Sonntag, 26. Mai 2013
Friedel Castor: Last Exit Dotzheim
Es folgt eine kurze marxistische Sonntagsmesse – ich bitte um Ruhe!
Ihr braucht Euch um die Gesundheit des Kiezschreibers keine Sorgen zu machen. Unsichtbar wacht aus der Ferne ein alter Held vergessener Tage. Unter einem albernen und völlig sinnlosen Pseudonym (nicht so voreilig Freunde! Die Überraschung kommt erst ganz am Schluss) muss er aufgrund seiner aufrechten Haltung in seinen Jahren als Jung-Siegfried das kostbare Wissen des deutschen Antifaschismus wie der letzte Druide unter der Geißel des römischen Imperialismus an eine neue Generation furchtloser Untergrundkämpfer weitergeben.
Ich bin auch jetzt noch nicht würdig genug, seinen Namen auszusprechen (zumindest nicht öffentlich). Jeder in unserer unbedeutenden Heimatstadt kennt ihn und dennoch würde keiner seinen Namen preisgeben. Damals nicht und heute nicht. Wir brauchen dafür auch keine Rituale, Orden und albernen Schwüre. Wir haben ganz einfach den Marxismus (kurze Zwischeninfo: die Uni-Bibliothek wird leider ab morgen bestreikt. Die Studienbedingungen sollen inzwischen auf dem Niveau von Albanien sein, aber immer schön weiter Atomkraftwerke in die bayrischen Urwälder bauen – Bäume können ja nicht schreien oder weglaufen … ganz toll. Aber ich spar mir jetzt einfach mal die Verbalinjurie).
Ungebrochen, schweigsam und allein ist er in diesem Augenblick irgendwo da draußen: Ein bescheidener Halt für seine nähere und ferne Umgebung und selbstverständlich ist er trotz seiner ungebrochenen Popularität zu keiner Zeit eine Gefahr für seine Mitmenschen. Ich muss seine neue Heimatstadt nicht nennen. Viele kennen sie und dennoch müssen wir wertlosen Erwerbsmenschen uns um die Ruhe dieses tapferen Einzelkämpfers nicht sorgen. Seine Karriere können wir aus Gründen der Sicherheit (ein verdächtiger Mann kommt gerade herein) nur in unverfänglichen Stichworten, mit denen unsere politischen Gegner nichts anfangen können (neue Liste ab 1. Juni in totem Briefkasten „hinter Rewe“), und diesmal wirklich ohne Rückfragen, weil es ja heute um was ganz anderes gehen soll: Startbahn West – Last Man Standing (ganz heiße Sache, bitte nicht mehr mailen, da sonst Server überfordert); sehr lange im Untergrund (und mehr sag ich echt nicht, Stefan); aktuelles Projekt seiner vollkommen autonomen Ein-Mann-Zelle: Anflug auf das böse Herz des Imperiums, die Frankfurter Börse (die Beta-Version ist echt krass, sieht aus wie in einem Kinofilm – zum Glück gibt’s die alten Klugscheißer mit den Schreibmaschinen nicht mehr! Stell dir mal vor, wir müssten alle drei Tage irgendwelche Farbbänder wechseln! Kein Wunder, dass es bei dieser Steinzeittechnik mit dem Sozialismus nicht geklappt hat. Oder war das Kommunismus? Naja, egal. Das mache ich nächstes Semester).
XY, wir folgen dir! Du bist unser Eisen- und Blutschild gegen Faschismus, Imperialismus, Fordismus, Kubismus und jetzt mal ganz konkret Wiesbaden-Dotzheim (nein, wir losen jetzt nicht noch mal, Rüdiger): Diese Pestbeule am Hintern des hessischen Finanz-, Turbo-, Mord-, Ausbeutungs- und Ikeakapitalismus muss ausgelöscht (bitte, Sven: „ausradieren“ gibt doch wieder Diskussionen) werden. Wir haben das wirklich alles sehr lange ausdiskutiert und das ist eben das Ergebnis. Tut uns leid! Ihr Dreckskapitalisten hattet im Beschleunigungszeitalter schließlich ausreichend Gelegenheit, euch begrifflich, inhaltlich, methodisch (ich kürze jetzt mal ab: Revolution ist wahre Beschleunigung, ihr Faschos!! Schon mal Delaforce gelesen, Schlafmütze? Ironie aus. Grüße auch an Oma99. Alles gut angekommen. Muss Schluss machen, eilige Sache und nachmittags Schwimmschule) auf den bewaffneten Kampf entschlossener Volksmassen (zu Fragen des Zivildienstes wird sofort nach Abschluss der Regierungsübernahme ein Ausschuss gebildet, er tagt vermutlich erst mal nicht öffentlich, Klaus, weil es sonst echt ein bisschen unübersichtlich wird) vorzubereiten.
Glaubt ihr echt, wir verschieben die Sache noch mal, ihr Schwachköpfe?! Glaubt ihr Bonzenschweine, Ihr könnt uns aufhalten? Ihr werdet unseren Anführer niemals finden! Obwohl wir ihn in ein weit entferntes Land bringen mussten, um ihn vor Interpol, Gestapo, Mossad, Kik und Uli Hoeneß zu schützen, ist er uns in unseren kleinen zerbrechlichen Hasenherzen doch immer nahe. Gegen seinen gut getarnten und weitläufig von undurchdringlichem Dornengestrüpp und wegloser Einöde umgebenen Unterstand ist mein antiker Pappkarton mit Holzbein ein geradezu palastartiges Anwesen. Frau und Kind werden ihm unter großen Entbehrungen und natürlich nur stundenweise von den allertreuesten Gefährten (keine Klarnamen!) mit verbundenen Augen zugeführt, die es in stummem Dienst an einer großen Sache, die weit über jedem einzelnen von uns steht, im Anschluss klaglos hinnehmen, als nahrhafte Speise für den weiteren Kampf gegen die Unterdrückung der Menschheit, ja – und jetzt scheue ich mich tatsächlich nicht, auch einmal pathetisch zu werden (man wirft uns Marxisten ja immer vor, nicht wahr, wir wären so gefühllos – schade, wäre eigentlich auch mal wieder ein gutes Thema gewesen, ich schreibe es irgendwo in eine Datei) für die Eroberung des gesamten Universums (Klingt blöd? Wenn alle Marxisten sind, gibt’s keine Faschos mehr, kapiert? Bitte noch mal auf Start und das nächste Mal genauer zuhören, bevor du hier einen endlosen Monolog hälst, der uns allen wirklich die letzten Energien raubt).
Ich komme zum Ende, da mein Wortschatz nicht ausreicht, die Kraft seiner strahlend blauen Augen zu beschreiben, denen der winzige Fingerzeit einer gequälten Kreatur genügt, um augenblicklich explosionsartig sämtliche Instinkte zu aktivieren und mit einer einzigen, erst mit modernster Technik optisch überhaupt erfassbaren Bewegung seines Schließmuskels für alle Zeiten die Ketten der Zensur, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Faschismus und Feminismus, von Häusern und Türmen zu sprengen. (Apropos „gequälte Kreatur“: Ausnahmen wirklich nur in dringenden Fällen – und jetzt mal kurz was zur Frage der bewegungsinternen Frauensolidarität: Wegen dieser Pi-Mo, Po-Mi oder wie die heißt (die mit der Warze an der Nase) haben wir das reingenommen mit ihren Scheißallergien. Kommt heute nicht. Logo. Ist ja Samstagnacht. Kann man ja auch einfach mal woanders hinfahren. Wenn ich einen Schwerbehindertenausweis hätte, würde ich in so einer schönen Mainacht auch mehr unterwegs sein. Kost ja nix! Aber wenn man die Dinger fälscht, gibt’s Ärger, habe ich gehört).
Die Beschreibung seiner Ausbildung in einer eigens für ihn entwickelten Weltraumkapsel durch Elite-Ninja-Turtles erspare ich mir hier; Danke an Red Bull für die Solidarität, von der wiederum 7,3 Prozent als Spende (frag doch nicht immer so blöd, die Zahlen bestimmt unser Steuerberater) an die Welthungerhilfe in Offenbach überwiesen wird. Ihr braucht den Mann auch nicht jedes Mal mit Tränen in den Augen anzustarren, ey – kennt irgendjemand in diesem Ghetto die Worte „Inkognito“ und „Diskretion“? Wir haben hier 1765 am Hauptbahnhof gegen die Neonazis fast eine ganze Kommandostruktur verloren, als Tobias den Busfahrplan verloren hat und diese Schwachköpfe „einfach mal spontan“ in irgendeinen Bus gestiegen sind, ohne zu wissen, wo es hingeht. Bis alle wieder zu Hause ankamen, war es schon längst dunkel. Toll. Tag gelaufen. Nachts gehört die Gegend den Albanern. Ich würde besser nicht rausgehen, aber du kannst es gerne probieren. Ich wohne hier schon fast ein Jahr und brauch das nicht mehr. Aber wenn du als Pazifist nach 9 Jahren gewaltlosem Widerstand eine Messerstecherei mit Drogenhändlern und Zuhältern brauchst, nur um diesen ungesunden Kram zu kaufen. Da ist übrigens soviel Zucker drin wie in einem Zeppelin, aber du hörst mir ja nie zu. Wisst ihr Cyperface-Süchtigen überhaupt noch, was ein Zeppelin ist?
Wagt es nur, den Kiezschreiber (Adresse googeln, wir sind bei gutem Wetter vielleicht vegan grillen) blöd anzumachen! Dann wird’s richtig hässlich, Leute! XY war mit mir auf einer Schule, wir haben viel zusammen durchgemacht (repressives Milieu). Leute aus der „Szene“, für die echte Solidarität (nachschlagen, du Juso-Penner! Boah ey, sag bloß, du bist aus Schwaben? Bist du wenigstens schwul?) kein Fremdwort ist, brauchen kein Pfefferspray. Ihr habt nur die Gewalt, uns gehört die Zukunft. Lacht uns nur aus! Uns gehört nicht nur die gesamte Zukunft, sondern auch viele weitere Dinge, die derzeit noch in Arbeitsgruppen ausdiskutiert und dann einfach mal per Mail rumgeschickt werden, um der Burgeroisie mit seinen verstaubten Ansichten und bewegungslosen Hierarchien, die aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen scheinen, etwas fundamental Neues entgegen zu setzen. Es reicht! Doch, Ulla. Wir haben lange genug diskutiert. Linke sind viel geduldiger als rechte. Und warum? Jetzt mal der Neue da hinten, der hat noch gar nichts gesagt! Ach so? Taubstumm und aus Albanien? DU HIER NIX SCHROTT VERKAUFE ! VERSTANDE ?!
Ich kürze das jetzt mal ab, weil wir in einer historisch so einmaligen Gesamtkonstellation wie heute ab 14 Uhr ausnahmsweise mal keine Zeit für Endlosdebatten und Protokollgefechte haben. Sein finanziell durch den jahrelangen und zermürbenden Prozess um die eigentlich hoffnungslos an Krebs erkrankte Tochter (Pharmaindustrie war schuld) ruinierter Vater (die kindle-Version seiner Memoiren kommt ab ca. 12. Juni in den Handel) hat sich schon vor vielen Jahren in Richtung Süden abgesetzt. Quellen, die so unglaublich wichtig sind, dass wir sie eigentlich gar nicht öffentlich Quellen nennen dürfen, weil wir uns natürlich auch nicht permanent in Gefahr begeben wollen (vor allem, wenn wieder Vollmond ist), haben uns mitgeteilt (nein, diesmal nicht im Hauptbahnhof, Frank! Warum willst du das eigentlich jedes Mal so genau wissen?), dass es ihm gut geht. Dicht hinter der Grenze wartet er auf einen günstigen Moment zum Angriff auf den Feind, dem er einen lebenslangen und überhaupt sehr hartnäckigen Fußpilz verdankt, den er sich auf der Flucht zugezogen hatte. Drei Tage lag er in Basel mit hohem Fieber in einem kaum faustgroßen und vollkommen lichtlosen Verschlag, wo er einsam, aber ungebrochen mit dem Tode rang. Darüber sollten diese angeblichen „Profis“ von den Medien mal schreiben, statt immer nur mit anderen Angehörigen ihrer parasitären und unglaublich herrschaftsstabilisierenden Kaste (DAS BLEIBT. Sollen mich die Drecksbullen doch einbuchten!) in uncoolen Raucherkneipen abzuhängen. Draußen scheint übrigens die Sonne, ihr Ignoranten. Schon mitgekriegt, dass der Frühling da ist? Oder soll ich euch erst den Rollator abstauben, ihr Langweiler? Typisch, Mann. Aber natürlich alle mit Festanstellung. Da hast du als Frau gar keine Chance. Ich habe es echt versucht. Aber die haben mich gleich am ersten Tag so fertig gemacht, das war eigentlich schon strukturelle Gewalt. Aber wenn in so einer Situation nicht zufällig eine andere Frau dabei ist, hast du keine Chance. Siehste ja an diesem Nuschelgreis und der Stern-Reporterin. Brauchste gar nicht erst klagen. Vor Gericht halten die Machos zusammen. Mauer des Schweigens. Ich bin dann auch einfach gegangen und habe das später in der Gender-Mainstreaming-Gruppe meines Studentenwohnheims aufgearbeitet, ohne dass ich gleich darüber einen fetten Artikel in der Uni-Zeitung schreiben musste wie Barbara.
Er ist einer dieser Menschen, von denen es einmal heißen wird: Wo endet seine Geschichte und wo beginnt sein Mythos? Alles verbindet sich in der Figur dieses modernen Helden zu einem Kosmos von großartiger Bedeutung, für die uns an dieser Stelle leider die nötige Zeit fehlt. Und kommt mir nicht mit dieser ewigen Leier von wegen der islamischen Feiertage, an denen ihr den Abschnitt nicht schreiben durftet. Toleranz hat Grenzen. Irgendwo ist das alles ja auch eine Ausrede. Statt am 1. Mai ein Subotnik zu machen, rennt ja alles gleich nach Öffnung der Türen in die nächstbeste Kaschemme, um sich volllaufen zu lassen.
P.S.: Hohe Orden und akademische Grade können nur ausnahmsweise und selbstverständlich auch erst postum entgegen genommen werden. Und Diskretion schreibt man nicht mit CK, Gundula! Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Noch ist es nur ein Praktikumsplatz …
P.P.S.: Letzte Warnung an alle Fanatiker da draußen! (Wo bleibt die Aufzählung, Ken?). Falls es irgendetwas gibt, dass auch nur entfernt nach einem Juristen oder Hessen aussieht und dass sich jetzt noch aus der Deckung wagt, spielt nicht nur mit dem eigenen Leben, sondern mit den gesamten zivilisatorischen Errungenschaften unserer Hauptstadt, wenn nicht sogar Europas. Toleranz hat Grenzen – treibt es nicht zu weit! Und das alles mit allem zusammenhängt und damit natürlich auch deine Scheißmalediven, wissen wir selbst, Uschi. Ich will hier nicht drohen, weil das sonst nicht unsere Art ist (eure schon), aber Fanfreundschaften kann man auch beenden. Hallo! Kapiert? Wie deutlich soll ich noch werden, „Sheldon“.
P.P.P.S.: Ach du Scheiße! Gendern vergessen. Das gibt’s doch nicht. Gibt’s da noch keine App? Typisch Microsoft. Lahmärsche. Aber Apple kaufe ich schon aus Prinzip nicht.
Ich komme nun wirklich zum Schluss: Es heißt, er sei noch bescheidener geworden. Er selbst würde übrigens solche überflüssigen Bemerkungen gar nicht kommentieren und nur mit stummem Blick auf Uhr, Picknickdecke und seinen Rikschamann den Aufbruch einleiten, um wortlos Taten wahrer Manneskraft folgen zu lassen, da es an diesem Ort nutzloser Geschwätzigkeit für ihn offenbar nichts mehr zu tun gibt.
Samstag, 25. Mai 2013
Samstagabendunterhaltung im Brunnenviertel
Zur allgemeinen Auflockerung für meine Leserschaft ein kleines Quiz zum Thema „Street Credibility“, das die Digital Natives uns älteren Semestern jetzt gerne als neuen Trend und als moderne Begrifflichkeit nahebringen möchten:
Was heißt „Street Credibility“ auf Arabisch?
Oder was heißt „Nicht nach der ersten Kanne Früchtetee am späten Vormittag übermütig werden und gleich dem ersten zufälligen pädagogischen Impuls nachgeben“ auf Russisch?
Sind Sie schon einmal ohne Pressebegleitung und nur aufgrund persönlicher Sympathie in eine türkische Wohnung eingeladen worden?
Welche großen Religionen werden in den türkischen Wohnzimmern angebetet? Nennen Sie mir bitte die nur die unbestritten wichtigste?
Kleiner Tipp: Es sind keine echten Religionen und die Anhänger dieses seltsamen Brauches, dessen historischer Ursprung und eigentlicher Sinn leider verloren gegangen sind, tragen in Deutschland bei jedem Wetter einen Schal um den Hals. Außerdem ist es eine Fangfrage und nur ein kleiner Spaß für die Jungs in den Teestuben.
Bonusfragen für Berliner:
Nennen Sie mir drei nicht-türkische Lieblingsclubs türkischer Fans in Ihrem Kiez und drei türkische Lieblingsclubs nicht-türkischer Fans innerhalb von sechzig Sekunden, ohne den Telefonjoker einzusetzen! Finger weg!! Konzentration …
Wo zieht man in einer syrisch-orthodoxen Kirche seine Schuhe aus? Am Eingang, kurz vor dem Altarbereich oder überhaupt nicht?
Zum Schluss nur noch eine kurze Bemerkung zu unserer deutschen Kultur, denn nachher spielt Kloppo im Champions League-Finale gegen das Reich der Finsternis und morgen ist auch noch der Grand Prix von Monte Carlo. In meinem Alter und bei meinem Zwei-Finger-Tempo auf diesen dankenswerterweise „verbesserten“ Tastaturen muss man einfach Prioritäten setzen. Früher war mehr Lametta! Wir Rheinhessen neigen gelegentlich zu derben Späßen, die man uns gerne mit gleicher Münze heimzahlen kann. Dann darf man uns auch gerne aus vollem Halse und vor möglichst vielen spottlustigen Zechern ins Gesicht lachen. Leider sind unsere Fähigkeiten, die eigene Kultur hier in der Hauptstadt sichtbar zu machen, offenbar beschränkt.
Ich weiß: Bei „deutscher Kultur“ ballt mancher Zeitgenosse reflexartig die linke Faust und der rechte Arm zeigt mahnend in Richtung einer bleiernen Vergangenheit. Ich kannte mal einen hessischen Notarsohn, der mir nach etlichen Bier auf einer Party mit tieftraurigem Blick und selbstverständlich unter vier Augen gestand, er sei Achteljude. Aus Gründen der Diskretion gegenüber meiner Familie habe ich auf seine Gegenfrage nicht geantwortet.
Freitag, 24. Mai 2013
Der SPD Berlin ins Gebetbuch geschrieben
Was ich – und das nicht nur im Wahlkampf, sondern ganzjährig – richtig innovativ fände, wäre eine Kennzeichnungspflicht für Politiker. Sie stehen in der Öffentlichkeit, sie werden von der Öffentlichkeit bezahlt und könnten auf diese Weise natürlich auch sehr leicht in der Öffentlichkeit angesprochen werden. Ich fand diese Namensschildchen am Jackett schon immer ganz toll, manchmal sieht man in Berlin ganze Rudel Menschen, die alle mit einem freundlichen kleinen Schild gekennzeichnet sind. Sie haben kein Problem, ihren Namen und ihre Funktion preiszugeben, wenn sie in der Tagungspause bei Vapiano essen gehen oder bei Starbucks einen Latte Haumichblau und ein phantasievoll benanntes Gebäckstück erwerben. Selbst wenn der Generaldirektor der Raiffeisenbank von Pirmasens im vollen Ornat und mit glänzendem Namensschild auf der Heldenbrust ins KaDeWe marschiert, um seiner Gattin einen platinveredelten Parmesanhobelhalter zu kaufen, und anschließend mit der U-Bahn durch ganz Neukölln zum funktionierenden, alten Teil des Flughafens Schönefeld fährt, ist es den Berlinern so egal wie der Kantinenplan von letzter Woche.
Warum also keine namentlichen Kennzeichen für Parteimitglieder? Es eröffnet ganz neue und überraschende Gesprächsperspektiven im Alltag, die Politik wäre buchstäblich bei den „Menschen draußen im Lande“ und man bekäme ein permanentes Feedback für die erbrachten Leistungen. Umständliche Marketingstudien würden entfallen und neue Ideen bekämen die Damen und Herren Volksvertreter quasi rund um die Uhr aus vollen Fässern gezapft – ohne teure Beratungsagenturen, Anwaltskanzleien, Menschenbeobachter in Geheimdiensten und Trendforschungsbüros, Heerscharen von fragwürdigen „Interessenvertretern“, Finanzberater der Berater, andere Berater, die wieder Berater beraten, die dann irgendwann natürlich ratlos sind, endgültig den Überblick verlieren und nicht mehr funktionieren – Last Exit Urnengrab, Nervenheilanstalt oder mit ein wenig Glück auch die Job-Center-Resterampe.
Man muss in diesen wunderbar duftenden Maitagen nur ein wenig vor die Tür gehen, durch die längst kotfreien Straßen vieler Bezirke spazieren und einmal den Mund halten – dann kommen die Menschen und Ideen wie von selbst auf Sie zu, meine Damen und Herren von den Parlamentsfraktionen. Man darf sich gerade im Wahljahr nicht vor den 82 Millionen Arbeitgebern im Reichstag verstecken, wenn man seinen Zeitvertrag noch einmal verlängert haben möchte. Also nicht übermütig werden und dem Chef auf der Straße auch mal zuhören. Übrigens ist jeder Obdachlose und jeder Hartz IV-Empfänger auch einer Ihrer Arbeitgeber. Bewerben Sie sich jetzt! Zur optischen Aufbesserung habe ich als alter Vereinsfußballer noch eine Idee. Auf der Rückseite des Politikers einfach ganz groß und im bewährten sozialdemokratischen Rot das Parteikürzel anbringen: SPD.
Übrigens ist der einzige sympathische Sozialdemokrat, den ich in meinen drei Jahren im Brunnenviertel persönlich kennen- und sehr schätzen gelernt habe, ein gebürtiger Syrer und gelernter Berliner. Von solchen stillen und aufrechten Parteimitgliedern, denen es der Stolz ihrer uralten Kultur und ihre tadellose Erziehung in einem anständigen Elternhaus schlichtweg verbietet, den Herrenmenschentonfall eines neuzugezogenen Jungakademikers anzuschlagen, können – und jetzt enschuldigen Sie bitte einen kurzen Moment des Zorns – sich Menschen wie dieses unreife Früchtchen, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte, weil er vermutlich sonst mit dem Rechtsanwalt seines Vaters in Westdeutschland droht (schließlich weiß er als frischgebackener Politikwissenschaftler und kluger SPD-Stratege, dass er den arbeitslosen Fachkollegen mit einem einzigen Prozess finanziell ruinieren und obdachlos machen kann), eine ganze Scheibe abschneiden. Der Mann leistet seit vielen Jahren großartige Arbeit für die Jugend im Kiez, seine Frau ist Krankenschwester und die beiden haben zwei wirklich tolle Kinder, die jetzt schon besser erzogen sind, als es viele namenlose Karriere-Alpinisten in sämtlichen Altparteien dieser Republik je seien werden.
Donnerstag, 23. Mai 2013
Antwort an Jan Dzieciol, Quartiersrat des QM Brunnenviertel-Brunnenstraße
Auszug aus Ihrem Kommentar vom 23. Mai 2013: „Doch das Quartiersmanagement als Treiber der Gentrifizierung darzustellen, halte ich nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich. Vor einiger Zeit wurde auf das QM Brunnenstraße ein Anschlag verübt - das Bekennerschreiben enthielt die gleichen Vorwürfe.“
Ich finde es nicht nur traurig, sondern geradezu unverschämt, dass Sie einen Menschen, der aus Gewissensgründen im Kalten Krieg den Dienst an der Waffe verweigert und zwanzig Monate Zivildienst geleistet hat (Altenzentrum Ingelheim, Betreuung der Pflegestufe III), der bei dem bekannten Friedensforscher Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff promoviert hat, der vom Suhrkamp-Verlag aufgefordert wurde, als Experte eine Gandhi-Biographie zu verfassen, in die Nähe von polizeilich gesuchten Gewalttätern stellen. Normalerweise antworte ich auf solche albernen Frechheiten von Mitarbeitern der Finanzbranche gar nicht, aber selbst der friedfertigste und geduldigste Mensch kommt an seine Grenzen. Verbreiten Sie Ihre Beleidigungen und Unterstellungen in Zukunft bitte an Orten, die zum Niveau Ihrer geistigen Ergüsse passen: Schreiben Sie etwas mit einem fetten Edding an irgendeine Scheißhauswand in Ihrem Viertel. Sie sind diesen Verbrechern, die Steine brauchen, weil sie nicht sprechen können, geistig näher als Sie denken.
Und noch eine kleine Info für Sie: Ich war 1999 wissenschaftlicher Experte des Deutschen Instituts für Urbanistik für das Thema Quartiersmanagement und kannte den großartigen und liebenswerten Herrn Häußermann selbst sehr gut aus der gemeinsamen Arbeit. Die entsprechende Senatsverwaltung hat mich regelmäßig zu den Beratungen eingeladen, ich kenne mich mit dem Thema schon ein klein wenig aus. Trotzdem freue ich mich natürlich über jede Form der unerwünschten Belehrung, weil ich dabei sehr viel über Menschen wie Sie lernen kann. Und noch eine nicht unwesentliche Information zur Person des ehemaligen Kiezschreibers im Brunnenviertel: Ich bin seit 2002 Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) in Hannover. Hinter der Berufung zum Akademiemitglied stehen weder der Zufall, mein blendendes Aussehen noch linksradikale Steinewerfer. Bitte antworten Sie mir nicht. Leben Sie wohl!
Quartiersmanagement und Zensur
Vor einem Jahr gab es im Brunnenviertel eine Diskussion um einen Artikel zum Thema „Gentrifizierung“, der im dortigen Kiezmagazin der beiden Quartiersmanagements erscheinen sollte. Die Entscheidung, den Artikel nicht abzudrucken, hat auch über die Kiezgrenzen hinaus für Gesprächsstoff gesorgt. Ich selbst habe drei Jahre im Auftrag einer Kulturinitiative mit beiden Quartiersmanagements im Brunnenviertel zusammen gearbeitet und gehöre zu den Gründervätern des Kiezmagazins „Brunnen ¼“ (leider habe ich mich bei der mehrmonatigen Namenssuche nicht durchsetzen können …). Allein die vielen Nachmittage, in denen fröhlich über das Pro und Kontra des großen I („Binnenmajuskel“ ist der hässliche Ausdruck, den Klugscheißer gerne dafür benutzen) gestritten wurde, werden mir unvergesslich bleiben. Diese Leidenschaft wünscht man sich im täglichen Umgang mit den Kiezbewohnern draußen vor den Konferenzzimmern. Richtig unangenehm war aber immer die Einflussnahme auf die Inhalte, so dass ich mich nach einem halben Jahr aus der Mitarbeit am Magazin zurückgezogen habe. Hier mein diesbezügliches Schreiben an eine Projektverantwortliche (redaktionsinterner Spitzname: „Margot“) aus dem Herbst 2009 in anonymisierter Form. Es ging darum, ob die Abbildung eines Sektglases auf einer Fotografie im Kiezmagazin bereits islamfeindlich und provokant ist. Das wurde sehr kontrovers und mit großer Schärfe diskutiert.
„Liebe X,
ich habe lange nachgedacht und mit drei befreundeten Redakteuren und einer deutsch-türkischen Journalistin diskutiert, nun habe ich beschlossen, mich nicht mehr am Kiezmagazin zu beteiligen. Der Streit der vergangenen Wochen ist mir auf den Magen geschlagen und ich liege nächtelang wegen dem Scheiß wach. Es verdirbt mir langsam den Spaß am Schreiben – und da hört der Spaß natürlich auch gleich auf.
(…) Es gibt nun einmal unterschiedliche Kulturen in den beiden QMs, das wird am Streit ums Sektglas sehr deutlich. Für uns alle war es kein Problem, fürs QM YZ offenbar ein großes, denn es kam der Vorwurf, die gesamte Redaktion sei nicht „kultursensibel“ genug. Eine große Keule, die gegen ein zerbrechliches Gläschen Blubberwasser geschwungen wird. Über das Sektglas habe ich am längsten nachgedacht, haben wir am längsten diskutiert. Es sollte eigentlich kein Problem sein, in einer deutschen Publikation ein in hiesigen Breiten geläufiges und auch von vielen Migranten hochgeschätztes legales Genussmittel abzubilden. Ich glaube kaum, dass islamistische Fundamentalisten die deutschen Tageszeitungen mit Leserbriefen bombardieren, nur weil sie derzeit zum Oktoberfest Biergläser in den Illustrationen zeigen. Wo zieht man da die Grenze? Müssen wir als nächstes eine Passantin im Mini-Rock retuschieren? Die Amish haben ein Problem mit elektrischen Geräten – was machen wir da? Wer redet mit den Zeugen Jehovas, deren Gefühle wir ja auch nicht verletzen wollen? In meinen Kurzgeschichten wird beispielsweise auch Alkohol getrunken. Darf ich das denn noch veröffentlichen? Also, bei allem Verständnis: Toleranz ist keine Einbahnstraße. Ich schreibe doch nicht für einen Kiez in Teheran. Wir haben ja schließlich keine Mohammed-Karikaturen veröffentlichen wollen, oder? Und ich merke langsam, wie sich dieses Gift der Zensur wie Säure durch meinen Kopf frisst. ‚Was darf ich, was darf ich nicht?‘ Und so möchte ich nicht arbeiten, ich will da jetzt auch gar keinen abgehobenen Dünnpfiff von künstlerischer Freiheit und Meinungsfreiheit oder so fabulieren. Ich habe einfach keinen Bock drauf. Ich bin sicher, dass du Verständnis dafür hast, dass ich an diesem Punkt auch solidarisch mit meinem hochgeschätzten & supernetten Förderband-Kollegen ZXY bin, der seinerseits den Bettel als Redaktionsmitglied hingeschmissen hat und bereits nicht mehr im Impressum der Erstausgabe steht.
Ich hoffe, unser freundschaftliches Verhältnis leidet nicht unter meinem Ausstieg. Ich verstehe mich mit allen im Team gut, alle anderen Projekte (Öffentlichkeitsarbeit, Weblog, Buch, Homepage) laufen ja auch. Der Stress kommt von außen und den bin ich jetzt los.
Viele liebe Grüße
Matthias“
P.S.: Da im Januar 2011 die Zahl der Redaktionsmitglieder des Kiezmagazins praktisch auf Null gesunken war, bin ich noch einmal in die journalistische Arbeit eingestiegen. Da war alles noch viel schlimmer. Die Quartiersmanager (d.h. die Herausgeber) waren inzwischen in einer eigenen Arbeitsgruppe eifrig damit beschäftigt, einen schriftlichen Kanon für dringend benötigte Gastbeiträge zu entwerfen (welche Worte erlaubt seien und welche nicht, wie der Plural zu formulieren sei, welche Themen, Organisationen und Personen tabu wären, „Gender“ und biographischer bzw. ethnologischer Hintergrund der Bewerber, Anzahl der Korrekturschleifen bis zur einer möglichen honorarfreien Veröffentlichung, in welchen Fremdsprachen sollen Abstracts zu den Artikeln ins Blatt, in welchen nicht und warum nicht, ist das schon Diskriminierung oder ist allein das deutsche Wort „Fremdsprache“ ein faschistischer Dämon, der uns mit maliziösem Lächeln und selbstverständlich alternativlos in den Orkus des Vierten Reiches hinab stößt usw. ad infinitum – das umfangreiche Konvolut ist bis heute unter Verschluss und ist von zahllosen Mythen und Legenden innerhalb des Berliner Projektuniversums umrankt), der dem „Neuen Deutschland“ in seinen erfolgreichsten Zeiten zur Ehre gereicht hätte. In einer Debatte mit den Quartiersmanagern (hauptsächlich Innen) ging es beispielsweise um die Formulierung „eine türkische Familie“ in einer Spielplatzbeschreibung. Total harmlos. Wir sind im Wedding. Das soll vorkommen, dass auch Menschen ohne Ariernachweis auf den hiesigen Spielplätzen anzutreffen sind. Ist das Adjektiv „türkisch“ schon für sich genommen eine Diskriminierung, eine Ausgrenzung, ein Zeichen von Unverständnis? Zehn Erwachsene streiten eine ganze Stunde lang, es wird laut, Tränen fließen. Wäre die Diskussion anders verlaufen und hätte es weniger Aufregung gegeben, wenn die Formulierung „eine schwedische Familie“ gelautet hätte? Keiner weiß das. Schließlich heißt es nur noch „eine Familie“, die betroffene Kollegin ist sprachlos. Das Quartiersmanagement hat gesprochen.
P.P.S.: Hatte ich schon erwähnt, dass ich auf meine Mail weder eine schriftliche noch eine mündliche Reaktion bekommen habe? Nur Schweigen. Merkwürdiges Volk.
Mittwoch, 22. Mai 2013
Quartiersmanagement und Gentrifizierung
Seit einigen Jahren schon sind die Berliner Quartiersmanagements in der öffentlichen Kritik, da sie angeblich zur Gentrifizierung der von ihnen betreuten Stadtgebiete beitragen. Fragt man einen Quartiersmanager, würde er den Zusammenhang zwischen den Maßnahmen des Quartiersmanagements und einer konkret zu beobachtenden Aufwertung des Viertels nicht sehen. Auch in den schriftlichen Selbstauskünften der verschiedenen Projektträger wird Gentrifizierung nicht als Ziel benannt und auch nicht in der Praxis als Ziel verfolgt. Dennoch ist die empirische Koinzidenz beider Prozesse seit Beginn der Implementierung dieses neuen Instruments der Stadtentwicklung im Jahre 1999 nicht zu übersehen. Fast überall, wo Quartiersmanagements tätig sind, sind nicht nur die Straßen sauber (den patrouillierenden Kiezläufern sei Dank) und mit Blumen zugepflastert (kenne ich aus meiner Kindheit, bei uns hieß das „Unser Dorf soll schöner werden“ und dann wurden wirklich die Geranienkästen gezählt …), sondern die Mieten steigen und zwangsläufig nimmt die Fluktuation der Wohnbevölkerung zu. Der Helmholtzplatz (Prenzlauer Berg) ist ein gutes Beispiel für diese Entwicklung. Ein zukünftiges Beispiel wird das Brunnenviertel sein, wenn etwa 1200 neue Bewohner in das Luxusghetto im Mauerpark einziehen und das Sozialgefüge im Kiez erheblich verändern werden. Quartiersmanagement hat die Aufgabe, in ausgewählten sozialen Brennpunkten für eine „bessere“ Mischung der Bevölkerung nach zuvor festgelegten Sozialkriterien zu sorgen. So ist es definiert. Wenn es in einem Viertel „zu viele“ alte, arbeitslose, arme oder migrationshintergründige Personen gibt, droht die Ghettobildung. Darum muss die Mischung der Bevölkerung angepasst werden. Wenn es in einem sozialen Brennpunkt also zu viele Angehörige der Unterschicht gibt, müssen Angehörige der Mittel- und Oberschicht dorthin. Solange bis die Mischung stimmt. Armut soll sich nicht verfestigen und in Arbeitslosigkeit und dauerhafter Abhängigkeit von Transferleistungen soll sich niemand behaglich einrichten. Die Menschen sollen in Bewegung gesetzt und anpassungsfähiger werden: Mobilität und Flexibilität lauten die Stichworte, die man in jeder Bewerbungsmappe finden kann. Also ist Gentrifizierung nur ein Kollateralschaden einer an sich tollen Sache wie den Berliner Quartiersmanagements. Sie selbst können ja irgendwie nichts dafür, diese lieben netten Sozialtanten und Erklärbären in den Stadtteilläden. Oder klingt das jetzt zu sarkastisch?
Mittwoch, 15. Mai 2013
Ein Tag im Leben der Menschheit
Was war denn heute eigentlich los?
Eine hochschwangere polnische Alkoholikerin bricht in einem Schnapsladen zusammen und kommt ins Krankenhaus. Das Baby hat bei der Geburt 4,5 Promille.
Formel 1-Impresario Bernie Ecclestone soll wegen Korruption in München vor Gericht gestellt werden (wie die Nazis und der FC Bayern).
Menschen können endlich geklont werden – Kaffee ist der lang gesuchte Beschleuniger des Verfahrens.
Auf Sylt schlagen zwei Handwerker einen japanischen Koch tot, weil ihnen das Essen nicht geschmeckt hat. Sie sind nicht festgenommen worden, sondern leben immer noch mitten unter uns.
Den Rest wollen wir doch gar nicht mehr wissen, oder? Kriegstote, Hungertote … - irgendwann sind es nur Statistiken, die unser Wohlbefinden und unsere Verdauung stören.
Tegernseer Tönnchen II
Nach über zwanzig Jahren Berlin denkst du dir: Ich habe alles erlebt. Ich habe Kate Winslet bei Dreharbeiten in meinem Kiez gesehen, am Nachbartisch von Otto Sander beim Italiener gegessen und mit Helge Schneider an der roten Ampel gewartet. Was soll denn jetzt noch passieren? Was könnte mich vom Hocker hauen? Es war Mittagszeit und ich sitze mit einem kühlen Engelhardt (ältere Berliner wissen, was gemeint ist) vor dem Gasthaus meiner heutigen Wahl, um dem Volk mal wieder auf’s ungewaschene Maul zu schauen, da der tatsächliche Informationsfluss aus den Medienkonzernen und Staatssendern immer dünner wird. Und was kommt in diesem Augenblick den Bürgersteig entlang gewatschelt? Eine Entenmutter mit ihren sieben Küken. Gehen wie selbstverständlich am Lokal vorbei und würdigen mich keines Blickes. Hinter ihnen hat sich ein kleiner Stau von Bürolurchen gebildet, die bei dem herrlichen Wetter ihre dunkelgrauen Anzüge gegen hellgraue Exemplare getauscht haben. Ehrfürchtig halten sie Abstand, auch die Jugendlichen hinter ihnen haben von ihren Smartphones aufgesehen und betrachten jetzt neugierig die Tiere. Womöglich gibt es eine Tiererkennungs-App, die ihnen weiterhilft. Selbst die Kellnerin, die seit Jahrzehnten im Beruf ist, hat so etwas noch nicht gesehen. Dit is Berlin, ey!
Montag, 13. Mai 2013
2013
Es ist wie in einem Schlauchboot, das ganz langsam und von allen unbemerkt im Laufe der Jahre seine Luft verliert. Es wird unangenehmer, wir merken es. Die Reise verläuft träge und es wird kalt am Hintern. Dann sagen sie uns, wir wären zu dick und deswegen würde das Boot so tief im Wasser liegen. Aber es ist wahr: Der ganzen Gesellschaft geht allmählich die Luft aus, wir sacken unaufhaltsam ab. Wer von deinen Freunden und Kollegen hat jemals ein Haus gebaut? Wer von ihnen hat sich in den letzten zehn Jahren einen Neuwagen gekauft? Unsere Eltern haben Häuser gebaut und die neuesten Autos gekauft, das war eine Selbstverständlichkeit und keine Ausnahme von der Regel. Wir leben gegenwärtig auf Pump, unsere Eltern und unsere Kinder zahlen für uns, und ich bin gespannt, wann die heiße Luft aus dem Schlauchboot endgültig verbraucht ist. Wenn wir erst mal wieder schwimmen lernen müssen, werden wir auf jeden Fall wach.
Montag, 6. Mai 2013
Berlin-Besucher
Ein langer Spaziergang durch den Tiergarten und ein anschließender Erfrischungstrunk im Schleusenkrug boten mir die willkommene Gelegenheit, meine langjährigen soziologischen Feldstudien zum Phänotypus des Berlin-Touristen unter freiem Himmel fortzusetzen. Ins Herz geschlossen habe ich dabei eine Frau um die sechzig mit offenbar frisch geschnittenen, kurzen, knallroten Haaren und einer nagelneuen Wrangler-Jeansjacke, der eigentlich nur noch das herabbaumelnde Preisschild zur optischen Vollendung fehlte. Sie heißt vermutlich Ursula, stammt aus Recklinghausen und hat ihr Berufsleben als Sachbearbeiterin im Jugendamt verbracht. Sie ist Gewerkschaftsmitglied und hat früher SPD gewählt (jetzt wählt sie grün, weil ihr für links der Mut fehlt), sie ist geschieden und die Kinder sind aus dem Haus. Sie ist auf den Punkt auf ihren Berlinbesuch vorbereitet und schaut sich die ganze Zeit um, wo denn die anderen Leute aus der „Szene“ sind, die zu ihr passen könnten. Eigentlich wird diese Frau nur noch von den Brandenburger Punks übertroffen, die sich einmal in der Woche einen Irokesen basteln, um dann am Samstagnachmittag unter den Gleisbrücken am Bahnhof Zoo rumzustehen (da wo zu Mauerzeiten mal die Drogenszene war) und jeden Passanten anzubrüllen, der sie ansieht oder nicht: „Seh ick aus wie’n Fernseher oder watt?!“
Sonntag, 5. Mai 2013
Taxi zur Bank
Ein Deutscher landete in Zürich, um sein Schwarzgeldkonto aufzulösen. Der Mann hatte ein schmales Gesicht und ein starkes Gebiss. Er hatte kein Gepäck und nahm sich ein Taxi, um vom Flughafen in die Stadt zu kommen. Der Taxifahrer – ein quirliger junger Mann – fragte ihn routinemäßig, ob er schon einmal in Zürich gewesen sei und wie es ihm gefiele. Der ältere Herr erzählte freimütig, dass er eine Million Franken loswerden müsse. Deswegen müsse er zu seiner Bank, allen Deutschen würde ja bekanntlich dieses Jahr ihr Konto gekündigt werden. Er wirkte gekränkt.
„Geld macht nicht nur glücklich, sondern auch jede Menge Sorgen“, sagte er nachdenklich.
„Na, ihre Sorgen möchte ich haben“, antwortete der Taxifahrer.
„Sie können sich den Druck gar nicht vorstellen, den ein Vermögen erzeugen kann. Ich liege oft nachts wach und kann nicht einschlafen. Das Geld ist wie ein Kind, um das ich mir Sorgen mache.“
„Haben Sie Kinder?“
„Ja, mein Sohn ist Rechtsanwalt und lebt in Hannover.“
„Was wollen Sie denn mit dem Geld machen? Ausgeben?“
„Geld ausgeben ist genauso schwer wie Geld verdienen. Mein Leben lang habe ich das Kapital vermehrt. Mir würde es körperlich Schmerzen bereiten, wenn ich sinnlos Geld ausgeben müsste.“
„Geld ausgeben ist doch kein Problem. Das ist viel leichter als Geld verdienen“, sagte der Taxifahrer und lachte in den Rückspiegel.
„Was würden Sie denn mit einer Million machen?“
„Na, ausgeben. Was denn sonst?“
„Junger Mann, eine Million können Sie nicht einfach so ausgeben. Eine solche Summe investiert man.“
„In was soll ich denn investieren? Ich bin Single, mein Taxi ist fast abbezahlt – also wie soll ich denn da noch investieren? Wo ist denn überhaupt der Unterschied zwischen investieren und ausgeben?“
„Bei einer Investition bekommen Sie etwas heraus. Im Idealfall mehr Geld, als Sie investiert haben.“
„Aber dann hätten Sie ja noch mehr Geld! Ihre Probleme würden größer werden.“
Der alte Mann schwieg eine Weile.
„Wissen Sie, was ich mit dem Geld machen würde? Ich würde nach Sils Maria fahren, das ist der schönste Ort in der ganzen Schweiz. Und ich würde mir im besten Hotel das schönste Zimmer nehmen. Kennen Sie das Waldhaus?“
„Nein, ich mache nie Urlaub in der Schweiz.“
„Das ist ein alterwürdiges Hotel, da haben schon Hermann Hesse und Thomas Mann gewohnt. Der Blick auf den See ist herrlich. Natürlich würde ich Halbpension nehmen. Tagsüber würde ich durch die Täler wandern oder am Seeufer.“
„Das sind ja sehr konkrete Pläne. Waren Sie denn schon mal da?“
„Ja, aber nur in einer kleinen Pension übers Wochenende. Aber ich will da unbedingt wieder hin.“
Der alte Mann schwieg wieder und schien nachzudenken. „Wenn ich Ihnen das Geld einfach schenken würde? Dann wäre ich das Schwarzgeld los und könnte das Konto schließen.“
„Schenken?“ Der Taxifahrer riss erstaunt die Augen auf. „Einfach so?“
„Warum nicht? Sie fahren mich wieder zum Flughafen zurück und anschließend weiter nach Graubünden zu Ihrem Hotel.“
„Wahnsinn. Super!“ Der junge Mann lachte laut auf und klopfte sich auf den Schenkel. „Warum kommen Sie nicht einfach mit?“
„Ich?“ fragte der alte Mann irritiert.
„Na klar! Wir nehmen uns jeder eine Suite und lassen es richtig krachen. Mit Roomservice und Champagner. Was meinen Sie?“
„Ich sehe gerade auf meinem iPhone nach, was der Spaß kostet.“ Er schwieg eine Weile. „Da brauchen wir ein halbes Jahr, bis das Geld ausgegeben ist.“
Der Taxifahrer schüttelte lachend den Kopf.
„Waren Sie schon mal in Tokio? Da wollte ich schon immer mal hin. Wir bleiben ein paar Wochen am Silser See, entspannen uns, und dann fliegen wir von Zürich nach Japan. Die Leute sollen dort total nett sein, dazu die vielen Wolkenkratzer in Tokio. Das wäre doch klasse, oder?“
Der alte Mann lächelte zum ersten Mal. „Ja, das wäre toll. Ich bin selbst noch nie dagewesen. Geschäftlich war ich immer nur in China und dort ist es nicht schön.“
„Also ziehen wir’s durch?“
„Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen.“ Der alte Mann lächelte wieder und sah aus dem Fenster.
Freitag, 3. Mai 2013
1. Mai
Es ist immer interessant zu beobachten, gegen wen sich Volkes Zorn am ersten Mai richtet. Folgenden Einrichtungen wurden die Scheiben eingeschmissen bzw. die Fassade beschmiert: Job-Center (Steglitz, Lichtenberg, Johannisthal, Pankow, Charlottenburg, Reinickendorf), Banken (Neukölln, Wedding), SPD-Büro (Wedding), mehrere Bürogebäude und sämtliche Quartiersmanagements im Wedding. Gentrifizierung war das diesjährige Schwerpunkthema der Proteste, als Orte der Verdrängung und Aufwertung identifizieren Experten und Bewohner in Berlin auch das Brunnenviertel. Professor Harald Simons (empirica) antwortete auf die Frage „Wo sind die nächsten Gebiete in Berlin, die gentrifiziert werden, die also aufgewertet werden und in denen einkommensschwache Haushalte verdrängt werden?“ in einem Interview mit der Berliner Zeitung vom 27.8.2012: „Nach unseren Analysen wird es zum Beispiel das Brunnenviertel sein, das Gebiet rund um den Humboldthain, der Sparrplatz – der ganze südliche Wedding.“ Manja Ehweiner, die vor vier Jahren mit ihrer Familie aus dem überteuerten Prenzlauer Berg ins Brunnenviertel gezogen war, fragt sich in einem Artikel (Kieze im Dialog, 4.3.2013), wie lange sie sich ihre Wohnung noch leisten kann, und fürchtet sich vor einer neu entstehenden Gated Community im Mauerpark. Wer wohl in zehn Jahren in diesem Kiez wohnen wird?