Bonetti
ist fassungslos. Eigentlich hat er den Lesern seines Blogs, das er zu
Werbezwecken vor zwölf Jahren begonnen hat, nur eine rhetorische Frage
gestellt: Wer ist der größte Blogger aller Zeiten? Die Antwort ist doch
eigentlich klar, oder? Stattdessen taucht in den Kommentaren immer wieder ein
Name auf: Lobotomie 21.
Bonetti
hat diesen Namen noch nie gehört. Er klickt das Blog an und beginnt zu lesen.
***
Am
Anfang sah Wolters nur die konzentrischen Wellen in seiner Kaffeetasse. Er saß
gerade an seinem Schreibtisch und hatte es sich mit den Sportseiten im Netz
gemütlich gemacht. Montagmorgen. Erst mal sehen, was es Neues gibt.
Dann
spürte er die Erschütterungen auch körperlich. Ein rhythmisches Stampfen, das
immer stärker wurde.
„WOLTERS!“
Er
blickte erschrocken auf. Jemand hatte seinen Namen gebrüllt.
Einen
Augenblick später flog seine Bürotür aus den Angeln und blieb vor dem kleinen
Tisch mit dem Drucker liegen.
„WOLTERS!“
Die
orkanartige Druckwelle ließ seine Haare flattern. Der Chef stand vor ihm. Er
hatte die Größe eines T. Rex und sein makrocephalischer Schädel, der vor Zorn
korallenrot angelaufen war, konnte es in Länge und Breite mit einem Kleinwagen
aufnehmen.
Er
donnerte mit der Faust auf den Tisch, der in zwei Teile zerbrach. Wolters wurde
durch die zweite Druckwelle mit einer solchen Wucht gegen die Wand
geschleudert, dass er fasst zweidimensional wirkte.
„WOLTERS!“
„Ja,
Chef,“ flüsterte er.
„ICH
HABE IHNEN VOR FÜNF MINUTEN EINE MAIL GESCHRIEBEN! WO BLEIBT DIE ANTWORT?“
„Kommt
sofort, Chef.“
Aber
der Chef war längst aus dem Büro gestürmt.
„NEUMANN!“
Wolters
zog das Notebook aus den Trümmern seines Schreibtischs und öffnete das
Postfach. Die Mail enthielt so viele Tippfehler, dass er den Eindruck hatte, sein
Chef hätte aus drei Metern Entfernung mit Walnüssen auf die Tastatur geworfen.
Offenbar hatte er beschlossen, am Nachmittag ein außerplanmäßiges Meeting zu
veranstalten.
***
Was
soll dieser Quatsch, dachte Bonetti. Das ist albern und schlecht geschrieben. Wieso
dieser Hype um Lobotomie 21? Ich werde meine fliegenden Affen losschicken und diesen
drittklassigen Dilettanten ausfindig machen. Wir werden schon sehen, wer hier
der größte Blogger ist.
Mit
der stillen Anmut und der Feierlichkeit einer japanischen Teezeremonie lässt der
erhabene Meister seinen Hattori-Hanzo-Füllfederhalter über das handgeschöpfte
Büttenpapier gleiten.
***
Als Bonetti
von dem Frevel erfuhr, erzitterte das Pantheon. Kurze Zeit später verwandelte er
sich in einen dicken alten Mann in schäbigen Klamotten und klopfte an eine Tür der
Sterblichen. Er war überrascht, als sie von einer jungen Frau geöffnet wurde.
„Ich
bin ein großer Verehrer Ihrer Kunst“, sagte Bonetti und setzte sein
liebenswürdigstes Lächeln auf.
„Schickt
dich der Vermieter oder was ist hier los?“ Ihre Stimme klang nach Roth-Händle.
„Nein,
nein“, stotterte Bonetti, plötzlich nervös geworden. „Ich wollte eigentlich nur
ganz kurz …“
„Alter,
wenn du von den Zeugen Jehovas bist, erlebst du heute deinen ganz persönlichen
Weltuntergang!“
Großer
Gott“, rief Bonetti aus und bereute es sofort. Wie spricht man heutzutage mit
den jungen Leuten? „Ich finde Ihre Texte groovy, ich meine edgy,
far out, over the … äh … over the …”
„Sachma,
Opa, bist du auf Droge?“ Sie kam ihm bedrohlich näher.
„Sie
sind doch Lobotomie 21, oder?“
Die
junge Frau lachte. „Du meinst Cosma Shiva Knesebeck. Meine Mitbewohnerin. Die
ist gerade nicht da. Soll ich ihr was ausrichten?“
„Ja“,
antwortete er. „Sagen Sie ihr, Andy Bonetti war hier und würde gerne mit ihr
über das Schreiben sprechen.“
„Andy
Bonetti? Nie gehört.“
***
Ich
weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich finde, Bonetti hat in letzter Zeit
stark nachgelassen. Viva Lobotomie 21!
Tricky - 'Aftermath'
(Official Video) - YouTube