Dienstag, 10. September 2024

Mit dir steht die Zeit still

 

Die Nacht verliert ihre Macht, die Sterne erlöschen. Bonetti, der Lyrik zu massiven Halsketten mit seinem Namenszug schmieden kann, erhebt sein gesalbtes Haupt. Während die ganze Republik die Hoffnung längst aufgegeben hat und sich beim Frühstück zwischen Illusion und Verzweiflung entscheiden muss, macht der Meister seine ersten Atemübungen, um sich der Geister seiner Zeit zu entledigen. 32 Grad im Schatten gemeldet? Jetzt an warme Schuhe für den Winter denken. Kalte Füße sind der Anfang. Dann kommt eine Erkältung und das Unglück nimmt seinen Lauf. Am Ende liegt sein asketischer Leib auf dem Totenbett, die Kerzen brennen und „November Rain“ von Guns N’ Roses läuft vom Band. Auf seinem Grabstein steht „Er hatte immer kalte Füße“.

Anderes Thema: Er hat mal an einem Samstagabend mit drei Pfeilen das Double Bull in der Dorfkneipe getroffen, als es notwendig war (150 Punkte). „Shanghai“ mit 18, 19, 20 und Bullseye. Er lebt in den Liedern und Dorflegenden weiter, wenn er schon längst gestorben sein wird.

Noch ein anderes Thema: In der Schule hätte ich es „Mein schönstes Weihnachtserlebnis“ genannt. Heute wäre der Titel: „Mit dir steht die Zeit still“. Es war Anfang der neunziger Jahre. Ich war mit einer Frau aus dem Bergischen Land zusammen. Damals gab es noch weiße Weihnachten und das Bergische Land war noch extrem bergig. Ich blieb folgerichtig mit meinem VW Golf an Heiligabend auf einer steilen Seitenstraße in dichtem Schneetreiben stecken. Handy und Navi waren noch nicht erfunden oder nicht bezahlbar. Also hielt ich an, stieg aus und klingelte am nächsten Haus. Ein Mann öffnete und ich fragte ihn, ob ich telefonieren dürfte. Er führte mich ins Wohnzimmer, wo seine Frau, seine halbwüchsige Tochter und eine Oma auf dem Sofa saßen. Weihnachtsbaum, Geschenke und ein Teller mit Plätzchen auf dem Tisch. Es gibt keinen falscheren Zeitpunkt, um als Fremder um Hilfe zu bitten. Das Telefon, ich weiß nicht mehr, ob mit Wählscheibe oder Tastatur, stand natürlich im Wohnzimmer. Ich rief meine Freundin an und schlug vor, draußen zu warten. Wegen des Schneetreibens wurde ich gebeten, zu bleiben. So saß ich mit ihnen im Wohnzimmer. Wir schwiegen verlegen. Der Smalltalk war noch nicht erfunden. Die Einnahme von Plätzchen verweigerte ich tapfer, weil ich der Mutter von D., die sicher auch Plätzchen gebacken hatte und die ich noch nie gesehen hatte, nicht gestehen wollte, dass ich bereits bei fremden Frauen Süßes gegessen hätte. Dann klingelte es endlich. Sie stand vor der Tür. Lange blonde Haare, vom Schnee bestäubt, große blaue Augen, die hohen Wangenknochen rot von der Kälte. Die Umarmung war der schönste Weihnachtsmoment. An den Rest, die Feier, die Geschenke und das Essen, kann ich mich bis heute nicht erinnern.   

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