Samstag, 20. September 2014
1989
Auszüge aus dem Notizbuch:
11. März. Anfänge für Kurzgeschichten:
„Häuptling ‚Frecher Modestil‘, der Mann mit dem tätowierten Hodensack und dem gefärbten Achselhaar, betritt bitter lachend die Drogerie“.
„Die Nacht fiel wie ein billiger Theatervorhang über Frankfurt und Harald wusste immer noch nicht, wie er seiner Frau den nackten Mann auf dem Balkon erklären sollte.“
„Eine böse Ahnung beschlich Oliver, als ihm der schwarze Koch grinsend einen Apfel in den Mund schob – das war gar nicht der Survival-Kurs, den er in Osnabrück gebucht hatte.“
„In einer eleganten parabolischen Kurve senkte sich der Farbfernseher aus dem zweiten Stock auf die alte Gomolke mit ihrem Pudel nieder. Jemand lachte.“
1. April. Ein Tag ohne Scherze. Ich lag fast den ganzen Tag im Bett. Beethovens Neunte. Das erste Bier. La ultima cigaretta und die böse Lust auf ein spektakuläres Ende. Finale furioso. Julien Offray de La Mettrie, mit dem ich mich – neben ein wenig Schopenhauer, Nietzsche, Svevo und was weiß ich noch alles – beschäftigt habe, ist der Legende nach bei einem Wettessen an einer Pastete erstickt. Welch vorbildhaftes Dahinscheiden. Um dem Zeitgeist Rechnung zu tragen, müsste ich im Kreise meiner Freunde mit einem unverschlingbaren Hamburger im Rachen an einem der Plastiktische von McDonald’s tot umsinken. Genug, genug. Es ist jedes Jahr dasselbe. Sobald die ersten Strahlen der Frühlingssonne drohen, quält mich die Gewissheit einer gesicherten Existenz und die fast schon morbide Gesundheit meiner Jugend mit den absonderlichsten Bildern und Wünschen. Eine fatale Lustlosigkeit bemächtigt sich der Gedanken. Ich erinnere mich an meine Kindheit, als meine Lieblingsantwort auf alle Fragen der Erwachsenen „Ist mir egal“ lautete. Auch heute ist mir alles egal, ich bringe noch nicht einmal den handelsüblichen Zynismus angesichts diverser privater und politischer Problemfelder auf. Es ist, als wären alle Gefühle in dieser Maschine abgestorben, oder besser: abgeschaltet. Nur hie und da ein sanft aufflackernder Hass auf alle Menschen, in besonderen Stunden auch auf mich selbst. Heute Nachmittag überlegte ich – ein Gedanke, den ich früher mehrmals in der Woche hatte, inzwischen aber kaum noch des Bedenkens wert finde -, was ich im Falle eines Atomkriegs tun würde. Ich kam zu dem Schluss, dass ich gar nichts machen würde und dass es mir egal wäre, ob die Welt unterginge oder nicht. Nur um die Tiere und Pflanzen täte es mir ein wenig leid, denn sie wissen nichts von alledem. Sie vertrauen sich gedankenlos ihrem Schicksal an; die Natur als Ganzes hätte dieses Schicksal nicht verdient. Aber wer weiß, welche Ausgeburten der Hölle sie im Laufe der nächsten Milliarde Jahre gebiert? Hirnlose tonnenschwere Saurier, die in der Urzeit das Dasein terrorisierten, intelligente rattenartige Monster, die den Planeten wie billige Geiselgangster in ihre Gewalt nahmen – was blüht dieser Welt noch? Ich wünschte, ich hätte die Phantasie, mir das vorzustellen.
13. Mai. Wo ein Wille ist, bin ich weg.
19. Mai. Mein Mantra heißt Koma.
21. Juli. Vor einer Woche war der zweihundertste Jahrestag der französischen Revolution, heute ist der zwanzigste Jahrestag der Mondlandung. Die Menschen haben nichts gelernt. Sie versuchen immer noch, mit Feuer und Maschinen die Sterne zu erreichen. Mit äußeren Kräften haben sie alles Bisherige erreicht, so arbeiten sie weiter an ihrer Entwicklung, ohne zu begreifen, dass sie sich gerade dadurch eine Zukunft unmöglich machen.
11. Oktober. Lurchi im Himmel
Verschlungen in den Lauf der Zeit/ Dringt Lurchi forsch ins Licht/ Am Ende einer Ewigkeit/ Da wartet sein Gericht.
Das Wort des Vaters noch im Ohr/ Die Knie schlottern arg/ Tritt er vors große Himmelstor/ Im Schatten ruht ein Sarg.
Als Lurchi vor dem Schöpfer steht/ Verfliegt die Qual im Nu/ Ein Ruf durch heil’ge Hallen weht/ „Die Salamanderschuh!“
Drum, liebe Kinder, gebt fein acht/ Und sagt es auch den andern/ Selbst in der tiefsten Höllennacht/ Hilft die Macht von Salamander.
23. Oktober. Wintersemester 1989/90 in Heidelberg, Wohnung in Ludwigshafen.
Meine beste Zeit widme ich wieder Dir, kleines schwarzes Buch. Ich sitze in meinem Sessel am Ofen, trinke Dosenbier und lache über die Zimmerherren. Ähnlich den gleichnamigen Helden aus Kafkas „Verwandlung“ zeichnen sich jene drei Herren, mit denen ich diese Wohnung zu teilen das unzweifelhafte Vergnügen habe, durch eine fortgeschrittene Synchronisation ihrer Verhaltensweisen aus. Ihr Äußeres bietet keinen Anhaltspunkt für eine Unterscheidung, Namen scheinen sie gar keine zu besitzen. Jeden Morgen – in der Nacht sind wieder alle Gesichter verschwommen – gebe ich den Zimmerherren in der Reihenfolge ihres zufälligen Auftretens neue Nummern. Jeder von ihnen tritt gegen 6 Uhr 30 aus seiner Tür in den Wohnungsflur, trägt ein kariertes Hemd und dunkelblaue Arbeitshosen. Die drei identischen abgewetzten braunen Aktentaschen enthalten jeweils eine Thermoskanne und ein Vesperpaket. Am Abend sitzen sie zusammen in einem der drei Zimmer und spielen Skat. Dabei sind kurze, fachspezifische Schreie zu hören. Manchmal unterhalten sich die Zimmerherren auch. Sie sind dabei wie Kinder, rufen laut durcheinander, necken sich zwischendurch und machen einen Heidenlärm. Sie sind, ihrem Idiom nach zu urteilen, aus dem Taunus und arbeiten hier, fern der Heimat und der Familie, „auf Montage“. Ich gehe nie zu ihnen hinüber, sondern bleibe hier am Ofen sitzen und schlürfe das Bier aus meiner Dose.
24. Oktober. Der Kamin prasselt warm. Zwei riesige Füße liegen auf einem Schemel und schauen mich an. Ich lächele zurück und wechsle das Programm. Nun berichtet mir S., eine sanfte Seherin, die meine schwindelerregende Bergeinsamkeit bisweilen zu mindern pflegt, von einer Beobachtung, die sie a) anlässlich einer mexikanischen Peyote-Party in einem grasgrünen Ford Transit machte, b) an einen ähnlichen Fall im Jahre 1972 erinnerte, als ihr Cousin mütterlicherseits von einer Abrissbirne erschlagen wurde, c) eigentlich ja niemand erzählen dürfe, aber bla bla. Ich habe echt keine Ahnung, wie diese Geschichte zu Ende ging. S. schweigt jetzt wieder. Sie ist wunderschön, wenn sie schweigt. Ewig stumm wäre sie eine Göttin der Anmut. Doch schon huscht ein Lächeln über ihr Gesicht und tausend Jahre sind vorbei. Ich sitze am Kamin und grinse ins Feuer. Über meine Füße könnte ich mich totlachen.
19. November. Wenn die Welt aus Gold wäre, würden sich die Leute Scheiße um den Hals hängen.
Klasse 4a der Grundschule in Ingelheim-West. Ich bin der ultracoole Typ mit dem Muscle-Shirt genau in der Mitte. Für das Foto habe ich extra meine Zigarette aus dem Mund genommen.
P.S.: Was ist aus den Menschen auf diesem Bild geworden? Ein Mädchen wurde Ärztin in Frankfurt, eine wurde Architektin in Amerika, eine Journalistin für die Tabakindustrie. Ein Junge wurde Wissenschaftler, einer starb schon mit zwanzig an Krebs (der Klügste der Klasse), einer musste wegen Drogenhandels in den Knast und mein Freund Jan, der rechts neben mir zu sehen ist, wurde Rock-Gitarrist in Kalifornien und war mit seiner Band gerade auf Europa-Tournee. Mein anderer Freund aus dieser Zeit, Branislav "Bané" Jevtic, dessen Eltern zwei jugoslawische Restaurants in unserer Kleinstadt hatten, lebt inzwischen ebenfalls in Kalifornien.
The Prodigy – Poison. http://www.youtube.com/watch?v=_mej5wS7viw
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