sich so viel Mühe.“ Ihr Gesicht war zu einer Maske der Arroganz gefroren, als sie auf ihn hinab sah. So musste das Gesicht Gottes aussehen, der über den Menschen zu Gericht sitzt. Sicher hatte sie stundenlang vor dem Spiegel geübt, so hochnäsig und oberlehrerhaft über den Brillenrand zu schauen und dabei irgendwie tödlich beleidigt zu wirken. Vermutlich hatte sie die Brille überhaupt nur gekauft, um auf diese Weise über ihren Rand blicken zu können. Das Gesicht seiner Großmutter sagte ihm: Dein Unrecht ist so groß, das jedes Wort überflüssig ist. Du bist nichts und kannst froh sein, unter meiner Sonne zu leben.
„Du hast mit diesen ganzen alten Sachen doch sowieso nicht mehr gespielt. Was willst du denn noch mit dem Zeug? Und dann schleppst du die Hälfte von diesem schmutzigen und wertlosen Plunder zurück in die Wohnung, die deine Mutter und ich in den letzten Tagen tadellos von jeglichem Stäubchen befreit haben.“
Mit dem Western-Fort habe ich neulich erst gespielt. Die Häuser brauche ich zum Krieg spielen“, sagte der Junge trotzig.
„Bist du da sicher?“
Und schon war er wieder im rhetorischen Bermudadreieck seiner Großmutter gefangen. Es bestand aus den Elementen „Bist du da sicher?“, „Woher weißt du das denn?“ und „Du hast doch überhaupt keine Ahnung.“ Damit konnte sie jeden verunsichern und ihm schließlich ihren Willen aufzwingen.
„Du bist sicher müde. Ich habe dir noch ein Brot gemacht“, sagte seine Mutter beschwichtigend.
„Und dann Zähneputzen und ab in die Furzmulde!“ ergänzte seine Großmutter streng. „Du bist jetzt schon vierzehn. Da kannst du in den nächsten Ferien ruhig ein paar Wochen in irgendeinem Laden in der Stadt aushelfen. Auch bei der Weinlese kann man Geld verdienen. Dein Sparbuch wird sich freuen.“
Als er schließlich in seinem Bett lag, konnte er vor Wut nicht einschlafen. Natürlich spielte er nicht mehr mit diesen Sachen, aber es war sein persönlicher Besitz. Es war seine Entscheidung, was mit diesen Dingen geschehen würde.
Aber seine Mutter war zu schwach, um ihn zu unterstützen. Am Samstag, nach dem Mittagessen, würde sie die Großmutter an den Zug bringen. Danach hatte sie zwei Wochen Urlaub. Und sie würde sich bestimmt das ganze Wochenende betrinken. Falls das Trinken gegen solche Menschen wie ihre Ex-Schwiegermutter half, musste er Verständnis für seine Mutter haben.
Er hatte sein Zimmer gar nicht mehr wieder erkannt. Es wirkte kahl und klinisch rein. Auf seinem Schreibtisch lagen alle Stifte akkurat auf der rechten Seite der Schreibunterlage, parallel und nach Größe angeordnet. Die deprimierende Nüchternheit einer Ordnung, die auf reiner, gnadenloser und unwiderlegbarer Vernunft beruhte. Wenigstens hatte sie die Zeitkapseln mit den Botschaften für das Jahr 2000 nicht entdeckt. Er hatte sie in seinem Schulranzen versteckt. Es wunderte ihn im Nachhinein, dass seine Großmutter nicht auch den Ranzen kontrolliert und neu sortiert hatte.
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