Mittwoch, 25. Juni 2014
Suchen und Finden
Ich suche nach einer Briefmarke, weil ich nach langer Zeit einmal wieder eine Ansichtskarte schreiben möchte. Ich besitze noch zahlreiche unbeschriebene Ansichtskarten und mache mir gelegentlich den Spaß, einem Freund einen Urlaubsgruß aus Stockholm oder Peking zukommen zu lassen, obwohl ich gerade in Schweppenhausen bin und den Rosen vor dem Fenster beim Blühen zuschaue. Zuletzt hatte ich das Heftchen mit den selbstklebenden Marken in einer Schublade gesehen, also beginne ich mit der Suche an meinem Schreibtisch. In der ersten Schublade finde ich diverse Erinnerungsstücke, zum Beispiel die Metallkappe eines Champagnerkorkens der Marke Veuve Clicquot. Ich hatte die Flasche für ein Rendezvous gekauft, aber die Dame, der das köstliche Nass zugedacht war, hatte sich beim Sturz auf einer Treppe am Tag zuvor einen Zeh gebrochen und war unpässlich – also habe ich sie im Kummer alleine geleert. Dann ein Stück Seife aus dem Hotel Riviera in Diano Marina. Ich muss als Kind dort gewesen sein, denn als Erwachsener habe ich zwar viele Reisen nach Italien unternommen, hatte aber nie Urlaub an der Riviera gemacht. Aber ich erinnere mich an Mantua, Padua, Venedig, Florenz, Rom und Neapel, während ich den immer noch frischen Geruch der Seife einatme. Ich finde ostasiatische Münzen mit einem runden Loch in der Mitte und fremden Schriftzeichen, winzige Zehn-Cent-Münzen aus Holland mit einem Bild der Königin im Profil, italienische Hundert-Lire-Münzen, eine Johnny Walker-Anstecknadel und eine einzelne Büroklammer (ansonsten pflegen sie ja immer in Rudeln aufzutreten).
Hier sind sie also nicht. Schublade, Schublade … mhm … mein Haus hat zehn Zimmer, in denen sich diverse Tische und Kommoden mit Schubladen befinden. Dazu kommen noch die Schubladen in der Küche. Ich begebe mich also auf die Wanderschaft durchs Haus. Ich beginne im Esszimmer. In der großen Kommode sind nur das Kaffee-Service und stapelweise Teller und zwei Dutzend Gläser, mit denen man eine Hochzeit feiern könnte. Aber in der Ecke steht noch ein winziges Möbelstück mit zwei schmalen Schubladen. Es finden sich rote Gummibänder, Büroklammern und abgegriffene Kupfermünzen darin, überhaupt findet man in Schubladen, wie ich im Laufe meiner Suche feststellen werde, grundsätzlich rote Gummibänder, Büroklammern und Münzen. Sie scheinen der Grundbestand aller Schulbaden zu sein. Dazu finde ich überall Kugelschreiber, die nicht mehr funktionieren, deren Aufdrucke aber gelegentlich zu weiteren Erinnerungen führen. Ein Hotel in Las Vegas … was für eine Nacht. Wir haben bis zum frühen Morgen an Poker-Automaten gezockt und Drinks für einen Dollar abgekippt. Den Schlüssel hatten wir am nächsten Tag aus Versehen mitgenommen und ihn in einen Briefkasten in Arizona geworfen – auf dem Weg zum Grand Canyon.
In der Küche stoße ich in der Schublade neben der Besteckschublade auf ein paar Hustinetten-Bonbons aus der Kaiserzeit. Die angefangene Tesafilm-Rolle scheint hingegen aus der Bronzezeit zu stammen. Und dann die Streichholzbriefchen mit Aufdruck: Jedes schickt dich auf eine neue Reise. Restaurants, Cafés, Bars aus aller Herren Länder. Was habe ich da gegessen? Was habe ich getrunken? Dazu die uralten Zuckerwürfel, auf deren Papierverpackungen die Eigenschaften von Sternzeichen zu finden sind. Ich bin ein Löwe, also selbstbewusst, zielstrebig und großzügig. Ein Siegertyp. Aha! Warum habe ich dann keinen Job und bin ständig pleite? Werden Archäologen einst diese Zuckerschätze bergen? Dann die vielen Schlüssel, von denen ich nicht weiß, was sie aufschließen. Überall Schlüssel! Geheimnisvolle Türöffner – was wollt ihr mir sagen? Indiana Jones wäre jetzt schon in ein neues Abenteuer verstrickt. Und dann erst die Schlüsselanhänger … ein Gärtner mit grüner Latzhose und Strohhut reckt den Daumen nach oben. Eine Gurke mit einem lächelnden Gesicht. So sahen Gurken zuletzt aus, als ich auf LSD war. Aber ich erinnere mich: Das verlängerte Wochenende im Spreewald in den Neunzigern. Heiliger Scheißdreck! Mein ganzes Leben zieht an mir vorüber. Was suche ich nochmal? Egal. Ich muss zurück an meinen Schreibtisch und diesen Text schreiben.
Die Fantastischen Vier – Tag am Meer. http://www.youtube.com/watch?v=uFX_ZQCPerk
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