Samstag, 7. Juni 2014
Die sanfte Diktatur
Die Geschichte der Menschheit ist geprägt von grausamen Herrschern, von Unterdrückung und Gewalt. Ob es die Tyrannen und Despoten der Antike, ob es die Kaiser und Könige des Mittelalters oder ob es die faschistischen und kommunistischen Diktatoren des zwanzigsten Jahrhunderts waren – Millionen Menschen fielen der Gewalt der brutalen Herrscher zum Opfer, Milliarden beugten demütig ihr Haupt vor ihnen. Es ist die Herrschaft des Schwertes über die Vernunft gewesen. Aber dieses männliche Zeitalter, das zehntausend Jahre währte, ist nun vorbei.
Die Diktatur der Gegenwart hat ein weibliches Antlitz. Sie ist sanft, sie umsorgt uns. Sie möchte, dass es uns gut geht. Wir sollen für sie arbeiten, uns aber nicht überarbeiten. Es gibt Sicherheitsbestimmungen am Arbeitsplatz, es gibt Arbeitszeitregelungen. Wenn wir krank werden, stehen uns Ärzte, Krankenhäuser und Erholungsheime zur Verfügung. Wir sollen das Leben genießen, aber wir sollen auf Zigaretten, Alkohol und Drogen verzichten. Die sanfte Diktatur möchte, dass wir gesund sind. Und sie möchte uns beschützen. Daher überwacht sie unsere Häuser und Straßen, unsere Computer und Telefone, um uns vor Terroristen und Verbrechern zu schützen – und manchmal auch vor uns selbst. Vor Fehlern, vor Schwäche, vor Handlungen, mit denen wir uns schaden, unserer Gesundheit und der Gesundheit anderer. Zukünftig werden unsere wesentlichen Daten wie Blutdruck, Gewicht oder Cholesterinwert elektronisch erfasst und an zentrale Datenbanken weitergegeben, die uns warnen und helfen können. So wie ein Auto heute ein Warnsignal abgibt, wenn wir nicht angeschnallt sind oder beim Ausparken einem anderen Fahrzeug zu nahe kommen, wird es ein Warnsignal geben, wenn wir eine Flasche Bier öffnen oder eine Zigarette anzünden. Zukünftig werden die Autos gar nicht mehr losfahren können, wenn wir nicht angeschnallt sind. Und bald wird der Schokolade der schädliche Zucker entzogen sein. Es ist alles nur zu unserem Besten.
Warum brauchen die Konzerne so viele Informationen über uns? Warum wollen sie wissen, was wir kaufen, wo wir uns aufhalten, mit wem wir sprechen und was wir denken? Weil sie uns helfen möchten. Sie möchten uns bei unseren Kaufentscheidungen unterstützen und uns neue Vorschläge machen, wie wir unser Leben bereichern können. Die Konzerne helfen uns, das Leben zu optimieren. Wir können Zeit sparen, wenn wir ihren Vorschlägen folgen. Wir können Geld sparen und zugleich Lebensfreude gewinnen. Die sanfte Diktatur möchte, dass es nicht nur dem Produzenten am Arbeitsplatz gut geht, sondern auch dem Konsumenten. Niemand will mehr den Tod eines Andersdenkenden. Gewalt ist nicht notwendig, wenn man überzeugen kann. Und haben wir nicht die besten Autos, die besten Computer, die besten Filme und die beste Nahrung der Menschheitsgeschichte? Und erst die ganzen Spiele! Nicht nur für Kinder, sondern vor allem für Erwachsene: Spiele auf dem Notebook, Spiele auf dem Smartphone, Rate- und Gewinnspiele im Fernsehen, im Radio und im Internet – dazu die ganzen Kriminalfilme und –romane als Ratespiel für die ältere Generation.
Wir haben die permanente Wahl: Welche Schuhe wollen wir, welchen Brotaufstrich, welches Reiseziel, welchen Klingelton, welchen Politiker? Es ist nicht nur unlogisch, sondern auch unmöglich, sich außerhalb des Systems zu bewegen. Hier gibt es alles und es ist gut für dich. Keine Generation vor uns war jemals so frei wie wir. Aber es ist die Freiheit mechanischer Spielfiguren, in die man eine Münze wirft, damit sie lächelnd zu einer Melodie tanzen. Wir sollten unser politisches und ökonomisches System einfach „Mutter“ nennen.
Anne Clark – Our Darkness. http://www.youtube.com/watch?v=OguHIyNNblM
Ja Matthias, das macht mir doch wieder bewußt wie unfrei ich doch bin in meinem Irrglauben Frei und Autonom zu sein.
AntwortenLöschenEs weckt in mir die Sehnsucht nach Stille und innerer Schau.
Schlimm, es hält einem erschreckend nah den Spiegel vors Gesicht...... Wie sehr sind wir doch gefangen, absolut machtlos. Wir können den Weg (mit-)gehen oder an der Gesellschaft zerschellen.... :-(
Löschentrue story. related: https://www.youtube.com/watch?v=x64cy3Bcr98
AntwortenLöschenauf die Idee bin ich noch nicht gekommen, die heutige Zeit als "Diktatur mit weiblichem Antlitz" zu bezeichnen - denn dahinter stecken abgesehen von wenigen Ausnahmen eben immer noch vorwiegend Männer...
AntwortenLöschenVöllig richtig! Es sind Männer, genauer gesagt: weiße, biodeutsche, heterosexuelle Männer aus dem Geldadel, die dieses Land beherrschen. Ich habe nicht geschrieben, dass Frauen das Land regieren (und mit "regieren" meine ich nicht die Politik), sondern die Methoden der Herrschaft immer weiblicher werden. Die Herrschaft bedient sich zunehmend der Pädagogik statt der Peitsche, Belohnung statt Bestrafung als Methode im Personalmanagement, das Objekt der Ausbeutung wird scheinbar umsorgt, Elemente eines vorgespielten Verständnisses wie Frauenquote, Mindestlohn, Umweltschutz, Tierrechte umhüllen den stählernen Apparat des Kapitalismus wie bunte Zuckerwatte. Es geht mir nicht um das natürliche Geschlecht der Akteure, sondern um den stilistischen Wandel von der alten zur neuen Diktatur. Möglicherweise habe ich das im Text nicht genügend klar gemacht.
LöschenSpät kommt er, aber er kommt. Schöner Text, aber das Bild, das du gewählt hast, mag mir auch nicht so richtig schmecken. Das sind die alten Rollenklischees, die wie ich finde schon lange nicht mehr stimmen. Bei uns im Borgwürfel sind die weiblichen Führungskräfte inzwischen locker genauso schlimm wie die alten männlichen. Keine Spur von Empathie, soziale Krüppel, krankhaft egomanisch und dazu noch eitel bis zur Karikatur. Alles, was sie erzählt haben, stimmt nicht. Die Welt wird nicht besser, nur weil plötzlich Frauen am Ruder sind.
AntwortenLöschenIm Osten meiner Stadt gibt es Mädchengangs, die der Gewalt der Jungs nicht nur in nichts nachstehen, sondern sie sogar noch übertreffen, weil es inzwischen nicht mehr reicht, dass das Opfer auf dem Boden liegt, sondern es wird dabei auch noch gefilmt und in WhatsApp-Gruppenchats bloßgestellt. Es geht inzwischen um soziale und gesellschaftliche Vernichtung derer, die man bereits körperlich gedemütigt hat. Das war bei uns auf dem Schulhof noch anders. Lag einer auf dem Boden, dann war gut.
Wie schon gesagt, du hast hier einen sehr guten Text geschrieben, dem ich in vielem zustimmen kann, aber dein Mutterbild, naja, ich schiebe es mal auf dein Alter. ;)
Einen hab ich noch zum Thema Nanny-Staat: Wusstest du, dass man dieses Gepiepe für das Nichtanschnallen im Auto gar nicht abklemmen lassen darf. Ich war in der Werkstatt und sie haben sich geweigert. Irgendwas von EU-Vorschriften gefaselt. Ich finde das Kabel und dann klemm ich es eigenhängig ab, genau wie das von der Einparkhilfe, das wie verrückt fiept, wenn nur ein von einem Baum fallendes Blatt sich dem Auto nähert.
LöschenHallo, Mike. Danke für deinen Kommentar. Nochmal zur Klarstellung: Es geht nicht um Weiberherrschaft, sondern um die Verweiblichung von Herrschaft. Es geht nicht um die körperlichen Geschlechtsmerkmale von Vorgesetzten, Konzernbossen und demokratischen Marionetten, sondern um die Merkmale der Herrschaft. Daher habe ich das Bild der Mutter gewählt. Es ist völlig gleichgültig, ob du eine Chefin oder einen Chef hast, denn Muschi und Schwanz haben dieselben Herrschaftsmethoden. Denk nur mal an Politiker: Golda Meir hat ihre Soldaten in den Tod geschickt wie ein Mann, Margaret Thatcher ebenso und Merkel bzw. von der Leyen tun es genauso. Es ist egal, ob eine Frau oder ein Mann dir Befehle gibt, ob es um deinen totalitären Borgwürfel, die FIFA, die GEZ oder die katholische Kirche geht – es ist immer das gleiche Muster: An jedem gottverdammten Freitagnachmittag, wenn Schicht im Schacht ist, machst du dir die Stöpsel in die Ohren, drehst „Thunderstruck“ von AC/DC bis zur Hörsturzgrenze auf und tanzt nach Hause, um das Elend zu vergessen, dieses Spiel von Herr und Knecht …
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