Donnerstag, 22. Mai 2014
Briefe an Josef K.
Den folgenden Brief hat mir ein gewisser Helmut Marlow geschrieben. Die Assoziation mit dem berühmten Privatdetektiv von Raymond Chandler macht die Sache noch aufregender.
„Sehr geehrter Arbeitssuchender
Mit diesem Brief teilen wir Ihnen mit, dass Ihre Bewerbung von uns angenommen wird. Jedenfalls, sollen wir alle Arbeitsbedingungen sobald wie möglich nennen.
Wichtig: keiner Anfangsgebühr wird benötigt um mit der Arbeit zu beginnen. Um ein Bewerbungsformular zu kriegen, bitte, melden Sie sich auf www.yvonne.co.ua/de
Vielen Dank,
Stellvertretender Direktor für Arbeitskräfte
Helmut Marlow“
Ich suche gar keine Arbeit. Ich schreibe auch keine Bewerbungen. Dennoch bin ich von „ihnen“ angenommen. So muss sich Josef K. gefühlt haben, als er eines Morgens verhaftet wurde. Was mache ich jetzt? Wird mich dieses Arbeitsverhältnis endlich reich machen oder endgültig arm? Immerhin erlässt man mir die „Anfangsgebühr“, die ja bekanntermaßen spätestens am ersten Arbeitstag fällig wird. Aber zwischen mir und dem Glück einer Erwerbstätigkeit liegt noch jenes ominöse Formular, das ich von „Yvonne“ bekomme. Yvonne, Inbegriff meiner unerfüllten Träume! „Yvonne“, rufe ich nachts in fiebrigem Halbschlaf, aber die namenlosen Götter der Sehnsucht und ihrer Erfüllung schweigen nur spöttisch. Yvonne! Schwarze Locken auf nackten Schultern über einem trägerlosen Kleid aus blauer Seide, ihre vollen Lippen formen sich zu einem Vokal der Lust, den ich nicht verstehe, ihr Blick ist ein antikes Rätsel, dessen Lösung einer noch ungeborenen Generation in ferner Zukunft vorbehalten sein mag. „Yvonne! Ich brauche das Formular …“ Aber mein Schrei dringt nicht mehr durch den ungeheuren Lärm des Schiffshorns jenes abfahrenden Ozeandampfers, von dessen Heck mir Yvonne mit ihrem Taschentuch zuwinkt.
Bisher habe ich immer nur die Briefe von afrikanischen Generälen und anderen bedeutenden Menschen bekommen, deren Vermögen ich retten sollte. Ich habe sie nie beantwortet, denn ich wollte mich nicht an der Not anderer Menschen bereichern. Aber Helmut Marlow, dem stellvertretenden Direktor für Arbeitskräfte, und seiner bezaubernden Assistentin bin ich rettungslos verfallen.
P.S.: ”The Voice” Frank Sinatra singt “I’ve Got You Under My Skin”. http://www.youtube.com/watch?v=_XCVnV5CGh0
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