Donnerstag, 18. Juni 2009
Beobachtungen in Gaststätten
Nidda. Hat es der Altkanzler doch noch in die Geschichtsbücher geschafft: Auf der Speisekarte eines Lokals auf der kurischen Nehrung wird die "Kartoffelwurst Helmut Kohl" angeboten. Das gab’s doch seit dem Bismarckhering nicht mehr.
Berlin. Das "Leopold’s" ist so bayrisch wie ein China-Restaurant in Rostock chinesisch ist. Wahlweise hat man von den "rustikalen" Holztischen den Blick auf das trostlose Hochbahn-, Beton- und Stahlelend am Alex oder auf das Innere einer heruntergekommenen ostzonenmäßigen "Mall", in dem sich besagtes Lokal befindet. Das Interieur ist Bayern-Fake von der Stange und so wundert es nicht, daß es das "Leopold’s" gleich viermal in der Stadt gibt. Neugierig machte mich eine Reihe Buchattrappen auf einem Regal über der Garderobe. Was möchte uns der Dekorateur damit sagen? Bücher habe ich bisher in bajuwarischen Schankstuben nie gesehen. Ein Zugeständnis an die Akademisierung der Gesellschaft, ein Lockmittel für zaudernde Intellektuelle mit fleischlichen Gelüsten? Auf seine Kosten kommt der Carnivore hier allemal: Würste, Braten und Haxen ohne Zahl werden auf der in Plastik eingeschweißten Speisekarte feilgeboten. Der von mir bestellte Wildschweinspieß kommt zügig und ist korrekt, die Bedienung ist irgendwo zwischen DDR und bemüht, kommt aber ohne die verlogene Mütterlichkeit und das leutselige Gefasel der Original-Gaststuben Süddeutschlands aus. Das Publikum ist vorwiegend um die Sechzig an diesem Sonntag. Es wird ausschließlich Bier getrunken, die Männer aus großen, die Frauen aus kleinen Krügen. Am Nebentisch sitzen zwei Ehepaare, die mit der Routine des Alters wechselseitig die tausendfach erzählten Kurzgeschichten ihres Lebens zum besten geben. Zunächst kokettieren die Damen bei der Lektüre der Speisekarte mit Salaten, aber man geht nicht in ein solches Lokal, um sich gesund zu ernähren. Alsbald kommen dampfende Teller, die Gerichte werden von der Kellnerin beim Servieren weithin hörbar angesagt: "Einmal Schweinshaxe", "Bratwurst". "Halber Meter" ergänzt einer der Herren und blickt mit triumphierendem Lausbubengrinsen in die Runde. Fünfzehn Minuten geschäftiges Kauen und Schweigen, ich leere meinen zweiten Krug. Beim Hinausgehen sehe ich, daß der alten Mann den halben Meter Bratwurst nicht geschafft hat. Er wirkt enttäuscht und traurig.
München. Ich sitze in einem Biergarten nahe dem Schloß Nymphenburg. Es ist warm, das Bier schmeckt und das Valentineske der Szenerie ist mit Händen zu greifen. Alsbald nähert sich ein grantiger Kriegsveteran meinem Nachbartisch. Seine linke Hand ist zerstört, einige dunkelrote Strünke ragen aus seinem Unterarm hervor. Er setzt sich auf einen der wenigen Stühle, von denen aus man direkt auf eine Betonwand blickt. Als die Kellnerin, die jegliche Konversation mit einem lang gezogenen "Sooo" einleitet, endlich kommt, bestellt er sich ein Bier und weist daraufhin, "die Anderen" sollen selbst bestellen. Das macht neugierig. Wenig später erscheint in der Ferne ein stark übergewichtiger Mann auf Krücken mit einem Begleiter. Schildkrötenhaft zieht er am anderen Ende des Biergartens seine Bahn, um nach einer Weile (sie mag etwa drei Züge aus meinem Bierkrug umfassen) seinem alten Kriegskameraden Gesellschaft zu leisten. Anstatt nun auf einem der vielen Stühle am Tisch Platz zu nehmen, räumt er umständlich mit einer Hand, mit der anderen auf die Krücken gestützt, den Stuhl neben dem Einhändigen von einer Zeitung frei. Danach fragt er den mürrischen triefäugigen Alten – und da ihm seine Fettleibigkeit Atemnot bereitet, bleckt er dabei seine tiefgrauen Zahnreihen zu einem humorlosen Totenkopfgrinsen - , ob denn das fragile Sitzmöbel ihn tragen könne. Durch ein Grunzen positiv beschieden, senkt er alsdann sein breites Gesäß. Der Vorgang dauert lange und wird durch jenes herausgepresste Stöhnen begleitet, das wir gemeinhin von schweren Verstopfungen kennen. Nachdem er glücklich auf dem Stuhl angelangt ist, widmen sich die beiden Alten der Getränkekarte. Mit einer Mischung aus Entrüstung und Fassungslosigkeit lesen sie sich wechselseitig vor. "A Viertelliter Apfelsaft ... vier Mark!" "Orangensaft ... Wahnsinn!" "De Schnäps konnst glei goar ned saufen ... sechs Mark!" Dieses Ritual wiederholt sich, als sich endlich auch der Begleiter des Dicken an den Tisch setzt.
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