Montag, 6. Mai 2013
Berlin-Besucher
Ein langer Spaziergang durch den Tiergarten und ein anschließender Erfrischungstrunk im Schleusenkrug boten mir die willkommene Gelegenheit, meine langjährigen soziologischen Feldstudien zum Phänotypus des Berlin-Touristen unter freiem Himmel fortzusetzen. Ins Herz geschlossen habe ich dabei eine Frau um die sechzig mit offenbar frisch geschnittenen, kurzen, knallroten Haaren und einer nagelneuen Wrangler-Jeansjacke, der eigentlich nur noch das herabbaumelnde Preisschild zur optischen Vollendung fehlte. Sie heißt vermutlich Ursula, stammt aus Recklinghausen und hat ihr Berufsleben als Sachbearbeiterin im Jugendamt verbracht. Sie ist Gewerkschaftsmitglied und hat früher SPD gewählt (jetzt wählt sie grün, weil ihr für links der Mut fehlt), sie ist geschieden und die Kinder sind aus dem Haus. Sie ist auf den Punkt auf ihren Berlinbesuch vorbereitet und schaut sich die ganze Zeit um, wo denn die anderen Leute aus der „Szene“ sind, die zu ihr passen könnten. Eigentlich wird diese Frau nur noch von den Brandenburger Punks übertroffen, die sich einmal in der Woche einen Irokesen basteln, um dann am Samstagnachmittag unter den Gleisbrücken am Bahnhof Zoo rumzustehen (da wo zu Mauerzeiten mal die Drogenszene war) und jeden Passanten anzubrüllen, der sie ansieht oder nicht: „Seh ick aus wie’n Fernseher oder watt?!“
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