Sonntag, 2. November 2014
Ödland, Kapitel 5
Überall in den Nachbarhäusern Menschen, die sich aus lauter Langeweile und Verzweiflung selbst mästen. Deren sinnlos gewordene Nachkriegsmentalität es ihnen verbietet, Nahrungsmittel einfach weg zu schmeißen, und die daher immer zu viel essen, weil immer zu viel eingekauft und gekocht wird. Die den Kopf in jeder wachen Minute mit Alkohol und Fernsehen betäuben. Palaver um Banalitäten, die Ereignislosigkeit und Eintönigkeit der Tage lässt aus jeder Petitesse einen Anlass für uferlose Diskussionen wachsen. Sei es eine Fahrt zum Supermarkt oder das Aufhängen von Meisenknödeln im Garten. So wird die Zeit zur endlosen Qual, sie sind froh um jede Minute, die wieder einmal vergangen ist. ‚In zwei Stunden kommt Pastor Fliege im Fernsehen, Gott sei Dank!’ Die Fähigkeit zur „großen aristokratischen Kunst, nichts zu tun“, wie Oscar Wilde es im „Bildnis des Dorian Gray“ beschreibt, ist ihnen nicht gegeben.
Die Leute in diesem Dorf begreifen mich nicht. Ich habe es aufgegeben, ihnen mein Leben, meine berufliche Vergangenheit und meine Interessen erklären zu wollen. Sie verstehen mich nicht. Und einfache Leute gehen mit komplizierten Erzählungen und Menschen auf eine bestimmte Weise um, die es ihnen ermöglicht, ein positives Selbstbild zu erhalten: Sie machen sich darüber lustig. Sie ziehen deine Ideen durch den Dreck, äffen deine großstädtischen Gesten nach und verhöhnen deine Familie, deine Freunde oder deine Vorbilder. Auf diese Weise entziehen sie sich der Anstrengung des Nachdenkens. Alles, was nicht in ihren Schädel hinter die flache Stirn vordringt, kann es auch nicht wert sein, dorthin zu gelangen. Der Spott schützt die Dummen wie der Hochmut die Klugen schützt. Diese Menschen bersten fast vor ungelebtem Leben, vor unerfüllten Träumen, die sich als Hass- und Eiterklumpen, als bösartige Metastasen in ihrem faulenden Fleisch festsetzen.
Deswegen liebe ich die großen Städte, in denen ich vor langer Zeit gewohnt habe, als ich noch die Kraft dazu besaß. Dort, in bestimmten Vierteln und in besonderen Lokalen, traf man Gleichgesinnte, die sich der warmen bürgerlichen Herde nicht nähern wollten. Hier hatte man eine Ahnung von den „Unsterblichen“, die Hesse im „Steppenwolf“ beschreibt. Zum großen Rebellen oder Künstler, zum Selbstmörder oder Verbrecher hat es aber bei mir nie gereicht und so habe ich nach Abschluss meines Studiums wie viele einen bürgerlichen Weg eingeschlagen, einen Beruf ergriffen und eine Familie gegründet. Vielleicht haben mir auch einfach die Phantasie und der Mut gefehlt, der bundesdeutschen Standardbiographie irgendetwas entgegenzusetzen, und so habe ich damals mein Leben auf die eingefahrenen Gleise gesetzt und bin alle Stationen abgefahren. Bis zur Endstation, dem bürgerlichen Begräbnis, bei der meine Überreste im Dreck verscharrt würden, ist es nicht mehr weit.
Unsere Jugend ist vorbei. Aber wer will schon ewig jung sein! Das wäre ähnlich grausam wie das ewige Leben. Nur die Begrenztheit unserer Zeit verleiht den Ereignissen ihre Bedeutung. Im Laufe der Zeit würden alle Empfindungen abgestumpft sein, alle Leidenschaften hätten sich abgeschliffen wie Kieselsteine. Alles wäre monotone Wiederholung, weil es irgendwann nichts Einzigartiges mehr gäbe. Wir würden das verfluchte Leben eines Dorian Gray führen, gefangen in nie endender Belanglosigkeit und vollkommener Langeweile. Jetzt bin ich alt und es macht auch keinen Sinn, dieses Problem in irgendeiner Form semantisch zu bearbeiten: „die besten Jahre“ und der ganze Quatsch dieser Lebenslügen. Wir verschleiern und vermeiden unentwegt den Begriff „alt“. Das Neue ist immer auch das Gute. Aber irgendwann ist man alt, ob in den Augen anderer oder in den eigenen Augen. Für Teenager sind zum Beispiel auch schon Twens „alt“.
Ich fürchte mich, so zu werden, wie ich in früheren Jahren immer alte Menschen wahrgenommen habe. Die guten Ratschläge, die niemand brauchte und jedem auf die Nerven gingen. Diese aparte Kombination aus Demenz und Klugscheißerei. Aber alte Menschen merken nicht, dass sie altern. Zum einen verhindert der eigene geistige Verfall selbst das Erkennen eben dieses Verfalls. Zum anderen scheint es eine Art Schutzmechanismus zu geben, der die vollständige Wahrnehmung des eigenen Abstiegs verhindert. Ich habe alte Menschen in Pflegeheimen erlebt, die in den seltenen – ob durch Medikamente oder andere Ursachen ausgelösten – lichten Momenten der Klarheit in bittere Tränen über ihre ausweglose Lage ausbrachen. Stundenlang wechselten Weinkrämpfe und Wimmern einander ab; selbst Todeskandidaten in US-Gefängnissen können nicht verzweifelter sein. Nur der körperliche Verfall ist wahrnehmbar und wird daher auch zum großen Thema, zur Obsession des Alters.
Die Betäubung des Alters. Man verlernt Dinge, die man jahrzehntelang wusste. Du wirst Gegenstand des Mitleids, ratlose Gesichter junger Menschen nach wirren Monologen. Ich will nicht der alte Mensch sein, der in jedem Gespräch an der Supermarktkasse einen Beweis seiner schwindenden Kräfte findet. Natürlich werde ich es selbst irgendwann nicht mehr merken. Das Selbstbewusstsein hüllt dich in schützende Schleier, durch die du den eigenen Verfall nicht mehr wahrnimmst. Aber der Abstieg, der geistige Verfall ist real. Das Organ, mit dem du diesen Niedergang registrieren könntest, das Gehirn, verfällt jedoch mit jedem Tag. Und es gibt Tage, an denen selbst einfache Handgriffe plötzlich schwer werden. Die Begründungen für Mahlzeiten und Körperpflege werden immer durchsichtiger, Vernachlässigungen jeglicher Art bleiben ohne Gegenreaktion. Es ist alles egal, wenn du alt und allein bist. Wem hätte ich nach einem Tag im Sessel oder im Bett, den gelangweilten Blick aus dem Fenster gerichtet, Rechenschaft abzulegen? Wer legt Einspruch gegen dreimal Spaghetti Bolognese in Folge ein? Vor welchem Tribunal habe ich mein Kreuzworträtsel zu verteidigen? Es fehlt mir die Kontrollinstanz, die unbarmherzig die Unmöglichkeit meines Lebens erkennt und ein entsprechendes Urteil fällt. Und bevor ich aus diesem Haus getragen werde, gehe ich lieber selbst. Es wird mein eigener Wille sein, der dieses Leben hier beschließt. Der unbestechliche Blick auf die Armseligkeit der Verhältnisse, der mich nie verlassen hat. Ich bin jetzt siebzig Jahre alt. Vielleicht ist es an der Zeit, langsam den Abgang zu machen?
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