Montag, 26. Januar 2015
Deutsche Leitkultur
Es gibt kaum einen Begriff aus den letzten Jahren, der schwammiger ist als „deutsche Leitkultur“. Wer in dieses Land kommt, wer hier leben möchte, soll sich „integrieren“, so heißt es. Und auf die Frage, in was man sich integrieren soll, werden selten der Staat und seine Gesetzgebung, seine Rechtsprechung und seine Institutionen, Demokratie und Menschenrechte genannt, sondern die „Kultur“. Das allein ist schon ein sehr dehnbarer Begriff. Aber „Leitkultur“? Was ist das genau? Wie definiert man die „deutsche Leitkultur“?
Häufig beginnen die Erklärungen mit abstrakten Substantiven, die angeblich typische deutsche Charaktereigenschaften umschreiben: Ordnung, Fleiß und Sauberkeit. Ich habe in meinem Leben eine Menge deutsche Wohnungen von innen gesehen: Manchmal sieht es aus, als würde das Wohnzimmer im nächsten Augenblick für „Schöner Wohnen“ fotografiert werden, manchmal sieht es aus, als ob dort RTL für eine Reality-Soap über Messies drehen würde. Ich war bei Menschen zu Gast, die eilig in die Küche rennen, um mir einen Untersetzer für meine Bierflasche zu holen oder bereits während des Besuchs mit einem Handstaubsauger die Kuchenkrümel entfernen, die ich hinterlassen habe. Und ich war zu Gast bei Leuten, wo ich beim folgenden Besuch zwei Monate später die leere Bierflasche exakt am selben Ort wiederfinde, wo ich sie damals abgestellt habe. Ich habe studiert – ich weiß selbst, wie dreckig eine Wohnung werden kann. Aber die italienischen, amerikanischen, türkischen oder japanischen Wohnungen, die ich in meinem Leben gesehen habe, waren im Durchschnitt nicht anders als deutsche Wohnungen.
Soviel zu Ordnung und Sauberkeit. Dann der sprichwörtliche Fleiß der Deutschen: Ja, es gibt einige fleißige Menschen, wir nennen sie „Workaholics“. Ansonsten kenne ich fast nur Deutsche, die über ihre Arbeit schimpfen, ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gehen und sich wie kleine Kinder über jede Woche freuen, die sie mit Grippe im Bett verbringen dürfen. Hinzu kommt eine pathologische Abneigung gegen jede Form der Handarbeit, der körperlichen Betätigung. Diese Jobs machen heute Menschen aus Süd- und Osteuropa. Der Deutsche pflegt den handwerklichen Fleiß in seiner Freizeit, diese folkloristische Form der Werkzeugnutzung nennt man „Do-it-yourself“ und die Angehörigen dieser Religion versammeln sich in eigens hierzu geschaffenen Kultstätten, die man „Baumärkte“ nennt. Nach Feierabend Heimwerker sein, ansonsten aber sein Geld mit Arsch und Maul verdienen – das ist typisch deutsch.
Andere urdeutsche Charaktereigenschaften wie Unterwürfigkeit gegenüber Vorgesetzten und der Obrigkeit im Allgemeinen, Herrschsucht und Arroganz gegenüber Untergebenen und Fremden, Humorlosigkeit, Pedanterie, Sammelwahn, Vereinsmeierei und ein zwanghafter Hang zur Optimierung der Welt an sich bis hinunter zur bedeutungslosesten Petitesse erspare ich mir in der Analyse. Kommen wir zu den Dingen, die das deutsche Leben charakterisieren. Zu unserer Alltagskultur gehören mittlerweile amerikanische Smartphones und Hamburger, schwedische Möbel und italienische Schuhe, koreanische Fernseher und chinesische Winterjacken, Jeans aus Bangladesch und Spielzeug aus Vietnam, japanische Computerspiele und schottischer Whisky, englische Popmusik und polnischer Gänsebraten, dänische Matratzen und holländische Tomaten. Noch nicht mal die Bananen sind aus Deutschland. Was sind die teutonischen Restbestände unseres Alltags? Eine sibirische Schlagersirene namens Helene Fischer und „deutsche“ Autos, deren Bauteile aus aller Welt kommen, Wurst und Bier.
Was ist deutsch? Die Sprache? Man könnte sich mittlerweile auch nur mit Englisch durch dieses Land bewegen. Das beschissene Wetter? Das ewige Genörgel? Das notorische Selbstmitleid? Machen wir uns nichts vor: Deutschland ist längst in ein Mosaik von tausenden Parallelgesellschaften zerfallen, in der eine bajuwarische Dirndlträgerin in der U-Bahn neben dem Punk steht und die Türkin neben dem Banker. Deutschland ist die Summe dessen, was man 2015 aushalten muss. Und hohle Phrasen von der „deutschen Leitkultur“ kann man getrost den Sonntagsrednern und Wichtigtuern überlassen. Vermutlich kommt in ein paar Jahren raus, dass der Begriff von einer Werbeagentur in Hongkong entwickelt wurde, die für die CSU arbeitet. Es würde mich nicht wundern.
Marek Weber und sein Orchester - Das gibt‘s nur einmal, das kommt nicht wieder. http://www.youtube.com/watch?v=70XO7OaJSc8
Auf der Kölner Anti-Islam-Demo gab's ein Plakat: "Kartoffeln statt Döner". Die deutsche Kartoffel - im Felde unbesiegt.
AntwortenLöschenAber leider auch nicht ursprünglich deutsch, die Kartoffel. Schöner Mist. ;-) Und danke für diesen Beitrag, Herr Kiezschreiber!
LöschenBitteschön! Herzliche Grüße vom Hunsrück in den Odenwald.
LöschenWenn man es genau nimmt beginnt die Fremde 3 Dörfer weiter. Ein Nationalgefühl entwickeln die Leute vielleicht im Ausland, dort wo ein Bayer mit einem Mecklenburger redet. Zuhause wär er der Saupreiß. Leidkultur trifft den Sachverhalt mehr...
AntwortenLöschenOder- ganz wichtig- beim Sport. Je Erfolgreicher desto Doitscher. Den Medialen Ballyhoo bei einer EM/WM im Rasenschach kann man sich kaum entziehen.
Ganz richtig. Ich kenne es aus meiner Gegend, dass schon das Nachbardorf der Erzfeind ist. In meiner Schule in Ingelheim standen beispielsweise die Wackernheimer und die Heidesheimer während der Pause in getrennten Gruppen und eine Generation vor mir kannte noch Prügeleien zwischen den verfeindeten Ober- und Niederingelheimern. Und meine Nichte erzählt aus der Gegenwart ihres Gymnasiums in Bingen, dass man Schüler aus Waldalgesheim und dem benachbarten Weiler in getrennte Klassen steckt, um Streit zu vermeiden.
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