Montag, 19. September 2022

Hochzeitsnachbereitungen auf dem Lande

 

Alle sprechen über die Krise, über Armut und kalte Wohnungen. Aber nicht an diesem Tag. In Deutschland wird noch gefeiert. Eine katholische Hochzeit auf dem Land. Da lässt man es krachen, das macht man nur einmal im Leben. Ich war bisher nur auf sehr nüchternen protestantischen Hochzeiten. Eine Runde Standesamt und danach wird Party gemacht, bis der Arzt kommt. Diese beiden jungen Menschen, die heute in der Dorfkirche vermählt werden, meinen es ernst. Eine Visagistin bereitet die Braut, die Trauzeugin und die Schwiegermütter seit neun Uhr morgens vor. Das Brautkleid hat über zweitausend Euro gekostet. Im Juni wurden die Maße genommen. Seither hat die korpulente Braut fünf Kilo zugenommen. Es muss wenige Tage vor der Hochzeit noch einmal geändert werden.

Um vierzehn Uhr beginnt der Traugottesdienst. Mein Vater führt die Enkelin seiner Frau an den Altar. Ich nehme sicherheitshalber in der zweiten Reihe Platz, weil die Abläufe bei den Katholiken sehr kompliziert sind. Plötzlich müssen alle aufstehen oder man muss irgendein Worterkennungsspiel mit dem Pastor machen und „Amen“ rufen. Es wird überhaupt viel gestanden. Ist ja nicht so meine Welt. Aber auch viel gesungen. Wann habe ich zuletzt mal „Halleluja“ gesungen – und das mehrfach? Das Ehegelübde ist nicht nur ein einfaches „Ja“, es zieht sich über Minuten hin. Besonders schlimm fand ich die Stelle, wo sich die Brautleute verpflichten, ihre Kinder im christlichen Glauben zu erziehen. Hier versteht die Religion keinen Spaß.

Danach gibt es einen Sektempfang vor der Kirche. Es sind über hundert Leute gekommen. Da die Brautleute im örtlichen Karnevalsverein aktiv sind, wartet ein Spalier von Fassenachtern am Ausgang und es gibt ein „dreifach donnerndes Helau, Helau, Helau“. So geht es bei uns zu, Loriot hätte es nicht schöner inszenieren können. Da der Bräutigam auch in der Freiwilligen Feierwehr und beim Malteser Hilfsdienst ist, warten diverse Feuerwehr- und Rettungsfahrzeuge auf der Straße. Mit einem Rettungskran werden die Brautleute in dreißig Meter Höhe befördert. Dann werden die Sirenen eingeschaltet. Im ganzen Dorf gehen die Leute in ihre Gärten und auf die Straße und winken dem Brautpaar zu.   

Anschließend steht die eigentliche Hochzeitsfeier im Kaiserhof in Guldental auf unserem Programm. Zum ersten Mal im Leben bin ich Teil eines Autokorsos, der hupend über die Dörfer fährt. Hier treffen sich siebzig Gäste: die beiden Familien und die engsten Freunde. Die innere Wagenburg des deutschen Bürgertums. Die Jeunesse dorée: schöne Frauen in teuren Kleidern, selbstbewusste Männer in Maßanzügen. Nachwuchsmanager und Abteilungsleiter, Modedesignerinnen und Studentinnen. Dazu die Phalanx der Alten: Unternehmer und Offiziere, Pensionäre und Berufspolitiker. Ich bin der Einzige, der eine Jeans und ein T-Shirt trägt. Selbst Kinder und Teenager tragen Kleider und Anzüge. Ich bin froh, dass ich mein Fünfzig-Euro-Notfall-Jackett von C&A habe.

Ein weiterer Sektempfang, allerdings kommen jetzt die hochwertigen Materialien zum Einsatz. Crémant statt Rotkäppchen, Hors d’œuvre statt Laugenbrezel. Danach ein Vier-Gänge-Menü von Johann Lafer. Unbekannte Genüsse: Stundenei, Cappuccino von Waldpilzen und ein Prachthahn. Gesamtpreis der Feier: 16.000 Euro. Allein die Hochzeitstorte, von einer Tante spendiert, hat fünfhundert Euro gekostet. Ich zucke kurz zusammen. Ein Monat Bürgergeld. Geschmacklich allerdings eher gehobene Mittelklasse. Das Essen zieht sich von 19 bis 23 Uhr, unterbrochen von launigen Dia-Vorträgen aus dem Freundeskreis. Aber es gibt ausgezeichneten Wein, später steige ich auf Gin Tonic um. Nach dem Brauttanz geht es kurz vor Mitternacht wieder nach Hause. Die Jugend hat bis in den Morgen weitergefeiert. Sie hatten im Kaiserhof genügend Zimmer reserviert.

Das frischgebackene Ehepaar bewohnt einen Neubau am Dorfrand mit Swimmingpool und Whirlpool. Der jüngst erworbene Weber-Grill hat 1800 Euro gekostet. Zu den beiden Mittelklassewagen haben sie sich in diesem Sommer noch ein BMW-Cabrio als Drittwagen gegönnt. Der Bräutigam wurde gerade zum Betriebsleiter eines Medizintechnikunternehmens befördert, er ist für einen Etat von 55 Millionen Euro verantwortlich. Die Braut ist angehende Verwaltungsbeamtin. Die Hochzeitsreise führt nicht, wie ursprünglich geplant, auf die Malediven, sondern in ein Haus am Meer, da "das Kind" aka Hund dabei sein soll. Man muss sich um dieses Land keine Sorgen machen. Mag das einfache Volk auch murren, mag auf den unteren Decks dem einen oder anderen das Wasser bis zum Hals stehen – auf dem Oberdeck ist die Welt noch in Ordnung. Und da rede ich noch nicht mal von den 1,6 Millionen Millionären in Deutschland.

P.S.: Einmal ging es beim Tischgespräch doch um das Thema Energie. Alle Anwesenden hatten ihre Heizung bereits eingeschaltet, 23 Grad gelten als Wohlfühlminimum.



  


10 Kommentare:

  1. Genau die motivierende Story für einen Montagmorgen. Ich leg mich wieder hin.😇

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  2. "aka Hund". Das wird ggf. dann der Knackpunkt bei der Hausfinanzierung: 1 Gehalt fällt weg, wenn die Braut schwanger werden sollte.

    Gruß
    Jens

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    1. Das Haus muss nicht finanziert werden. Hier auf dem Land bekommt man die Immobilien von den Eltern geschenkt. Die Trauzeugin hat mit ihrem Freund im vergangenen Jahr eine 400.000€-Eigentumswohnung geschenkt bekommen (Erstbezug).

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  3. Cappuccino von Waldpilzen ? Also, Carpaccio könnte ich mir noch vorstellen....

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    1. Es entpuppte sich als Pilzsuppe mit Sahneklecks. Lafer-Deutsch ... aufgeblasen. Der Mann hat nie einen Michelin-Stern bekommen. Auf dem Tellerrand war eine Quiche, so groß wie ein Zwei-Euro-Stück.

      Das Huhn beim Hauptgang war eine einzige Enttäuschung. Nichtssagend, ungewürzt. Dazu grauenhafte Kräutergnocchi, die ich nach 1 x Probieren liegen gelassen habe. Aber die Vanille Creme Brüllé am Ende war super. Immerhin.

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  4. Das saturierte Mittelbürgertum, das felsenfest überzeugt ist, sich das alles Hacht Erachbeitet(TM) zu haben, ist einfach nicht kaputtzukriegen. Und bei seinen protzig-stillosen Hochzeiten ist es ganz bei sich. Freut mich, dass Gin Tonic ausgeschenkt wurde. Mir wurde mal auf so einer Zigtausendeuro-Feier welcher verweigert, weil im Budget nicht vorgesehen.

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  5. "400.000€-Eigentumswohnung geschenkt bekommen" ...
    OK, verstehe. Laut Berechnung nach Merz also eher Unterschicht.
    Ich schrub im ersten Beitrag ja anscheinend vom Prekariat.

    Gruß
    Jens

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    1. Nein, das ist alles die sogenannte Mittelschicht. 42 Prozent der Deutschen leben in eigenen Wohnungen oder Häusern. In Italien sind es übrigens 75 Prozent.

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  6. Bis vor ein paar Jahrzehnten hatte ein erfolgreicher Unternehmer, 200 bis 500 Beschäftigte, sagen wir Textil, gerade hier im Südwesten, EINEN Daimler, oder Jaguar.
    Ein großes Haus, EINES, natürlich in bester Lage. Urlaub wurde in einem teuren Hotel gemacht.
    Im Semester meines Vaters, technischer Studiengang, 50er, hatte einer, Unternehmersohn, ein Auto.
    Einen VW Käfer. Dann hatte noch einer einen Motorroller, der Rest Fahrrad, wenn überhaupt.
    Heute sammeln erfolgreiche Geschäftsmänner Autos, 911er, Jags, Flügeltürer, egal. Gerne in einer ausgedienten Fabrikhalle in Ziegelbauweise.
    Häuser hat man....Wohnungen sowieso, aber nicht als Arbeiterwohnungen sondern als Renditeobjekt.
    Urlaub im eigenen Ferienhaus, das nur 2 Wochen im Jahr bewohnt wird.
    Yacht, aber nicht am Bodensee, früher gerne genommen um auch Schwarzgeld in die Schweiz zu bringen. Nein, es muß schon auf Barbados oder so sein.
    Ja selbst sog. Mittelstandsfamilien haben kein Problem dem Töchterlein zum 18ten einen schönen Mini hinzustellen.
    Es ist in der Tat mittlerweile pervers. Und das alles auf Kosten der Natur, der Ressourcen und der Menschen. Weil die gehen so langsam auch kaputt.
    Die Arbeitsbelastung ist mittlerweile schon extrem. Sagt einer, der die Industrie noch aus den 80ern kennt.
    Wo das endet ? Armut für viele, noch mehr Kohle für wenige, soweit sicher.
    Aber dann ? Privatarmeen, ganze Stadtviertel oder bald Städte werden komplett aufgekauft, bald Staaten ????????????
    Ich weiß es nicht.

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  7. Wieso eigentlich dem Töchterlein,
    aber der Tochter ?
    Die Deutsche Sprache ist volle Mysterien.

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