Freitag, 28. Dezember 2018

Armut mal anders gedacht

Kinder, was war der Kapitalismus noch schön in meiner Kindheit. Nehmen wir nur mal den Versicherungsvertreter. Das war ein lustiger Geselle mit einer ordentlichen Portion Pomade im Haar, einer, der Geschichten erzählen konnte und den jeder mochte. Der Cousin meines Vaters. Wenn er sonntags zu Besuch kam, wurde Kaffee gekocht und Kuchen aufgetischt. Ich mochte ihn sehr, so witzig und beliebt wollte ich auch mal sein, wenn ich erwachsen war. Selbst habe ich ja kaum geredet als Kind, aber ich habe immer gerne zugehört. Er sah aus wie die Leute in den Nachkriegsfilmen. Solche Gesichter gibt es heute gar nicht mehr. Irgendwann nach der zweiten Tasse Kaffee hat er dann mal die Unterlagen aus seiner Aktenmappe geholt. Ob noch alles in Ordnung ist. Er hat uns nie neue Versicherungen aufgeschwatzt. Gelegentlich hat mein Opa umständlich etwas unterschrieben. Ich habe ihn sonst niemals schreiben sehen. War nicht sein Ding. Grubenarbeiter, später Maurer. Damals war dieser Mann für die Versicherungen in einigen Dörfern zuständig, aber es ging noch nicht um Abzocke. Man kannte sich. Hätte er jemand übers Ohr gehauen, hätte er sich nirgendwo mehr blicken lassen können. Heute würde ich keinen Versicherungsfritzen mehr ins Haus lassen. Aber es kommt ja sowieso niemand mehr. Typen wie er sind ausgestorben. Geht alles nur noch übers Netz. Kohle für irgendeinen anonymen Konzernboss in einer Steueroase, Vertrauen Fehlanzeige. Ich kann die Sentimentalität der Menschen heutzutage gut verstehen. Wir sind heute in gewisser Hinsicht reicher und ärmer zugleich.

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