Sonntag, 21. September 2014
1990
Auszüge aus dem Notizbuch:
15. Januar, Ingelheim. Was wäre eigentlich, wenn Gorbatschow (wie sich vielleicht im Jahre 2010 herausstellen wird, wenn alles vorbei ist) in Wirklichkeit ein CIA-Agent wäre? Jahrzehnte vor seinem Amtsantritt angeworben, einer unter vielen, um die sowjetische Nomenklatura von innen heraus zu zerstören? Hat der amerikanische Geheimdienst eventuell von den „68ern“ und ihrem „Marsch durch die Institutionen“ gelernt und unter den jungen aufstrebenden Bürokraten sogenannte „Schläfer“ installiert, Agenten also, die nicht für minderwertige Informationsbeschaffung verschlissen, sondern unauffällig, durch Protektion bereits angeworbener Amtspersonen, in den Apparat eingeschleust werden, um später in ihrer finalen Position den Interessen der US-Junta zu dienen?
18. Februar. Vitamine? Tomaten-Ketchup ist mein Gemüse – und ich mag diesen Traubensaft für Erwachsene.
2. März, Berlin. Die Mauer ist ganz pockennarbig und an vielen Stellen schon baufällig. Das Stück zwischen Brandenburger Tor und Landwehrkanal ist schon bis zum Reichstag eingerissen. Touristen aus aller Welt tänzeln über die unsichtbar gewordene Grenze. Vor dem Brandenburger Tor gibt es zwei Fußgängerdurchgänge, so dass man, wie es die meisten tun, durch die rechte Kontrolle zum Tor kommt, dort ein bisschen herumspaziert (die „Rückseite“ der Mauer ist ebenso angeknabbert und bemalt, allerdings ungleich zaghafter als die West-Seite) und dann gleich durch die linke Kontrolle wieder zurück nach West-Berlin geht. Auf der West-Seite: Touristenmassen, Jahrmarktstimmung, direkt an der Mauer werden besonders schöne Bruchstücke derselben feilgeboten. Oben auf der Mauerkrone stehen Touristen und fotografieren sich gegenseitig in der revolutionären Pose des Freiheitskämpfers, mit gereckter Faust und gen Himmel blickend.
4. März. Eisenhüttenstadt, 1951 als Stalinstadt gegründet, ist die hässlichste Stadt der Welt. Vergeblich sucht man nach einem Stadtkern – nur endlos gleichförmige Mietskasernen und Wohnsilos, dazwischen die Hochöfen. Die Luftverschmutzung ist unglaublich, man schmeckt den Dreck auf der Zunge und spürt ihn in der Lunge. Alles ist mit Staub überzogen, alles ist staubfarben. In einer Kneipe auf dem Ku’damm habe ich neulich einen Mann gesprochen, der hier aufgewachsen ist. Seine halbe Verwandtschaft sei schon an Krebs gestorben. Ansonsten vermittelte er mir das typische Bild der Zukunftsangst, das viele „Zonis“ momentan abgeben.
2. April, Bad Kreuznach. Wenn man es sich recht überlegt, ist doch jede Stunde, die man gefaulenzt hat, auf das Sinnvollste verwendet worden. All die Zeitschätze, die er dem Imperium der Vernunft vorenthalten und freudig verschwendet hatte. Keine Minute mochte er missen, die er auf dem Bett liegend oder aus dem Fenster starrend in den Augen anderer vergeudet habe. All die Traumfetzen der zahllosen Nickerchen, all die zufriedenen Grunzer der Behaglichkeit nach einem guten Essen, all das gedankenverlorene Dösen vor dem Fernseher, all die gemütlichen Zeiten der Müdigkeit und der Melancholie. Der süße Zauber vollkommener Untätigkeit ...
23. Mai. Ob ich gestern getrunken habe, möchtest du wissen? Ja, ich habe getrunken, in langen gleichmäßigen Zügen habe ich getrunken, dazwischen kurze heftige Schlucke, die winzigen Gläser, du weißt, dazu immerfort neue riesige Krüge, ich habe maßlos getrunken, fast könnte man sagen, ich habe gesoffen, ein immer währendes Trinken war an diesem Tage, ich wachte schon mit einem unbändigen Durst auf und begann gleich zu trinken, Eimer und was ich an anderen Gefäßen fand, füllte ich und trank, trank, bis mühsam der erste Durst gestillt war.
26. September, Mainzer Allgemeine Zeitung. „Rehborn – Anlässlich des Feiertags (Tag der Deutschen Einheit) am Mittwoch, 3. Oktober, wird vom Gemeinderat um 11 Uhr auf dem Turnplatz eine Linde gepflanzt.“ Für den 21. November ist ein Länderspieltermin zwischen Weltmeister Deutschland und der Auswahl der dann nicht mehr existenten DDR in Leipzig im Rahmen der EM-Qualifikation geplant, doch der Vorverkauf läuft nur schleppend. Es wird schließlich abgesagt, die DDR zieht sich aus der EM-Qualifikation zurück.
2. Oktober. Nun ist es also bald soweit, noch wenige Stunden bis zur Wiedervereinigung. Seit den frühen Morgenstunden werden Feuerwerkskörper an Bundesbürger mit Ariernachweis ausgegeben. Ich blicke von meinem Fenster hinunter auf den Marktplatz, das Fieberbarometer dieser Welt. Es werden Bierstände aufgebaut, man trägt Tische und Bänke herbei, an den Häusern schwarz-rot-gold. „Glück und Segen Deutschland!“ ist die Schlagzeile der Bild-Sonderausgabe. Werden sich hier heute Nacht ähnliche Szenen abspielen wie beim Gewinn der Fußball-WM im Sommer? Oder wird es sogar noch ärger, als es jener Autokorso von rotgesichtigen Säufern und grölendem Pöbel ohnehin schon war?
1. November. Das Faulsein ist die einzige Philosophie, die im Angesicht der Weltkatastrophe ihren praktischen Wert beweist.
P.S.: 1990 bin ich von Ludwixhafen nach Bad Kreuznach gezogen.
Tommy James & The Shondells – Hanky Panky. http://www.youtube.com/watch?v=bsgKZb9jQ1s
Des isch brudahl, des Video. Genauso habe ich die Stadt in Erinnerung - inklusive dem Spruch "Ohne Bad kein Staat" ;o)))
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