Sonntag, 2. November 2014
Ödland, Kapitel 4
Was fange ich mit meinem Haus an? Alles ist für die Inszenierung meiner Person, meines Werdegangs perfekt. Aber es wird doch niemand mehr kommen, um all das zu bewundern, was ich hier an Gegenständen und Beweisen meiner Gelehrtheit aufgebaut habe. Ein Potemkinsches Dorf ohne Zar, der es inspizieren könnte. Genauso gut könnte ich „Pipi Langstrumpf“ im Bücherregal stehen haben und meinen Boden mit Ikea-Flokatis bedecken.
Jahrzehntelang habe ich dieses große Haus, durch dessen menschenleere Zimmer ich nun wandere, mit erlesenen Möbeln, Bildern und Teppichen gefüllt. In den Bücherregalen, die bis zur Decke der Bibliothek und des Wohnzimmers reichen, stehen gerahmte Fotografien, die mich mit einstmals bekannten Persönlichkeiten zeigen. In einigen Zimmern hängen eigene Aquarelle und Zeichnungen, die Stillleben und Landschaften zeigen. Sie hängen dort nicht als Beweis meiner bescheidenen Kunstfertigkeit, sondern als Erinnerung an mein Leben, als Nachweis meiner immer noch fortwährenden Existenz. Der Garten ist eigentlich ein kleiner Park, der von einem Gärtner sorgsam gepflegt wird und in dem ich an schönen Tagen sitze und das kleine Leben der Singvögel und Insekten beobachte.
Wäre doch wenigstens Kerstin noch hier, um dieses idyllische Leben mit mir zu teilen. Wir haben uns geliebt und wir haben uns verstanden. Wir sind in dieser gemeinsamen Zeit wie selbstverständlich zu einer Einheit geworden, blind, taub und stumm haben wir uns verstanden und so alles gemeistert, was an beruflichen und privaten Belastungen einen einzelnen Menschen zerbrechen würde. Wenn Kerstin und ich stritten, bebte die Erde. Zwei Temperamente, zwei antike Sagengestalten krachten mit Schwert und Schild gegeneinander. Wie in einem dieser japanischen Godzilla-Filme, in denen sich zwei Giganten durch Tokio prügeln und dabei die ganze Stadt in Schutt und Asche legen. Unser Zorn und unsere Leidenschaft loderten maßlos, aber ähnlich einem heftigen Gewitter oder einem Vulkanausbruch war es auch irgendwann vorbei. Und ängstliche Menschen, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren, kamen zitternd aus den Trümmern gekrochen und husteten mit fassungslosem Blick Staub aus ihren Lungen. Verwüstung, Zerstörung und dann wieder die Kraft des sofortigen Neubeginns. Wir hatten unglaubliche Kräfte, die wir an manchen Tagen aneinander messen mussten. Auch in dieser Hinsicht passten wir zueinander.
Oft denke ich an unsere gemeinsame Tochter zurück. Das Opus Magnum, Kerstins und mein ganzer Stolz. Die Leute bekommen Kinder, wenn sie erkennen, dass sie nur im Kleinen die Welt positiv verändern können. Aus dem abstrakten Traum einer besseren Zukunft wird der konkrete Versuch, die eigenen Hoffnungen weiter durch die Zeit zu schicken. Unser Versuch hieß Lara. Ein winziges, zerbrechliches, wundervolles Ding. Ich habe in der Summe mehr Ängste um sie ausgestanden als um mich. Die anfängliche Angst um jeden Atemzug des Kindes wich allmählich der routinierten Sorge um alle Gefahren der Bestecke und Haushaltsgeräte, der Elektrizität und der Schwerkraft. Ich wäre am liebsten auf jedem Schritt ihres Weges hinter ihr gewesen, hätte mit ihr alle Wunder der Welt entdeckt, noch bevor sie in irgendein System eingeordnet und damit verschwunden sind. Und welche eigentümlichen Welten dieses Kind in seinen Spielen entdeckt hat. Manchmal erschreckt man richtig vor dem erwachenden Geist eines neuen kleinen Menschen. Später hat sie ihren eigenen Weg gesucht und der ist immer gegen die alten Autoritäten. Wie sehr ich auch versucht habe, ich habe keinen Ausweg aus meiner Rolle als Vater finden können. Ich hoffte, ihr mit meinem Vertrauen helfen zu können. Aber sie hatte einen unabhängigen Kopf und wollte zu Beginn ihrer Studienjahre die Welt bereisen. Es ist müßig, aber dennoch hin und wieder notwendig, wenn man die alten wichtigen Gedanken wieder und wieder überdenkt, die Frage zu stellen, ob ich ihr das Motorradfahren nicht einfach hätte verbieten sollen. Aber sie hätte es sich nicht verbieten lassen. Trotzdem hat mich der Gedanke nie losgelassen: Was hätte ich tun sollen? Jedenfalls ist sie bei einem Unfall in Australien ums Leben gekommen. Dieser Verlust kam so unerwartet, dass der Schmerz eine Weile brauchte, um jede Zelle meines Körpers zu erreichen.
Ich habe ihre Überführung organisiert, Kerstin war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ansprechbar, zerbrochen, wie mit einem riesigen Hammer in einzelne Teile zerschlagen und zu keinem Gespräch mehr fähig, nur Tag und Nacht weinend und wimmernd, während ich zwischen Zuständen des betäubten Starrens, des Hasses auf alle Welt und der heulenden Verzweiflung changierte. Dann kam die Beerdigung, ein Akt der Selbstdisziplinierung. Es waren viele Freundinnen und Freunde von ihr da, es war ein Abschiedsfest voller Herzlichkeit, echter Trauer und jugendlicher Fassungslosigkeit. Aber es würde mir heute das Herz brechen, ihr Grab zu besuchen. Die Schmerzen wären nicht erträglich. Der Gedanke zu leben, während die eigene Tochter in der Erde unter dir verrottet. Das könnte ich nicht aushalten. Gerade dieses eine Grab ist mir unmöglich und darum habe ich die Grabpflege bei einem erfahrenen Friedhofsgärtner in Auftrag gegeben. Einmal hat Lara zu uns gesagt, unsere Generation wüsste gar nicht, wie gut es uns ginge. Ich erinnere mich, dass mein Vater das gleiche früher zu mir gesagt hat.
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